Zwischen Hipness und Islam
Mali ist ein vom Bürgerkrieg zerrissenes Land. Im Norden herrschen Islamisten, im Süden boomt eine afrikanische Popkultur, die Musiker aus der ganzen Welt anzieht. Eine Reportage aus Bamako
In Bankoni, auf einem der grünen Hügel Bamakos, schleicht das Leben vor sich hin. Nichts zu spüren von Bürgerkrieg, Staatsputsch und all den anderen Katastrophen, die Mali seit dem Frühjahr 2011 in den Schlagzeilen halten. Ab und zu weht das nasale Klagen eines Muezzins heran. Ansonsten: Hühnergegacker, Ziegengemecker und das Rattern der mit Wasserkanistern beladenen Eselskarren.
In dem Hofgeviert der Großfamilie Kouyaté herrscht reger Küchenbetrieb: Mehrere Frauen zerlegen eine Ziege, daneben schmoren mehrere Töpfe über einem offenen Feuer. Es riecht nach Holzkohle und frischer Wäsche. Strumpfsockig nimmt Bassekou Kouyaté die Besucher in Empfang, und bittet auf die Kunstleder-Garnitur im abgedunkelten Wohnzimmer. An der Wand: Fotos von Bassekou mit afrikanischen Staatsmännern. Als Nachfahre einer alten Griot-Familie gehörte es zu seinem Job, Loblieder auf die Mächtigen zu singen. Zu beiderseitigem Profit. Der Ngoni-Spieler (die Ngoni ist eine traditionelle malische Laute) findet das nicht weiter der Erwähnung wert. In Mali ist er ein Popstar, im Westen gehören Damon Albarn, Taj Mahal und Ry Cooder zu seinen Fans, jüngst stand er in England gar mit Paul McCartney auf der Bühne.
Kouyaté schenkt Cola ein. Eigentlich ist Ramadan, fasten die Muslime bis Sonnenuntergang. „Wir sind da tolerant“, sagt der Musiker. „Wer hart arbeitet, muss sich nicht streng an die Vorschriften halten.“ Das Improvisieren, die freizügige Auslegung von Regeln und Geboten – das gehört schon immer zu den Stärken malischer Kultur. So hat Kouyaté auch sein neues Album eingespielt: Mitten in den Wirren eines Militärputsches verlegte er das Aufnahmestudio kurzerhand in sein Wohnzimmer. Das war im März. Howard Bilerman von der Indie-Rock-Band Arcade Fire war als Produzent eingeflogen. Der Kanadier Mocky hatte Hilfe bei den Arrangements zugesagt. Kein Problem – wenn ein malischer Musiker ruft, lassen sich westliche Musiker nicht zweimal bitten.
Damon Albarn hatte vor sechs Jahren Kouyaté für Jam-Sessions in dessen Heimatstadt Segou besucht und danach Africa Express – ein Zusammenschluss befreundeter Pop-Musiker, die den Austausch mit afrikanischen Kollegen suchen – gegründet. Seitdem reisen westliche Produzenten wie Chris Eckman von den Walkabouts oder Tucker Martine, Erfolgsproduzent der Rockbands The Decemberists und My Morning Jacket, fast schon als Dauergäste nach Bamako. Die neuen Aufnahmen (Kouyatés Album erscheint Anfang 2013 auf Outhere Records) sollen nun die nächste Stufe westlich-malischer Fusion einleiten, Bamakos Ruf als Wallfahrtsort des westlichen Pop bestätigen. Sofern die Politik dem Pop nicht einen Strich durch die Rechnung macht.
Anfang des Jahres besetzten Islamisten die nördliche Hälfte Malis, danach putschte das frustrierte Militär die demokratische gewählte Regierung weg. Konkurrierende Armee-Einheiten beschossen sich in Bamako. Und Mali – einst eine Art afrikanische Musterdemokratie – drohte eine Zukunft als Malistan. Eigentlich, sagt Bassekou, sei er immer ein unpolitischer Mensch gewesen – doch seit die Islamisten anfingen, alte Sufi-Heiligtümer in Timbuktu zu zerstören, sieht der Musiker die tolerante Lebensart seiner Landsleute, ja die gesamte kulturelle Tradition des Landes in Gefahr. „Die Islamisten“, schimpft Kouyaté, „versuchen, unsere gesamte Kultur auszutauschen, die Musik abzustellen, den Tanz, den Alkohol, das Fernsehen zu verbieten. Wir wollen aber keine importierte Scharia. Warum springt uns der Westen nicht endlich zur Seite? Sie haben schwere Waffen, wir nur unsere Instrumente!“
Wer nichts von der militärischen Niederlage im Norden, gestrichenen Auslandshilfen und leeren Touristenhotels wüsste, könnte Bamako allerdings für ein tropisches Idyll halten. Trauben von Mofas und Handkarren schieben sich durch die Straßen, Männerrunden sitzen im Schatten um eine Teekanne, während viele der Händler vor ihren bunten Verkaufsbuden für Telefonkarten, Sonnenbrillen oder Röstspieße dösen. Überall in Bamako schmücken die Konterfeis von Popstars die Mini-Busse: Sylvester Stallone und Bob Marley, Messi und Tupac, Che Guevara und R. Kelly. Gemalt in der naiven Façon örtlicher Schildermaler und garniert mit malischen Sinnsprüchen. Selbst die US-Flagge neben einem Gaddafi-Porträt wird da kaum als Widerspruch empfunden. Warum sich nicht das Beste aus allen Welten suchen?
In den Clubs an der Rue Koulikoro spielt abends die Live-Musik, als wäre nichts geschehen. Gut, die Touristen fehlen, und der Sänger Issa Bamba blickt in Salif Keitas Freiluft-Club Maquis Diplomate auf leere Stuhlreihen. Doch die einfachen Blechschuppen wie der Club 33 sind gut gefüllt: Ein Dutzend junge Frauen drehen sich zum Trance Blues eines Ngoni-Orchesters, während die Männer sich im Dunkeln auf Holzbänken lümmeln. Die Jüngeren besuchen den Club Obama Balafon: Zwei Rapper jagen da vor dem Konterfei des US-Präsidenten ihre Bambara-Sprechgesänge über das Mikro, während Gruppen männlicher und weiblicher Jugendlicher Shishas rauchen und sich über ihre iPhones beugen. Ein Bild, fast wie aus einer westlichen Großstadt.
In Bamakos Musikszene treffen zwei scheinbar fremde Welten aufeinander. Auf der einen Seite: die von den Griots überlieferte jahrhundertealte Tradition. Songs, die schon der Urgroßvater sang, Instrumentalriffs, die jeder Gitarrist von Bamako bis Timbuktu auf dieselbe Weise spielt. Auf der anderen Seite: die westliche Moderne. Und ein beständiger Strom gastierender Popmusiker aus London, Paris oder New York. Reisten westliche Hipster auf der Suche nach Inspiration einst bevorzugt nach Indien oder Jamaika, dann suchen sie ihre Inspiration inzwischen am Niger. Bei den pentatonischen Melodien und vertrackten Rhythmen der Subsahara.
Und diesmal geht es nicht bloß um den exotischen Thrill. Sondern um einen Austausch auf Augenhöhe. Als Paul Simon vor einem Vierteljahrhundert „Graceland“ veröffentlichte und mit südafrikanischen und anderen Diaspora-Klängen experimentierte, wurde ihm Kolonialismus vorgeworfen: Denn am Ende waren die südafrikanischen Chöre bloße Zutaten, klang Simon immer noch wie ein Liedermacher aus New York. Heute läuft es fast schon umgekehrt: Malische Popstars wie Ali Farka Touré oder Bassekou Kouyaté geben die Lehrer, helfen ihren westlichen Kollegen auf die Sprünge. Zuletzt gingen so prominente US-Bands wie TV On The Radio, Santigold oder Dan Auerbach von den Black Keys mit malischen Musikern ins Studio, kamen die Brasilianer Arnaldo Antunes und Edgard Scandurra für Aufnahmen mit der Kora-Legende Toumani Diabate nach Bamako. Wie hatte Damon Albarn nach seinem ersten Mali-Besuch im Jahre 2006 verkündet? „Die Zukunft der Musik liegt in Afrika. Wir können alles von ihnen lernen, und sie nichts von uns.“ Eine Provokation. Die dennoch ein altes Klischee zurechtrückte. Afrika liefert mehr als nur Rohstoffe. Sondern eine raffinierte Musikphilosophie, in der das Neue mühelos mit dem Ur-Alten fusioniert.
Ein Vorort von Bamako am Westufer des Niger: Es ist Freitagabend im Fastenmonat Ramadan, eine Zeit, in der strenggläubige Muslime die Moschee besuchen und innere Einkehr halten. Und doch dringt laute Tanzmusik aus dem Innenhof eines Open-Air-Restaurants. Ben Zabos Band beim Soundcheck für einen nächtlichen Auftritt: „Wir können hier über alles debattieren“, sagt der junge malische Popstar in der selbst geschneiderten Militäruniform. „Warum sollte ich als Christ im Ramadan kein Konzert veranstalten? Ich muss eben mit den Anwohnern diskutieren.“
Zabo, ein 28-jähriger Gitarrist und Sänger, dessen Songs gerade tagtäglich im malischen Radio zu hören sind und dessen Debütalbum „Ben Zabo“ im Sommer 2012 auf dem deutschen Glitterhouse-Label erschien, hatte den ganzen Freitagvormittag seine Runden gedreht, bei einigen Dutzend Häusern der überwiegend muslimischen Nachbarschaft angeklopft, mit Familienvätern und Ladenbesitzern gesprochen. Am Ende hatte – Ramadan hin oder her – niemand etwas gegen sein Konzert. Nicht einmal der Imam der benachbarten Moschee. Ben Zabos Geschichte erzählt viel über die Kultur Malis. Über ethnische und religiöse Vielfalt, über die jahrhundertealte, tief verwurzelte Toleranz – und eine Offenheit gegenüber dem vermeintlich Fremden. Man hört das auch Ben Zabos Musik an. Er hat die uralten Rhythmen und Balafon-Melodien seines Stammes, der Bo, mit elektrischen Gitarren aufgerüstet. Und ließ sein Album vom US-Folk-Rocker Eckman produzieren. „In Mali leben über 80 verschiedene Ethnien“, sagt Zabo. „Wir sind es gewohnt, auf unsere Nachbarn zu hören.“
Und so finden sich zwischen den Plastiktischen des Freiluftrestaurants Chez Symphorien am ersten Abend des Ramadan Christen und Moslems, Bambara und Bo ein. Der Innenhof ist nur von ein paar Petroleumlampen erhellt. Die Schwüle ist erdrückend. Es riecht nach billigem Parfüm und Urin. Doch sobald Ben Zabos Gitarre den ersten Bluesakkord anschlägt, lassen die Gäste – Herren im Anzug und mit Goldschmuck behangene Damen – ihr Bier stehen. Niemand tanzt paarweise oder allein. Sondern alle in einem großen Kreis. So viel Ben Zabos Musik auch Paten wie James Brown und Fela Kuti verdanken mag: Das hölzerne Geklöppel des Balafons, die bluesig-pentatonischen E-Gitarren und der lose, kreiselnde Groove strahlen eine sehr malische Lässigkeit aus. Der junge Popstar muss am Ende mindestens dreimal seinen Hit „Wari Vo“ spielen. Den Refrain singen alle mit. Es geht um ein altes afrikanisches Thema: Du hast ein Mofa, die Frau will ein Auto … Andere Songs handeln von Korruption und den Champagner-Partys, die die Mächtigen feiern, während Millionen junger Malier keine Arbeit finden. Ben Zabo gehört neben Rappern wie Tata Pound (deren „Mere Zoun“, auf Deutsch etwa „Mutter aller Diebe“ und eine Anspielung auf den früheren Präsidenten, trotz Zensur zum Hit wurde) zu den politischsten Popstars des jungen Bamako. Und er kann erklären, dass die Adaption des Fremden in Mali nicht in der Geringschätzung eigener Traditionen, einem Unterlegenheitskomplex gegenüber westlicher Kultur wurzelt. „Anders als in manchen Nachbarländern benutzen bei uns selbst die HipHopper traditionelle Melodien und Instrumente, rappen auf Bambara oder Senufo statt auf Französisch.“
Das Studio Bogolan: Ein fensterloser Flachbau an einer Lehmstraße nicht weit vom Stadtzentrum. Der Aufnahmeraum ist mit afrikanischen Teppichen ausgehängt, die Mischkonsole bietet modernsten Hightech. Unter anderem Ali Farka Toure, Bassekou Kouyaté, Ben Zabo haben hier ihre Alben aufgenommen, aber auch viele westliche Rockmusiker. So wie Zabos Produzent Chris Eckman. „Es ist gerade dieses Archaische, das für uns Westler aufregend neu klingt“, erzählt der aus Seattle stammende Kopf der Walkabouts. Seine Geschichte ist typisch: Eckman findet in den Melodien und Riffs von Ben Zabo & Co. etwas Ähnliches wie seine US-Musikerkollegen vor einem halben Jahrhundert im Folk- und Bluesrevival: „Irgendwann beschlich mich das Gefühl, alles schon mal gehört, alles schon mal gespielt zu haben. Der Alternative Rock langweilte mich. In Mali aber war ich sofort angefixt. Weil die Musik gleichzeitig exotisch und doch vertraut klang!“
Der malische Pop habe zwar seit den 60er-Jahren E-Gitarren sowie kubanische und afroamerikanische Einflüsse aufgenommen – daneben aber vererbten sich durch die Griots jahrhundertealte Traditionen von Vater an Sohn, von Generation an Generation weiter. „Als ich 2008 auf dem Festival au Desert in Timbuktu die Tuareg-Band Tamikrest hörte, wusste ich: Das ist es.“ Eckmans eigene Band jammte tagelang mit den Maliern, bat sie ins Studio. Die Aufnahmen trafen einen Nerv im Indie-Rock – auch Dan Auerbach und Jeff Tweedy begeisterten sich in der Folge für Tuareg-Bands wie Tinariwen oder Bombino.
Seit dem Militärputsch allerdings ist es ruhig geworden im Studio Bogolan. Eckman glaubt trotzdem an eine Intensivierung des Import-Export-Geschäfts. Viele der malischen Musiker würden nun eher in Paris, Nashville und New York statt in Bamako aufnehmen. Noch ist die letzte Strophe der malischen Tragödie nicht gesungen: Der Westen diskutiert die Entsendung von Militärberatern nach Mali, die desolate malische Armee soll aufgerüstet und amerikanische Drohnen geschickt werden, um den Norden von den Al-Qaida-Verbündeten zurückzuerobern. Natürlich spielen hier Bassekou Kouyatés Appelle zur Rettung der heimischen Kultur weniger eine Rolle als handfeste geostrategische Interessen.
Bis dahin wird improvisiert. Weil die Musiker nicht mehr in Timbuktu auftreten dürfen, haben die Organisatoren das Festival au Desert im Februar 2013 in den Süden nach Segou verlegt und Bands aus dem besetzten Norden, aus Amerika und ganz Afrika dorthin eingeladen. Auch Bassekou will dann in seiner alten Heimatstadt auftreten. Einen positiven Nebeneffekt, so glaubt der Griot, habe die Krise schon jetzt: „Wir Malinesen haben unsere eigene Musik immer für selbstverständlich gehalten. Nun kämpfen wir für sie. Und die Welt hört uns zu.“
Krise in Mali
Mehr als 20 Jahre lang galt Mali weltweit als demokratisches Musterland Afrikas. Es gab zwar auch dort Wahlfälschungen und Korruption – was aber in den Medien offen diskutiert und kritisiert wurde. Vor allem die schamlose Bereicherung der herrschenden Politikerkaste erzeugte Wut und Frustration in der Bevölkerung.
Im März 2012 putschten Militärs gegen den amtierenden Präsidenten Amadou Toumani Touré, genannt ATT. Sie warfen ihm vor, nicht entschieden genug gegen im Norden Malis operierende Drogen- und Terrorgruppen vorzugehen, die vorgaben, für eine „nationale Unabhängigkeit“ des dort lebenden Volksstammes der Tuareg zu kämpfen. Durch das in der Folge des Putsches entstandene Machtvakuum begünstigt, konnte eine Tuareg-Fraktion namens MNLA (Movement national pour la liberation de Azawad) mit Hilfe islamistischer Al-Qaida-Kämpfer den Norden Malis unter ihre Kontrolle bringen und einen eigenen Staat ausrufen. Nur wenige Wochen später wurden die Tuareg wiederum von ihren ehemaligen Bündnispartnern entmachtet, die seitdem im Norden Malis unverheiratete Paare auspeitschen oder steinigen, Dieben Hände und oft auch Füße abhacken und jegliche Unterhaltungsmusik verbieten. Diese aus Afghanistan, Marokko, Algerien und Nigeria unterstützten und teilweise eingeschleusten islamistischen Terrorgruppen (sie werden im wesentlichen vom Emirat Katar, an das die Bundesrepublik gerade 200 Leopardpanzer verkauft, finanziert) erklären dieses mit der „Scharia“ und drohen, auch den Rest Malis zu erobern.
Dort ist das politische Leben seitdem wie gelähmt. Seit Monaten diskutieren eine unter Druck der westafrikanischen Union eingesetzte Übergangsregierung, der Putschistenführer Sanogo, verschiedene Parteien und Interessengruppen darüber, wie der Norden am besten zurückzuerobern sei. Einig sind sich alle, dass es Krieg geben wird – umstritten ist dabei nur die Frage, ob mit oder ohne ausländische Hilfe. Inzwischen festigen die Schariafanatiker ihre Macht und dringen weiter in den Süden vor.
Unfassbar der Gleichmut der malischen Bevölkerung: Unberührt von Putsch und Salafisten, quellen in Bamako die Märkte über, neue Häuser schießen wie Pilze aus dem Boden, Hochzeitsgesellschaften rasen hupend durch die Straßen. Die Menschen sind nur genervt von ihren unfähigen, raffgierigen, nach allen Seiten taktierenden Politikern und hoffen mehrheitlich auf einen von der NATO unterstützten schnellen Krieg gegen die „Banditen, Drogenhändler und Terroristen im Norden“, damit sie wieder in Ruhe ihren Geschäften nachgehen, Tee trinken und die wunderbare malische Musik genießen können.
Es wäre ihnen zu gönnen.
Christof Wackernagel, Autor und Schauspieler, lebt seit zehn Jahren in Bamako, Mali