YEAH! YEAH! YEAH! VOR DEM URKNALL

Je länger sich der Flug hinzog, desto stiller wurde John Lennon. Weshalb Paul McCartney -der laut eigener Aussage vom Erfolg der Beatles überzeugt war, seit die Debüt-Single der Band, „Love Me Do“, im Dezember 1962 in die britischen Charts eingestiegen war – wohl ebenfalls leichte Zweifel beschlichen, auch wenn er das vermutlich abgestritten hätte. Es war Freitag, der 7. Februar 1964. Die Beatles hatten wenige Stunden zuvor England verlassen, um ihre ersten Auftritte in den USA zu spielen und in Ed Sullivans äußerst populärer Sonntagabend-Show ihre Premiere im amerikanischen Fernsehen zu geben. Erst gut ein Jahr nach ihren frühen Erfolgen in Großbritannien war auch das amerikanische Publikum auf die Beatles aufmerksam geworden, aber in den letzten Wochen überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Am 17. Januar, als sie gerade ein dreiwöchiges Gastspiel in Paris gaben, hatten sich Lennon und McCartney nach einer Show mit George Harrison, dem Leadgitarristen der Band, und Ringo Starr, ihrem Schlagzeuger, in ihrer Hotel-Suite versammelt, als ihr Manager Brian Epstein ihnen mitteilte, er habe ein Telegramm von Capitol Records bekommen:“I Want To Hold Your Hand“, ihre erste Single für das Label, wurde in den Cashbox-Charts als Nummer eins gelistet, nachdem sie sich in den drei Tagen seit ihrer Veröffentlichung eine Viertelmillion Mal verkauft hat. „Den Beatles fehlten die Worte wie kleine Kätzchen kauerten sie zu Brians Füßen auf dem Boden“, erinnerte sich Dezo Hoffman, der Hausfotograf der Band. Der ebenfalls anwesende Arrangeur und Produzent Quincy Jones wettete mit Epstein und McCartney, dass die Beatles Amerika im Handstreich nehmen würden. Lennon, Harrison und Starr hielten dagegen. Im September 1963 hatte Harrison seine Schwester Louise in Benton, Illinois besucht. „Da drüben kennt uns niemand“, erzählte er anschließend seinen Bandkumpels über Amerika. „Das wird richtig hart für uns.“

Aber jetzt gerade, während die Beatles sich den Vereinigten Staaten näherten, eroberte ihre US-Debüt-Single „I Want To Hold Your Hand“ auch noch die Spitze der Billboard-Hot-100-Singles-Charts -und es sollte nur noch eine Woche vergehen, bis „Meet The Beatles“, ihre erste Langspielplatte für Capitol Records, am 15. Februar 1964 die Album-Charts anführen würde. Lennon, Harrison, McCartney und Starr verließen während des Fluges immer wieder die Plätze, um mit Freunden und Wegbegleitern wie Epstein oder dem Produzenten Phil Spector zu sprechen. „Es gibt nichts, was es in Amerika nicht auch gibt“, machte McCartney gegenüber Spector seinen Zweifeln Luft, „warum sollten also ausgerechnet wir da drüben Geld machen? Die haben ihre eigenen Bands. Was können wir ihnen denn bieten, was sie nicht schon selbst haben?“ Lennon, der neben seiner Frau Cynthia saß, schwankte -wie eigentlich Zeit seines Lebens – zwischen Unsicherheit und Arroganz.“Während des Fluges dachte ich:,Oh je, dort werden wir es niemals packen‘ aber das ist halt nur die eine Seite von mir“, erzählt er später Jan S. Wenner vom ROLLING STONE. „Wir wussten durchaus, dass wir euch platt machen könnten, wenn wir euch einmal am Haken hatten.“

Als die Maschine auf dem New Yorker John F. Kennedy International Airport landete, der gerade zu Ehren des ermordeten Präsidenten umbenannt worden war, informierte der Pilot die Band, dass sie von einer großen Menge Fans erwartet wurden. Für die Beatles waren Menschenaufläufe nichts Neues. Kreischende Teenies gehörten bei ihren Shows in England schon seit über einem Jahr zum Alltag. Der Londoner „Daily Telegraph“ hatte die bedingungslose Hingabe ihrer Fans sogar mit der bei den Nürnberger Parteitagen der Nazis verglichen. Dennoch reagierten die Fluggäste irritiert auf den unglaublichen Lärm, der ihnen entgegenbrandete, als die Maschine sich dem Gate näherte. „Wir konnten dieses schrille, laute Getöse hören“, sagte Cynthia Lennon später. „Wir dachten, es wären die Turbinen, aber es war das Kreischen der Fans.“ Als die Beatles von Bord gingen, erblickte McCartney den Tumult und fragte: „Für wen sind die denn hier?“ Die Band blieb auf den Stufen der Gangway stehen und musterte ungläubig das Spektakel: 4.000 junge Leute außer Rand und Band drängten sich gegen Fensterscheiben, hingen über die Brüstung von Aussichtsplattformen, scharten sich auf Gebäudedächern, winkten ihnen jubelnd zu, und begrüßten die Band mit großen, selbstgemalten Schildern, während lange Reihen von Polizisten sich abmühten, die wogende Menge im Zaum zu halten. Tom Wolfe, der für die „New York Herald Tribune“ von der Ankunft der Beatles berichtete, schrieb, dass einige der Mädchen versuchten, über die Absperrungen zu klettern.

McCartney, der ein unnachahmliches Talent dafür besaß, seine Mimik mit maximalem Effekt zu kontrollieren, sah aus wie benommen. „Auf einer Schock-Skala von eins bis zehn“, sagte er später über die Szenerie am JFK Airport, „war das eine glatte 100.“

Das folgenschwere Debüt der Beatles in der „Ed Sullivan Show“, zwei Tage später, am 9. Februar 1964, riss die Türen der Sechziger sperrangelweit auf und zog quer durchs Land neue Grenzen zwischen den Epochen und Generationen. Schon Elvis Presley hatte gezeigt, dass ein rebellischer Gestus durchaus die Macht besitzt, Veränderungen anzustoßen; die Beatles würden der amerikanischen Jugend an diesem Abend allerdings noch einen sehr viel stärkeren Ansporn geben. Etwas, das als Konsens, als gemeinsamer Spaß begann, aber schon bald für das Versprechen von Macht und gesellschaftlicher Mitsprache stehen sollte. Der Einfluss der Band erschöpfte sich nicht in flüchtigen Moden und vergänglichem Ruhm: Er bestand vielmehr darin, eine völlig neue Art von Jugendmandat zu beanspruchen.

Allerdings hatte Amerika bis zur allerletzten Minute damit gezögert, die Beatles für sich zu entdecken. Eigentlich hatte das Land Anfang 1964 den Rock’n’Roll schon so gut wie ad acta gelegt. Buddy Holly war tot, Jerry Lee Lewis und Chuck Berry standen auf der schwarzen Liste, Elvis leistete seinen Militärdienst und Alan Freed, der Rock-Pionier unter den Radio-DJs, sendete nicht mehr – all diese Ereignisse haben den frühen Spirit des Rock’n’Roll ausgebremst und seine Zukunft verbaut.

Als der Rock’n’Roll seinen Siegeszug antrat, waren John Lennon und Paul McCartney mitten in der Pubertät. Im Sommer 1957 spielten die Quarry Men, Lennons damalige Band, auf einem Pfarrfest in Liverpool, auf dem auch McCartney rumhing. Der 16-jährige Lennon wurde dem 15-jährigen McCartney vorgestellt, der noch am gleichen Tag Gelegenheit bekam, sein musikalisches Können zu demonstrieren. Er spielte Eddie Cochran und Gene Vincent und beeindruckte mit einer atemberaubenden Little-Richard-Imitation. John und Paul einte ihre Leidenschaft für den Rock’n’Roll, aber ihre Bande waren auch durchaus tragischer Natur: McCartneys Mutter, Mary, starb im Oktober 1956 an Brustkrebs und Lennons Mutter, Julia, im Juli 1958, nachdem sie von einem Auto angefahren worden war. Durch das gemeinsame Musizieren fanden John und Paul einen neuen Platz in dieser Welt. Sie schrieben zusammen Songs, spielten sich gegenseitig Ideen für Melodien und Texte zu, und auch als sie dazu übergingen, jeder für sich zu schreiben, konnte immer noch einer auf den anderen zählen, wenn es darum ging, einen Song zu beenden oder weiterzuentwickeln. „Stell dir zwei Leute beim Tauziehen vor: Sie lächeln einander zu und ziehen trotzdem immer mit aller Kraft weiter“, schilderte ihr Produzent George Martin das Verhältnis der beiden dem Autor Ray Coleman in dessen Buch „John W. Lennon: Eine Biographie“.“Genau diese Spannung zwischen ihnen war das, was sie verband.“

Als Brian Epstein, der nach Höherem strebende Geschäftsführer eines Liverpooler Plattenladens, Manager der Band wurde, trieb er den Beatles ihre punkige Seite aus. Aber er vertraute voll und ganz auf ihr Temperament und ihren künstlerischen Instinkt -ein Vertrauen, das sich rasch auszahlen sollte. Ende 1962 waren die Beatles noch immer eine relativ unbekannte, scheinbar etwas schnöselige Beatband, die – dank Epsteins Hingabe und George Martins feinem Gespür – gerade mit „Love Me Do“ die britischen Top-20 geknackt hatten. Die Nummer war zwar eingängig, aber eher monoton. Als Songwriter mussten Lennon und McCartney ihren Stil erst noch finden. Das geschah allerdings so schnell, dass bereits die nächsten paar Aufnahmen der Beatles einen Impetus entwickelten, der die amerikanische Vorherrschaft über die britischen Pop-Charts für immer beenden sollte.

Zwei dieser Songs -„Please Please Me“ und „She Loves You“ – waren waghalsig genug, um sie als radikal zu bezeichnen, voller wilder, erfinderischer Sprünge. Ihre Inspiration bezogen Lennon und McCartney aus der ganzen Bandbreite der Musik, die sie ihr junges Leben lang gehört hatten, sie bedienten sich bei britischen Music-Hall-Songs, Musical-Balladen, einer Menge Country &Western, derbem R&B, Blues oder Whorehouse Jazz. Die beiden Songwriter, die -wie Lennon später einmal sagte -oft „Auge in Auge“ arbeiteten, scheuten sich nicht, eine beinahe flache Melodielinie anzulegen (die oft aus Lennons Feder stammte) und diese dann zu diesen vor Liebreiz fast schon triefenden Bögen auszubauen, die McCartney im Blut lagen. Ganz besondere Freude hatten sie daran, die Melodien des jeweils anderen -egal ob Dur-oder Moll-Akkorde, himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt -so zu spielen, dass sie statt mitreißend anrührend beziehungsweise umgekehrt und bestenfalls sogar beides nacheinander klangen.

Und dann waren da noch die Beatles selbst. Mit ihren europäisch geschnittenen Mod-Anzügen, dem ungewöhnlich langen Haar – vorn in die Stirn gekämmt, hinten bis auf den Kragen fallend -wirkten sie beinahe wie Brüder, eine eingeschworene Gemeinschaft eleganter Außenseiter. Alles an ihrer Musik und ihrer Attitüde versprach noch nie Dagewesenes: In seinem Buch „Stoned“ erinnert sich Andrew Loog Oldham, Ex-Manager der Rolling Stones, an einen Gig in den Anfangstagen der Beatlemania. „Der Lärm, den sie machten, war der Sound der Zukunft“, schrieb Oldham. „Obwohl ich noch nichts von der Welt gesehen hatte, schrillte mir die ganze Welt daraus entgegen. Ich habe die Welt nicht gesehen -ich hörte und fühlte sie.“

Ende 1963 hatten die Beatles fünf Singles in den britischen Top 20 platziert, drei davon erreichten die Nummer eins. Ihr Debütalbum „Please Please Me“ hielt sich ganze 30 Wochen auf der Spitzenposition der britischen Album-Charts – um schließlich von „With The Beatles“, dem zweiten Album der Band, abgelöst zu werden. Die Band erreichte einige der bislang höchsten TV-Einschaltquoten des Landes, spielte einen exklusiven Auftritt auf Wunsch der königlichen Familie, und war fast jeden Tag auf der Titelseite irgendeiner großen britischen Tageszeitung zu bewundern. Am Ende des Jahres verkündete der Londoner „Evening Standard“:“Wer heute einen Blick auf das Herz der Nation werfen könnte, würde den Namen ,The Beatles‘ eingraviert darauf vorfinden.“

George Martin, ein klassisch ausgebildeter Musiker mit einem Ohr für das Unkonventionelle, leitete auch das Parlophone Label von EMI. Je weiter das Jahr 1963 fortschritt, desto klarer wurde ihm, dass er gerade Teil von etwas völlig Neuartigem war. Er sah keinen Grund dafür, dass sich der überwältigende Erfolg der Beatles nicht auch in den USA wiederholen lassen konnte, also bemühten sich EMI und er wiederholt, den amerikanischen Lizenznehmer Capitol Records zu beknien, die Singles der Band in den USA zu veröffentlichen.

Aber Capitol zeigt keinerlei Interesse. Sie betrachteten die Beatles als britisches Kuriosum, das sich nicht auf den Geschmack der amerikanischen Öffentlichkeit übertragen ließ. Dave Dexter, Kopf der internationalen A &R-Abteilung bei Capitol, lehnte „Love Me Do“ ab, nachdem EMI ihm die Single Ende 1962 zugeschickt hatte. „Zusammengefasst könnte man wohl sagen“, schrieb Capitol-Insider Charles Tillinghast in seinem Buch „How Capitol Got The Beatles“,“dass er die Darbietung des Songs generell als zu amateurhaft und wenig ansprechend empfand…

Offenbar legte er die Nummer in seinem Kopf als ,potenziellen Flop‘ ab – eine Formulierung, die er auch gegenüber so ziemlich jedem Entscheidungsträger der Firma verwendete, der ihn auf den Song ansprach.“ Dexter lehnte weiterhin alle Beatles-Hits ab, die EMI ihm schickte, darunter auch „Please Please Me“ und „She Loves You“. Folgt man der Theorie des Autors Jonathan Gould, dann basierten Dexters Entscheidungen auf etwas, das bei Capitol damals quasi Firmencredo war, nämlich „einer grundsätzlichen Abneigung gegenüber dem Rock’n’Roll“.

Capitols anhaltender Widerstand wurde für Martin und Epstein von Mal zu Mal frustrierender. EMI vergab die Lizenzen für die frühen Singles der Band stattdessen an die Independent-Labels Vee Jay und Swan. Epstein wurde zusehends ratloser und ungeduldiger -insbesondere nachdem er ein Angebot des Konzertveranstalters Sid Bernstein erhalten hatte, der die Beatles in die New Yorker Carnegie Hall buchen wollte. „Ich erkannte ihr wahres Format“, sagte Bernstein später, „und dass sie hier riesengroß werden würden.“

Nur Tage, nachdem die Beatles am 4. November 1963 ihren erfolgreichen Aufritt auf Einladung des Königshauses gefeiert hatten, flog Epstein nach Manhattan, um sich dort mit Ed Sullivan zu treffen, dessen Fernsehshow bereits seit 1948 auf CBS lief. Sullivan war laut eigener, wohl eher zweifelhafter Aussage, am 31. Oktober auf dem Flughafen in London Heathrow dabei gewesen, als die Beatles gerade aus Schweden zurückkehrten und von ekstatischen Fans empfangen wurden. Daraufhin hatte er seinem Produzenten aufgetragen, Erkundigungen über die Band einzuholen. Als Sullivan und Epstein sich trafen, wusste der TV-Impresario demnach vom Mythos um die Band und war entsprechend erstaunt über den Deal, den Epstein mit ihm aushandeln wollte. Epstein zeigte sich bereit, eine deutlich niedrigere Gage zu akzeptieren, als Sullivan sie den bei ihm auftretenden Acts üblicherweise zahlte. Im Gegenzug wollte er eine Vereinbarung abschließen, mit der Sullivan sich verpflichtete, den Beatles im Februar 1964 an drei aufeinanderfolgenden Abenden den prominentesten Slot in seiner Show zur Verfügung zu stellen. In Epsteins Augen überwog der langfristige Effekt einer solchen Medienpräsenz die kurzzeitigen Vorteile einer höheren Bezahlung. Schlussendlich zahlte Sullivan den Beatles 10.000 Dollar für zwei Live-Auftritte und eine Aufzeichnung, die ausgestrahlt wurde, nachdem die Band nach England zurückgekehrt war. Einige Jahre zuvor hatte Elvis Presley für drei Shows 50.000 Dollar von ihm bekommen.

Trotz der Engagements für die „Ed Sullivan Show“ und die Carnegie Hall hatte man bei Capitol noch immer Bedenken. Weshalb die Vorberichterstattung der amerikanischen Presse Capitol vermutlich auch keine allzu großen Bauchschmerzen bereitete. „Newsweek“ und „Time“ betrachteten die Beatles zynischerweise als ärgerliche Modeerscheinung. In ihrem „The New Madness“ betitelten Artikel vom 15. November 1963 schrieb die „Times“:“Sie sehen aus wie zottlige Peter Pans

Was nun genau ihren Reiz ausmacht, ist selbst ihrem Manager ein Rätsel.“ Die CBS-Morgennachrichten sendeten am 22. November einen bissigen Kommentar des Journalisten Alexander Kendrick, der die Band als „die lediglich neuesten Zielobjekte pubertärer Lobhudelei und, kulturell gesehen, die moderne Manifestation triebhafter Stammes-Tänze und -Gesänge“ abkanzelte. „Mit ihrer gnadenlosen Anti-Musik und ihren Anti-Frisuren symbolisieren sie die Anti-Helden des 20. Jahrhunderts“, ätzte Kendrick, „derweil, yeah, yeah, yeah, ebbt der Strom an Fanpost niemals ab. Ebenso wenig wie der Geldsegen.“

Aber weder bei der amerikanischen Presse noch in der amerikanischen Öffentlichkeit gab es damals auch nur einen einzigen Menschen, der kurz darauf noch einen Gedanken an die Beatles verschwendet hätte, denn nur Stunden, nachdem Kendricks Beitrag gesendet worden war, beanspruchte ein fürchterlicher Verlust die Aufmerksamkeit der gesamten Nation: In Dallas hatte ein Attentäter Präsident John F. Kennedy erschossen. Kennedys Präsidentschaft war zwar von Krisen und Triumphen gleichermaßen geprägt gewesen, aber allein die Tatsache, einen so jungen Präsidenten zu haben -mit 43 Jahren den jüngsten, der je gewählt wurde – hatte einen immens elektrisierenden Effekt auf die amerikanische Gesellschaft. Sein Auftreten und seine Ausstrahlung symbolisierten neue Möglichkeiten und inspirierten zahllose junge Amerikaner zu weltoffeneren Idealen und politischer Initiative. „Die Fackel wurde an eine neue Generation von Amerikanern weitergereicht“, hatte Kennedy 1961 in seiner Antrittsrede gesagt. Am selben Tag, an dem mit dem Tod des Mannes, der sie beschworen hatte, auch diese historische Chance abrupt und brutal zunichte gemacht wurde, erschien in England „With The Beatles“, das zweite Album der Beatles -ein dort mit großer Spannung erwartetes Ereignis. Zwei Jahre später sagte Paul Mc-Cartney dem Reporter Larry Kane: „Meiner Meinung nach -und das sehen wohl auch eine Menge anderer Menschen in England so -war er seit schrecklich langer Zeit der beste Präsident, den Amerika hatte. Er veränderte die öffentliche Wahrnehmung seine Landes und es sah ganz danach aus, als würde er Großes bewirken.“

Etwas mehr als eine Woche nach Kennedys Beerdigung begann sich für die Beatles in Amerika das Blatt zum Besseren zu wenden. Laut Jonathan Goulds Buch „Can’t Buy Me Love“, entdeckte Brown Meggs, der leitende Capitol-Mitarbeiter an der Ostküste, zu seiner Überraschung am 1. Dezember einen Artikel im „The New York Times Magazine“, der sich mit den Beatles und ihrer sensationellen Popularität in Großbritannien auseinandersetzte. Ein paar Tage später sorgte ein weiterer Artikel – diesmal im wöchentlichen Showbusiness-Magazin „Variety“ – für noch größere Verblüffung bei Meggs und den Bossen von Capitol.“Variety“ wusste zu berichten, dass „I Want To Hold Your Hand“, die jüngste Single der Beatles, sich als erste britische Single überhaupt noch vor Veröffentlichung über eine Million Mal verkauft hatte. Die Verkäufe der Vorgänger-Single „She Loves You“, die Dexter im Namen von Capitol abgelehnt hatte, überschritten ebenfalls die Millionengrenze und das zweite Album der Band, „With The Beatles“, stand eine Woche nach Erscheinen bei 500.000 verkauften Einheiten. „Was bedeutete“, schrieb Gould, „dass die Beatles auf einem Markt, der nur ein Drittel so groß war wie die USA, im Jahr 1963 so viele Millionenseller veröffentlicht hatten wie die gesamte amerikanische Musikindustrie. Spätestens da dämmerte wohl auch den größten Holzköpfen bei Capitol, dass sie nach den Verkaufsrechten für die USA bloß fragen mussten.“ Capitol bestand nun darauf, „I Want To Hold Your Hand“ Mitte Januar und nur wenige Wochen später das Album „With The Beatles“ mit neuem Titel als „Meet The Beatles!“zu veröffentlichen.

Aber die Neugierde eines Teenagers aus Silver Spring, Maryland warf diese Pläne über den Haufen. Am 10. Dezember sah die 15-jährige Marsha Albert eine Wiederholung jenes Berichts der CBS-Morgennachrichten, der sich über die Beatles und den Tumult, für den sie in England sorgten, lustig machte. Marsha wollte mehr von dieser Musik hören. Also schrieb sie an einen lokalen Radiosender namens WWDC. Carroll James, der dortige Discjockey, bat eine Stewardess einer britischen Fluglinie, ihm bei ihrem nächsten Flug nach Washington, D.C. eine 7inch-Single von „I Want To Hold Your Hand“ mitzubringen.

Kaum hatte er die Single erhalten, lud James die kleine Marsha Albert zu WWDC ein. Am frühen Abend des 17. Dezembers sprach Marsha die folgenden Worte ins Mikrofon des Sendestudios: „Ladies und Gentlemen, zum ersten Mal in Amerika: Hier sind die Beatles mit ,I Want To Hold Your Hand‘.““In der Telefonzentrale glühten die Drähte“, berichtete James später Bob Spitz in dessen Buch „The Beatles: The Biography“.

Die Anrufer -da es sich bei WWDC um einen MOR-Sender handelte, offenbar keineswegs alles Teenager – wollten den Song wieder und wieder hören. James erzählte Spitz, dass er ihn „in der folgenden Stunde erneut auflegte, was ich noch nie zuvor getan hatte“. Danach spielte er „I Want To Hold Your Hand“ die ganze Woche lang jeden Abend. Schnell fand die Single ihren Weg zu anderen amerikanischen Radiosendern, wo die Reaktionen ganz ähnlich ausfielen. Capitol zog die Veröffentlichung auf den 26. Dezember vor und wies die Presswerke an, rund um die Uhr zu arbeiten, um die immense Nachfrage zu stillen. Die Firma instruierte ihre Empfangsdamen, Telefonanrufe mit der Begrüßung „Capitol Records – the Beatles are coming!“ entgegenzunehmen. Die Mitarbeiter im Verkauf sollten den ganzen Januar über während ihrer Arbeitszeit Beatles-Perücken tragen, die Capitol zu Tausenden herstellen ließ. Gould berichtet, dass das Label das folgende Memo an seine regionalen Verkaufsleiter verschickte: „Lassen Sie sich mit unserer Hilfe vom Beatles-Pilzkopffieber anstecken, das schon bald das ganze Land ereilen wird.“

Am 1. Februar erreichte der Song die Nummer eins der Billboard-US-Charts. Wie David Hadju es in seinem Buch „Positively 4th Street“ beschreibt, fuhr Bob Dylan gerade die kalifornische Küste entlang, als ihm „I Want To Hold Your Hand“ zum ersten Mal aus dem Autoradio entgegenschallte. „Hast du das gehört?“, fragte er einen Freund. „Scheiße, Mann, war das großartig!“ Dylan erzählte später seinem Biografen Anthony Scaduto, dass seine Bewunderung sogar noch wuchs, je öfter er das Lied Anfang 1964 im Radio hörte: „Sie trauten sich Dinge, die sonst niemand wagte. Ihre Akkorde waren unerhört, einfach unerhört, und ihre Harmonien setzten dem Ganzen noch die Krone auf. Aber ich habe keinem gesagt, wie sehr ich darauf abfuhr. Alle anderen hielten sie für eine Teenie-Band, so eine Eintagsfliege. Aber für mich war es offenkundig, dass sie das Zeug zum Dauerbrenner hatten. Mir war klar, dass sie die Richtung vorgaben, in die es musikalisch gehen würde.“

Nach diesem langen Winter voller Tod und Entsetzen war da endlich ein Song, der den Amerikanern Liebe, Freude und Trost anbot. Die Aussicht auf eine Freiheit, von der man selbst in einem Land, das immer schon von neuen Wegen zur Freiheit träumte, nie zu träumen gewagt hatte.

Am 3. Januar war Talkshow-Moderator Jack Paar seinem Konkurrenten Ed Sullivan knapp zuvorgekommen. „Ich hatte sie in London gesehen und sie filmen lassen“, erzählte Paar später. „Ich hätte nie gedacht, dass diese Jungs die Musikwelt so verändern würden, wie sie es dann taten. Ich fand sie bloß lustig.“ Das Filmchen, das die Beatles zeigte, wie sie auf einer Londoner Bühne „She Loves You“ spielten, war kurz und grobkörnig, wie ein flüchtiger Augenblick eines unwirklichen Traums, was es nur umso verblüffender machte. Sullivan war außer sich über Paars kleinen Coup. „Zahl sie aus und schaff sie mir vom Hals“, instruierte er einen seiner Produzenten, überlegte es sich dann allerdings schnell wieder anders.

Brian Epstein wusste, wie entscheidend -in Anbetracht der hohen Erwartung und der Unwissenheit, die man den Beatles in den USA entgegenbrachte -die ersten Eindrücke sein würden, die sie nach ihrer Ankunft dort hinterließen. Epstein wurde gelegentlich -selbst von den Beatles -als Naivling betrachtet, der sie schutzlos in offene Messer laufen ließ, bevor er im Sommer 1967 an einer Drogenüberdosis starb. Und tatsächlich war er in mancherlei Hinsicht ein gequälter Mann -Lennon machte sich gerne über Epsteins sexuelle Verunsicherung und seine Religion lustig, einmal schlug er ihm sogar vor, seine Autobiografie „Queer Jew“ zu nennen. Aber die Band war sich sehr wohl im Klaren darüber, dass Epstein eine Menge richtig gemacht hatte: Er hatte sie mit George Martin und EMI zusammengeführt, hatte unermüdlich um Capitols Fürsprache gerungen und er hatte einen einfallsreichen und äußerst wirkungsvollen Deal mit Ed Sullivan eingefädelt.

Jetzt, nachdem die Beatles von Bord des Flugzeuges gegangen waren, willigte Epstein ein, ihre erste Pressekonferenz auf amerikanischem Boden im Terminal der Fluggesellschaft Pan Am zu geben. Manche der anwesenden Reporter kamen fraglos mit der Einstellung, bei der Band handele es sich um ein oberflächliches Phänomen, das es grundsätzlich infrage zu stellen und vielleicht sogar durch den Wolf zu drehen galt. Aber die Beatles sprachen gerne vor Menschen, wobei ihnen zugute kam, dass sie ein auch rhetorisch aufeinander eingespieltes und vor allem überaus schlagfertiges Team waren. Mick Jagger hat sie, als ihm auffiel, wie einschüchternd die Beatles sein konnten, einmal als ein „vierköpfiges Monster“ bezeichnet. Bei ihrer ersten Begegnung mit den Beatles stellten einige der Reporter Fragen, die der Band mehr oder weniger unterschwellig unterstellten, dass ihrem Ruhm etwas Übertriebenes oder gar Betrügerisches anhaften würde. „Sind Sie ein wenig überrascht von dem Wahnsinn, den sie entfesseln?“, lautete die erste Frage.

„Wir mögen Wahnsinnige“, erwiderte Lennon.

„Wahnsinn gefällt Ihnen?“ John: „Er ist gesund.“ Kurz darauf folgte die nächste Stichelei:“Es gibt einige Zweifel, dass Sie überhaupt singen können.“

Lennon inspizierte betont beiläufig die Manschetten seines Hemdes und sagte dann:“Nur wenn wir vorher bezahlt werden.“

Ein weiterer Reporter:“Wie viele von Ihnen sind so kahl, dass sie diese Perücken tragen müssen?¶

Ringo:“Wir alle.“ Paul: „Ich. Ich bin kahl.“ „Sie sind kahl?“ John: „Oh ja, wir sind alle kahl.“ Paul: „Aber erzählen Sie das bitte nicht weiter.“

„Beherrschen Sie amerikanischen Slang? Gibt es Sie wirklich?!“

John:“Kommen Sie doch her, und fassen Sie uns an.“

Beatles-Fotograf John Dezo schrieb von „zweihundert abgekochten Reportern, die gekommen waren, sie fertig zu machen, ihnen aber letztendlich zu Füßen lagen“. Doch große Teile der Presse ließen sich keineswegs so leicht bekehren. So sagte zum Beispiel der bekannte NBC-Nachrichtensprecher Chet Huntley in seiner Sendung: „Wie es sich für einen braven kleinen Nachrichtensender gehört, haben wir drei Kameraleute zum Kennedy Airport geschickt, um von der Ankunft einer Gruppe aus England zu berichten, die sich The Beatles nennt. Nach eingehender Prüfung des Films, den unsere Leute mit zurückbrachten, scheint mir allerdings keinerlei Bedarf zu bestehen, hier irgendetwas daraus zu zeigen.“

Erst als sie den Flughafen verlassen hatten, ließen die Beatles etwas vom Wunder dieser Ereignisse an sich heran. In „The Beatles: The First U. S. Visit“, dem Fernsehfilm der Maysles Brothers, sieht man McCartney, Starr und Lennon auf dem Weg zur ihrem Hotel in Manhattan auf der Rückbank einer Limousine sitzen, wobei McCartney sich ein Transistorradio ans Ohr hält und einem Bericht über ihre Ankunft in Amerika lauscht. Die berittenen Polizisten neben dem Auto wirken, als würden sie die Beatles von einer Epoche und Kultur in eine andere eskortieren.“Wir dachten: ,Wow, wir haben’s wirklich geschafft'“, erinnerte sich McCartney. „Ich weiß noch dieser großartige Moment, als wir in die Limo stiegen, das Radio anmachten und die Reportage über uns hörten:,Sie haben den Flughafen verlassen und nähern sich jetzt New York City ‚ Es war wie ein Traum. Der größte Traum aller Zeiten.“

Zwei Abende später, am 9. Februar 1964, traten die Beatles zum ersten Mal in der „Ed Sullivan Show“ auf. Sullivan stellte sie gleich in den ersten Minuten der Sendung den Fernsehzuschauern vor: „Heute Abend wartet das ganze Land darauf, die Beatles aus England zu hören.“ Eine Kamera erfasste erst das euphorische Publikum – die Show hatte 50.000 Ticketanfragen für einen Saal mit 728 Plätzen erhalten -und schwenkte dann zur Band. McCartney zählte „All My Loving“ an und die Kamera zoomte an ihn heran: Seine Ausstrahlung war überwältigend, er sang, als spräche er jeden einzelnen Zuschauer persönlich an -„Close your eyes and I’ll kiss you“ – sein Kopf wippte vor und zurück, während Harrison seine messerscharfen, minimalistischen Gitarren-Fills spielte.

Über die meisten der fünf Songs dieses Abends -„All My Loving“, Meredith Willsons „Till There Was You“ (aus dem Broadway-Musical „The Music Man“) und „She Loves You“ im ersten Set, sowie „I Saw Her Standing There“ und „I Want To Hold Your Hand“ im zweiten -war es Pauls Show. Mit jeder seiner Posen und jedem seiner Blicke flirtete er mit der Kamera. Und da Lennons Mikrofon kaum zu hören war, wirkte es für die Fernsehzuschauer vermutlich, als wäre McCartney der einzige Lead-Sänger der Band, selbst bei den Gesangspassagen, die er sich mit John teilte. Weshalb Paul für die Kamera auftrat -sein Zwinkern und sein Lächeln galten jederzeit dem Objektiv -während John und George für den Saal performten. Der letzte Song des Abends, „I Want To Hold Your Hand“, war eine Performance par excellence, die niemanden unberührt ließ – das Manifest eines Bekenntnisses zu einer neuen Zuversicht und Offenheit. Wenn man den Song zum ersten Mal hört, ist es unmöglich, vorauszusehen, wohin die Melodielinie, der Aufbau der Harmonien, der ungeschminkte Gesang und der treibende Rhythmus schließlich führen: von der volkstümlichen Eröffnung zum Blues-Turnaround, über einen meditativen Zwischenteil, der in einem empörten, himmelschreienden, dreistimmigen „I can’t hide! I can’t hide! I can’t hide!“ gipfelt, während Ringo stur den Beat hält, bis dann wieder alles detoniert.

Der „Sullivan“-Auftritt lockte 73 Millionen Zuschauer vor die Bildschirme -das größte, bis dahin je erreichte TV-Publikum. Die Beatles hatten praktisch über Nacht deutlich gemacht, dass sich gerade nicht nur eine musikalische Wende, sondern eine Zeitenwende vollzog – die auch an uns selbst nicht spurlos vorbeigehen würde. Allerdings konnten manche Kritiker offenbar wieder nicht umhin, darin den Untergang des Abendlandes zu erkennen. So titelte die „New Yorker Herald Tribune“:“TV-Auftritt der Beatles eine Katastrophe“ Und „Newsweek“ schrieb: „Ihr Aussehen ist ein Albtraum: enge, dandyeske, edwardianische Beatnik-Anzüge und Frisuren wie große Puddingschüsseln. Ihre Musik grenzt an ein Desaster: Gitarren und Schlagzeug prügeln einen gnadenlosen Beat herunter, der jegliche subtilere Rhythmik, Harmonie und Melodie neutralisiert. Ihre Texte (unterbrochen von hirnrissigem ,Yeah, yeah, yeah!‘-Gebrüll) sind ein einziges Ärgernis, ein groteskes Potpourri sentimentaler Valentinstags-Karten-Romantik.“

Dienstag, den 11. Februar gastierten die Beatles vor 8.000 Zuschauern im Washington Coliseum in der amerikanischen Hauptstadt. Trotz erschwerter Bedingungen – die Band spielte auf einer boxringartigen Bühne in der Mitte der Arena und musste den Auftritt immer wieder unterbrechen, wenn sie die Mikrofone und das Equipment von einer Seite der Bühne zur nächsten räumten, um von allen Zuschauern gesehen und gehört zu werden -war die Show bemerkenswert. Sie spielten mit einer Urgewalt und einer Risikofreude, die im biederen Umfeld von Sullivans Show niemals funktioniert hätte. Insbesondere Ringo Starr trommelte mit einer Präzision und Selbstvergessenheit, die keinerlei Zweifel an seiner zentralen Position im musikalischen und menschlichen Gefüge der Beatles zuließen. Bei vielen Live-Shows dieses Jahres nahmen die Cymbals eine herausragende Rolle in Starrs Schlagzeugspiel ein: Ihr Sound durchschnitt das Kreischen des Publikums und erleichterte es den anderen Bandmitgliedern, sich in der Musik zu orientieren.

Nach dem Konzert besuchten die Beatles einen Wohltätigkeitsball in der britischen Botschaft. Vor der vornehmen Gesellschaft und den Mächtigen aus Politik und Wirtschaft zu katzbuckeln, war für sie alles andere als ein Vergnügen und es verunsicherte sie gewaltig, wie sie dort begafft und betatscht wurden -„wie Tiere im Zoo“, formulierte es Starr einmal. Irgendwann näherte sich jemand dem Drummer von hinten und schnitt ihm eine Haarsträhne ab. Starr wirbelte herum und stellte den Übeltäter. „Was zur Hölle tun Sie da?“, giftete er ihn an. Aufgebracht schimpfend stand Lennon ihm bei und verschwand mit den anderen umgehend von der Party. Die Band mahnte Epstein, sie bloß niemals wieder in so eine Situation zu bringen. Noch Jahre danach brachte Lennon die bloße Erinnerung an derartige Momente auf die Palme. „Diese ganzen Pflichttermine waren furchtbar, es war eine einzige Demütigung“, erzählte er dem ROLLING STONE 1971. „Um das zu sein, was die Beatles waren, musste man sich völlig zum Affen machen, und das ist mir zutiefst zuwider.“ Auch die beiden Shows der Band in der Carnegie Hall wirkten auf Lennon eher desillusionierend. Selbst in einer Halle dieser Klasse, befand er, konnte das Publikum die Beatles wegen des andauernden Gejohles der Fans nicht richtig hören. Ein Problem, das sich bereits seit geraumer Zeit abzeichnete. „Die Musik war schon tot, bevor wir in England auf Theater-Tour gingen“, sagte er 1971 im selben Interview. „Deshalb haben wir uns als Musiker nie weiterentwickelt. Wir haben uns damals für den Erfolg selbst geopfert. Und das war das Ende.“

Am nächsten Tag besuchten die Beatles Miami Beach -wo sie erneut 5.000 Fans am Flughafen empfingen -, um im Deauville Hotel ihren letzten Live-Auftritt für Sullivan aufzuzeichnen. Das Publikum war etwas gesetzter, aber dafür war der Sound umso besser. Lennon stand diesmal deutlich mehr im Mittelpunkt. Zum einen, weil er sich eindeutig als Frontmann zu erkennen gab und zum anderen aufgrund seines überragenden, druckvollen Gesangs. (McCartney hatte häufig den größeren Stimmumfang, aber bei den Live-Shows der Band konnte Lennon die Töne besser halten.) Allerdings war etwas völlig anderes, das die Beatles während ihres Aufenthaltes in der Stadt taten, in einiger Hinsicht wichtiger als dieser Auftritt. Der Schwergewichts-Boxchampion Sonny Liston und sein Herausforderer Cassius Clay hielten sich damals ebenfalls in Miami Beach auf, wo sie sich auf ihren Boxkampf in der Convention Hall vorbereiteten. Liston -ein Mann von einschüchternder, scheinbar unbezwingbarer Statur -galt als klarer Favorit, während Clay, der sich vor allem mit seinem losen Mundwerk und respektlosen Bemerkungen über seinen Gegner hervortat, bereits als Verlierer eines schnellen und gnadenlosen Kampfs ausgemacht war. Der Fotograf Harry Benson arrangierte für die Beatles ein Treffen mit Clay in dessen Trainingsstudio – ein ungleiches Gipfeltreffen, abgesehen davon, dass sowohl die Beatles wie auch Clay in ihrem jeweiligen Metier gerade als Hoffnungsträger und Ausnahmeerscheinungen gerühmt wurden. Dem Sportreporter Robert Lipsyte zufolge hatte Liston das Angebot ausgeschlagen, sich mit der britischen Band fotografieren zu lassen. „Ich posiere nicht mit diesen Luschen“, lautete seine Begründung.

Clay war bei dem Treffen spät dran und die Beatles deshalb bereits genervt . „Urplötzlich“, schrieb Lipsyte, „schwang die Tür auf und da stand die mit Abstand schönste Kreatur, die je einer von uns erblickt hatte. Muhammad Ali. Cassius Clay. Er leuchtete er war perfekt

Und dann – wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, es war choreografiert -machte er kehrt und die Beatles folgten ihm hinaus in den Ring, wo sie begannen, mit ihm herumzualbern. Sie stellten sich in einer Reihe auf. Er stupste Ringo an. Sie fielen um wie die Dominosteine. Es war eine unglaublich witzige Szene.“ Ausgelassen brachten Clay und die Beatles die Freude über ihren respektlosen Aufstieg zum Ausdruck. Benson gelang es mit seinem Foto, den frühen Moment einer neuen geschichtlichen Epoche und ihrer aufstrebenden Helden festzuhalten.

Kaum nach England zurückgekehrt, begannen die Beatles mit den Dreharbeiten für ihren ersten großen Kinofilm „A Hard Day ’s Night“, der in den USA am 15. August in 500 Kinos anlief. Viele Kritiker zeigten sich erstaunt darüber, wie gut der Film war. „Newsweek“, wo man die Beatles bisher eher verächtlich betrachtet hatte, schrieb nun:“Ob der geballten Böswilligkeit in dieser Welt sitzt man mit weit offenen Augen und Ohren da -und erlebt staunend, wie sich das, was man zu wissen glaubt, in einer Pfütze aus Zustimmung und Teilhabe auflöst.“ Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Historiker und Gesellschaftskritiker Arthur Schlesinger Jr., der persönlicher Berater von Präsident Kennedy gewesen war, charakterisierte „A Hard Day ’s Night“ als eine „Verschwörung der Pflichtvergessenheit gegen die Wichtigtuerei“. Die britische Version des Soundtracks – des ersten und einzigen Beatles-Albums, das sich ausschließlich aus Lennon-Mc-Cartney-Songs zusammensetzte überraschte mit einer völlig neuen künstlerischen Bandbreite. Der Titelsong stammt von Lennon (der das Album dominiert) und bricht mit einem so ungewöhnlichen wie überraschend heftigen Akkordgitarrengewitter los, um auch in der Folge nichts von seiner unnachgiebigen Dringlichkeit zu verlieren. Die Band hatte damit begonnen, ihr Repertoire um weniger rosige Themen wie Verlangen, Einsamkeit und bittere Reue zu erweitern.

Dass die Band in „A Hard Day ’s Night“ ausgerechnet die Erschöpfung zum Thema machte, hatte fraglos seinen Grund: Als die Beatles im Sommer 1964, bevor sie in die USA zurückkehrten, durch ganze sieben Länder tourten, haben sie dabei ihren wachsenden Ruhm voll und ganz ausgekostet -wobei sie sämtliche Vor-und Nachteile zu spüren bekamen. Am 3. Juni, kurz vor Beginn der Tour, wurde Ringo Starr von einer Angina ans Bett gefesselt und der Schlagzeuger Jimmy Nicol spielte die ersten zehn Termine -von Kopenhagen in Dänemark bis Melbourne in Australien. Nicol erhielt einen einzigartigen Einblick: Er bekam die verborgene Seite der Beatles zu sehen. „Paul“, berichtete er später, „ist keineswegs der Saubermann, den die Welt gern in ihm sehen möchte. Seine Leidenschaft für Blondinen und seine Abneigung gegenüber den Fan-Massen wurde geflissentlich unter den Teppich gekehrt. John wiederum war gerne unter Menschen, aber benutzte seinen Humor als Waffe, um sich diejenigen vom Leib zu halten, die ihn nicht interessierten. Außerdem trank er exzessiv. In Dänemark platzte ihm fast der Schädel. Er hatte am Abend zuvor so viel gesoffen, dass er auf der Bühne schwitzte wie ein Schwein. George war überhaupt nicht so schüchtern, wie ihn die Presse gerne darstellte. Er stand auf Sex, genau wie darauf, mit uns anderen die Nacht durchzufeiern Ich dachte immer, was das Saufen und Frauenflachlegen betrifft, könnte ich es mit jedem aufnehmen -bis ich diesen Kerlen begegnete.“

Lennon, als derjenige der Beatles, der noch am wenigsten ein Blatt vor den Mund nahm, bestätigte Nicols Eindruck:“Bei den Touren der Beatles ging es zu wie in Fellinis Film ,Satyricon'“, berichtete er 1971 dem ROLLING STONE. „Wenn keine Groupies zur Hand waren, dann besorgten wir uns halt Nutten und alles, was eben gerade ging.“ Er erzählte auch: „Wenn wir um die Häuser gezogen sind, dann aber richtig. Da haben wir uns nicht zurückgehalten. Es gibt Fotos von mir in Amsterdam, wie ich auf allen Vieren aus einem Puff krieche. Zu solchen Eskapaden hat mich meistens die Polizei eskortiert – um größere Skandale zu vermeiden.“ Die Beatles waren die erste Band, die den Rock’n’Roll-Exzess im ganz großen Stil auslebten.

Noch im Februar, vor ihrer Abreise aus USA, hatte Harrison gesagt:“Die werden uns nie wieder sehen.“ Trotzdem kehrten die Beatles im August für eine 32 Auftritte umfassende Tour durch 24 Städte nach Nordamerika zurück. Mit „Ticket To Ride: Inside The Beatles‘ 1964 Tour That Changed The World“ veröffentlichte der Radioreporter Larry Kane einen atemberaubenden Bericht darüber. In Kanes Buch geht es ordentlich zur Sache, ständig droht Gewalt oder tödliches Chaos: Auf die Beatles wartende Menschenmassen geraten außer Kontrolle, ein Fan wird durch eine Glasscheibe gedrängt. In Quebec wird die Band von anti-britischen Aktivisten bedroht. „Eine Gruppe separatistischer Extremisten“, berichtet Kane, „hat sich offenbar über Ringo Starr aufgeregt, den sie den ,englischen Juden‘ nannten Ringo erklärte daraufhin kichernd einem Zeitungsreporter: ,Ich bin zwar kein Jude. Aber immerhin Brite ‚“ Kane fragte Lennon, wie sich die Eröffnungsshow im Cow Palace in San Francisco anfühlte. „Unsicher“, antwortete der. „Wer um sein Leben fürchtet, kann nicht singen.“

Auch frühere Popmusik-Idole wie Frank Sinatra und Elvis Presley hatten extreme Reaktionen provoziert, aber der Aufruhr um die Beatles war deutlich leidenschaftlicher. „Für die Mädchen der Beatlemania“, schrieben die feministischen Vordenkerinnen Barbara Ehrenreich, Elizabeth Hess und Gloria Jacobs 1992, „machte Sex eindeutig einen Teil des Reizes aus Es war rebellisch (besonders für die ganz jungen Fans), sexuelle Gefühle für sich zu beanspruchen. Sogar noch rebellischer war es, die aktive, verlangende Rolle einer erotischen Beziehung für sich zu beanspruchen: die Beatles waren Objekte; die Mädchen ihre Verfolger

…Zu Zehntausenden eine mächtige, aktive Sexualität geltend zu machen und das auf eine Art zu tun, deren Ziel es ist, maximale Aufmerksamkeit zu erregen, war mehr als rebellisch. Es war -auf eine ureigene, unformulierte, schwindelerregende Art – revolutionär.“

Am Abend ihrer Show im New Yorker Forrest Hills Tennis Stadium trafen die Beatles auf Bob Dylan. „Ich war noch nie zuvor so aufgeregt, einen anderen Musiker zu treffen“, sagte Lennon später. Die Beatles waren von Dylan fasziniert, seit sie im Januar während ihres Aufenthaltes in Paris zum ersten Mal sein Album „The Freewheelin‘ Bob Dylan“ gehört hatten. Die Künstler trafen sich in der Suite der Beatles im Hotel Delmonico in Manhattan. Anfangs fremdelten sie noch etwas miteinander. Epstein fragte Dylan, ob er etwas trinken wollte: Dylan bat um billigen Wein und Epstein schickte einen Assistenten auf die Straße zu einem Schnapsladen. Dylan fragte sich, ob die Beatles wohl Marihuana rauchten und war überrascht, zu erfahren, dass sie bislang wenig bis gar keine Berührung mit der Droge hatten. Aber warum, fragte er, sängen sie denn dann in „I Want To Hold Your Hand“ bloß „I get high! I geht high!“? Lennon erklärte betreten, dass sie eigentlich „I can’t hide! I can’t hide!“ sängen. Dylan hatte Marihuana dabei und bot es ihnen an. Die Band stopfte nasse Handtücher unter die Zimmertüren, um den beißenden Geruch des Rauchs zu verbergen. Lennon überredete Starr, den ersten Joint zu probieren. Seine Bandkumpels löcherten Ringo mit Fragen, wollten von ihm wissen, was er dabei dachte und empfand. „Dass mir die Zimmerdecke entgegenkommt“, antwortete der Schlagzeuger. Danach griffen der Rest der Band und Brian Epstein selbst zum Joint. Nicht lange, dann verkündete McCartney, dass sein Denken eine ganz andere Qualität habe als je zuvor. Mal Evans, dem Tourmanager der Beatles, erzählte er, dass er den Sinn des Lebens gefunden hätte. Dann instruierte er ihn, alles mitzuschreiben, was er, Paul McCartney, an diesem Abend sagen würde. Der Sinn des Lebens, bestand, wie sich herausstellen sollte, aus „sieben Ebenen“.“Bis dahin“, erinnerte sich McCartney später, „waren wir heftige Whisky-Cola-Konsumenten.“ Marihuana sollte sich entscheidend darauf auswirken, wie die Beatles zukünftig Sounds wahrnahmen, sie produzierten und wie sie ihre Ideen ausdrückten, was spätestens 1965 mit dem Album „Rubber Soul“ offenkundig wurde.“Wir glaubten an Cannabis als Lebensentwurf“, erinnerte sich Derek Taylor, der Presse-Agent der Band. McCartney sagte später:“Wir waren schon irgendwie stolz darauf, dass es Dylan war, der uns an Dope herangeführt hatte.“

Dylan beeinflusste die Beatles auch noch, indem er ihnen dabei half, sich zu politisieren, sowie ihr thematisches und lyrisches Spektrum zu erweitern. Als mit „Beatles For Sale“ ihr letztes Album des Jahres 1964 erschien, begann die Gruppe bereits, ihre Naivität und ihre Fassade überschäumenden Temperaments allmählich abzulegen.

All das geschah innerhalb eines Zeitraums von acht Monaten nach dem ersten Auftritt der Beatles in der „Ed Sullivan Show“. Ende des Jahres 1964 hatte die Band 28 Platten in den Billboard-Hot-100-Single-Charts platziert, elf davon in den Top Ten. Außerdem hatten sie weltweit zehn Alben veröffentlicht, fünf davon auf Capitol Records.

Sie hatten in kürzester Zeit ein unvergleichliches Epos geschaffen, auch wenn gegen Jahresende erste Spannungen aufkamen. Nachdem sie Ende September nach London zurückgekehrt waren, sagte Harrison: „Ich hab das Touren ein wenig über. Weniger in England, als etwa speziell in Amerika. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir nicht noch einmal ganze fünf Wochen in den Staaten touren werden. Es ist so erschöpfend und nicht wirklich befriedigend.“ Das unerbittliche Tempo der Touren und Aufnahmen legte innerhalb der Band die Nerven blank. In „The Beatles: Off The Record“ berichtet John Badman von einem Vorfall, dessen Zeuge der britische Journalist Ray Coleman Mitte Oktober hinter der Bühne im schottischen Edinburgh wurde, als McCartney das Genörgel seines Partners über das mangelnde Privatleben der Beatles offenbar zu viel wurde:

Paul (der vom Fernseher in der Umkleide zu John hinüberblickt): „He, ich hab allmählich genug von deinem Gemecker, John.“

John (der sofort zurückschießt): „Du sagst, was du sagen willst und ich sage, was ich sagen will, klar?“

Paul: „Du versaust mir meinen Ruf!“

John: „Du bist doch total verweichlicht! Halt die Klappe, schau in die Glotze und sei ein braver Junge!“

Aber die Verbundenheit zwischen sämtlichen Mitgliedern der Beatles blieb weiterhin stark; über Jahre hinweg vermochte nichts und niemand die Bande ihrer Freundschaft zu lockern.

George Martin schrieb später einmal: „Niemand sonst hatte das durchgemacht, was sie durchzustehen hatten. Niemand sonst verstand das. Die Gegenwart der anderen schien ungeheuer inspirierend für sie zu sein. Das, was sie füreinander empfanden, diese Liebe zwischen ihnen, sie gab ihnen Kraft Obwohl die Welt sie mit offenen Armen angenommen hatte, konnte sie auch – auf vielerlei Weise -ihr Feind sein.“

Dennoch waren die Beatles 1964 weit davon entfernt, aufzugeben. Die Frage, die ihnen in Interviews am häufigsten gestellt wurde, war vermutlich: Wie lange kann das noch so weitergehen? Reporter neigten in der Regel dazu, den Ruhm der Beatles als flüchtige Erscheinung zu betrachten, ein Wolkenkuckucksheim, mit dem es jeden Moment wieder vorbei sein könnte.

Die Beatles ließen sich durch derartige Fragen nicht in die Defensive drängen. Gewöhnlich antworteten sie darauf, dass es natürlich irgendwann ein Ende finden würde, oder sogar explizit, wann es ihrer Meinung nach eines finden müsste – sie spekulierten keineswegs darauf, dass es ewig so weiter gehen würde. Als Lennon -noch während der Beatlemania -mit dem Autor Michael Braun darüber diskutierte, war er sich schon damals erkennbar im Klaren darüber, wie bemerkenswert die Geschichte der Beatles war; er wusste, was auf dem Spiel stand.

„Wir sprechen hier nicht von Showgeschäft, sondern von etwas grundlegend anderem“, sagte er. „Es sprengt jegliche Vorstellungskraft. Danach macht man nicht einfach weiter. Man macht es -und dann beendet man es.“

BRINGING IT ALL BACK HOME

Warum die Beatles im Februar 1964 nicht nur die Neue Welt eroberten, sondern auch das Pop-Zeitalter starteten

Der Rock’n’Roll entstand in der brodelnden Hitze des amerikanischen Südens und starb in einer eisigen Nacht im Mittleren Westen, als Buddy Holly und Richie Valens am 3. Februar 1959 bei einem Flugzeugabsturz nahe Mason City, Iowa ums Leben kamen. Dann war’s das erst mal mit dem Aufbegehren, und es herrschte wieder Ruhe und Ordnung in den Charts, selbst der King hatte sich vom Militär disziplinieren lassen. Und vermutlich würde man im Rock’n’Roll heute nur noch eine äußerst kurze hormonelle Schwankung im noch jungen Leben der Kulturindustrie sehen, wenn er nicht auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans wie ein Untoter durch Liverpooler Kellergewölbe und dunkle Kaschemmen an der Hamburger Reeperbahn gegeistert wäre. Wenn ihn nicht die Skiffle-Bands mit ihren Do-It-Yourself-Ethos umgeformt und energetisch aufgeladen hätten. Alles Wesentliche, was folgte in der populären Musik -die lebensweltlich zentrale Stellung, die modischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Beschleunigungen, die wir seitdem kurz „Pop“ nennen -, ist Folge dieser Übersetzung und ihres Re-Imports ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der Traumfabriken und des Starsystems.

Im Februar 1964 brachten die Beatles den Rock’n’Roll höchstpersönlich zurück in sein Mutterland -mit britischem Akzent, nordenglischem Mutterwitz und dem Geschäftssinn und ästhetischen Empfinden eines homosexuellen jüdischen Plattenladenbesitzers namens Brian Epstein. Colonel Tom Parkers Verständnis von Merchandise hatte sich noch darauf beschränkt, während der Konzerte seines Klienten im Publikum lautstark signierte Elvis-Presley-Fotos anzupreisen, die Beatles kamen mit Perücken und Schuhen, Postern und Puppen. Und sie triumphierten. Nicht, weil sie dem amerikanischen Volk etwas Neues verkauften, sondern weil sie etwas Altes, scheinbar lang Vergessenes mit großer Überzeugung und Begeisterung in äußerst attraktiver Verpackung anboten.

„I Want To Hold Your Hand“, die Single, die den Beatles den Weg bereitete, vereinte die sophistication der professionellen Songwriter aus dem Brill Building am Broadway mit den Harmonien und handclaps der Girl-Groups und der Energie der Surf-Bands. Diese Musik war männlich und weiblich, schwarz und weiß zugleich, sie war die akustische Entsprechung des sprichwörtlichen melting pot. Für die Beatles waren die USA aufregender, glamouröser und romantischer als ihre von Krieg und Krisen getroffene Heimat – eine Musik gewordene Utopie. Und so zeigten auch ihre Lieder ein Bild von Amerika, das sich nicht aus Rassentrennung und Armut, politischen Attentaten und dem Ennui der endlos öden Vorstädte speiste, sondern aus den Versprechen des Rock’n’Roll und des Soul. Sie nahmen die Musik beim Wort und warfen die große Wunschmaschine an, die wir Pop nennen. Amerikas größte Dichter, Allen Ginsberg, Bob Dylan und Muhammad Ali, erkannten sofort, dass es hier um mehr ging als ums Händchenhalten. Letztgenannter würdigte die Fab Four auf seine Weise gar mit einem kurzen Spontanvers: „When Sonny Liston picks up/The papers and sees/That The Beatles came to see me/He will get angry and I will knock him out in three“.

Und viele Künstler, die die Popmusik in späteren Jahren prägen sollten, und vermutlich der Weltgeist höchstpersönlich, saßen am 9. Februar 1964 vor den Bildschirmen, um John, Paul, George und Ringo bei der „Ed Sullivan Show“ zu sehen, und ein halbes Jahr später in den Kinos, als die vier in „A Hard Day’s Night“ über die Leinwände tollten. Vielleicht hätten Bruce Springsteen und Jerry Garcia ohne diese Erlebnisse niemals eine Band gegründet, ganz sicher hätten sich die Byrds nicht zusammengefunden, um den Folk zu elektrisieren, hätte Bob Dylan nie ein Album namens „Bringing It All Back Home“ gemacht, hätte Brian Wilson die Beach Boys nicht zu immer neuen Höchstleistungen getrieben, um die Konkurrenz aus England in ihre Schranken zu weisen (und am Ende den Kürzeren zu ziehen) – von den Monkees, dem modernen Marketing und dem Musikfernsehen mal ganz zu schweigen. Es war, als hätten die Beatles die Vereinigten Staaten aus einem Dornröschenschlaf geküsst.

Bis dahin hatte man gedacht, die Musik spiele in den USA -von der Mode und den Filmen ganz zu schweigen. Doch nun folgten den Beatles weitere britische Acts in die US-Charts und somit auf die Weltbühne nach. Allen voran die Dave Clark Five, später The Rolling Stones, The Who, The Kinks und sogar die in der Heimat belächelten Herman’s Hermits. Mit dieser sogenannten British Invasion traten zudem auch die Mode der Carnaby Street und Mary Quants Miniröcke ihren internationalen Siegeszug an.

Mit dem Erfolg der Beatles in Amerika begannen die 60er-Jahre, wie wir sie heute kennen, ja, begann Pop, wie wir ihn kennen, als weltweite, generationenübergreifende Kultur. Während die Rock’n’Roll-Ära in ihre Zeit eingeschlossen ist wie ein Insekt in ein Stück Bernstein und ihre Artefakte -die Pettycoats und Jukeboxes, Pferdeschwänze und Quiffs, Elvis‘ pelvis und Jerry Lees Tolle -wirken wie Museumsstücke aus dem Pleistozän, dauert das Pop-Zeitalter, das am 9. Februar 1964 begann, bis heute an.

MAIK BRÜGGEMEYER

1964

Bügelmaschine und Babyboom: Was sonst noch geschah

Wenn man das Jahr 1964 verorten will, dann irgendwo zwischen Bügelmaschine und Segelbrett. Sowohl die Haushaltshilfe als auch das Windsurfen werden in diesem Jahr erfunden und versprechen dasselbe auf unterschiedliche Weise, nämlich Freiheit: Die Frau kommt vom Brett weg, der Mann auf das Brett drauf, nun sogar mit Wind in den Segeln. Den Deutschen geht es gut in diesem Jahr: Die Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik liegt unter einem Prozent und der millionste Gastarbeiter wird mit einem Zündapp-Moped begrüßt. Manchen geht es offenbar auch etwas zu gut: Nur so lässt sich erklären, dass die CDU/CSU die Todesstrafe wieder einführen will und die NPD sich gründet. Die Wogen der Nachkriegszeit sind vom Wirtschaftswunder geglättet worden, Zuversicht und eine noch junge Lässigkeit regieren die Bundesrepublik -selbst in den Büros etabliert sich der Minirock als Arbeitsuniform. Die Welle der sexuellen Befreiung mit Kolle und Co. ist zwar noch Jahre entfernt, doch die Deutschen sind so vermehrungsfreudig wie nie zuvor: 1.357.304 Kinder werden 1964 in Deutschland geboren -macht 2,6 Babyboomer pro Minute. Rekord! Und das, obwohl im Jahr zuvor das Farbfernsehen eingeführt worden war. Philips hatte 1963 auch den Kassettenrekorder erfunden, und auf den ersten Mixtapes werden nun Beatles und Stones vereint. Doch nicht etwa deren Songs landen auf dem Index des Bayerischen Rundfunks, sondern „Schuld war nur der Bossa Nova“ von Manuela. Wegen der Liedzeile: „Doch am nächsten Tag fragte die Mama:’Kind, warum warst du erst heut‘ morgen da?'“ Schlimmer Schweinkram. Fast genauso gefährlich wie der Ingmar-Bergman-Film „Das Schweigen“: Liebesakt, Sex mit Fremden und weibliche Masturbation im Kino. Ein zweifelhaftes Vergnügen in den Augen der Demonstranten vor den Lichtspielhäusern, in Schweden hingegen wird der Film ausgezeichnet. Eine Ehre, die 1964 auch Jean-Paul Sartre zuteil werden soll -doch dieser hegt existenzielle Zweifel an Ehrungen und lehnt den Nobelpreis für Literatur kurzerhand ab. Zum Glück nimmt aber Martin Luther King den Friedensnobelpreis in Oslo entgegen, und Sidney Poitier bekommt als erster Schwarzer einen Oscar für die männliche Hauptrolle. Leider ist noch nicht überall Kings Traum von der Gleichheit aller Menschen Wirklichkeit geworden: Am anderen Ende der Welt wird Nelson Mandela zu lebenslanger Haft verurteilt, in Asien tobt der Vietnamkrieg und Nikita Chruschtschow wird gestürzt. 1964 war ohne Frage ein bewegendes Jahr, das bis heute nachwirkt. Und glücklicherweise behielt ein junger Mann recht, der schon zu Beginn des Jahres davon sang, dass die Zeiten sich ändern – Bob Dylan mit „The Times They Are A-Changin'“ – und zwar weg von der Bügelmaschine, hin zur Freiheit.

SILKE JANOWSKY

DIE US-ALBEN

Wie gut ist die neue Edition?

Wenn es darum ging, die Stimme von Nat „King“ Cole bei den anstehenden Singles und LPs noch etwas einschmeichelnder und sonorer klingen zu lassen, korrigierten die Techniker im Capitol Tower an der Vine Street gern und oft nachträglich bei den Lackfolien-Überspielungen, was die Kollegen bei den Aufnahmen zuvor -als den idealen Sound für den Crooner empfunden -aufgezeichnet hatten. Als es ab 1964 darum ging, dem von niemand dort geahnten Erfolg dieses neuen Pop-Quartetts aus Liverpool klanglich noch auf die Sprünge zu helfen, hatten dieselben Techniker keine Hemmungen, schon an den aus London gelieferten Aufnahmen ungleich drastischere Änderungen vorzunehmen. Sie duofonisierten, pseudo-stereofonisierten und verhallten so skrupellos, dass der Begriff Gassenhauer mit der Veröffentlichung von „I Want To Hold Your Hand“ und „She Loves You“ auf US-Singles eine neue Qualität erreichte. Die LPs stellte man nach eigenem Gutdünken aus den von Produzent George Martin freigegebenen Bändern zusammen, veröffentlichte Meisterwerke wie „Rubber Soul“ und „Revolver“ in völlig verstümmelter Form. Acht Jahre nach den beiden „Capitol Album“-Box-Sets 13 LPs in den speziellen US-Ausgaben neu aufzulegen, entbehrt also nicht einer gewissen Frivolität. Die Frage muss erlaubt sein, welche nostalgischen Gefühle man damit ansprechen möchte?

Denn bei den jetzt als „Mono+Stereo“-CDs vorgelegten Editionen entschied man sich dafür, den seinerzeit als verkaufsfördernd praktizierten tontechnischen Pfusch zu korrigieren. Nur Repertoire, Sequencing, Spieldauer der Songs und Artwork blieben jeweils identisch. Also findet man auf „Rubber Soul“ exklusiv den Stereo-Mix von „I’m Looking Through You“ mit den beiden Fehlstarts des Gitarristen. Die Soundtracks kommen mit den auf den US-LPs die Songauswahl unterbrechenden Instrumentals. Im Fall von „Help!“ sind allerdings auch bei „In The Tyrol“(Wagners „Ritt der Walküre“ adaptiert) die Stereo-Kanäle vertauscht. Und auf „A Hard Day’s Night“ ist „I’ll Cry Instead“ zweimal nur im identischen Mono-Mix zu hören! Bei „Yesterday And Today“ druckte man das ursprüngliche „butcher cover“ wieder auf die Papphülle. „Yes It Is“, „You Can’t Do That“ oder „I Feel Fine“ findet man hier nicht mehr in den massiv verhallten Fassungen; Mono-Mixes wie „All My Loving“ oder „Little Child“ nicht mehr so heftig komprimiert wie zuvor; „Love Me Do“ nicht in Pseudo-Stereo.

Die Stereo-Mixes ersetzte man praktischerweise gleich komplett durch die Fassungen von 2009. Nachdem man also -anders als Ted Jensen bei den besagten Capitol-Album-Sets -nicht mehr die amerikanischen Band-Kopien verwenden mochte, sondern nurmehr die englischen Original-Tapes (notabene remastered!) benützte, wird an diesen Neuauflagen vor allem gesteigertes Vergnügen empfinden, wer die Songs in gänzlich ungewohnter Folge hören möchte und aus irgendwelchen Gründen bislang die Anschaffung der feinen, aber teureren Mono-Box scheute. Anstatt die unsägliche Doku „The Beatles‘ Story“ mitzuliefern, hätte man besser die sich hier ideal bietende Gelegenheit genutzt, endlich auch die 1977 veröffentlichte „Live At The Hollywood Bowl“-LP auf CD nachzureichen. Aber die ließ man leider einmal mehr ungenutzt verstreichen. FRANZ SCHÖLER

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