Verschollene Alben
...jedenfalls nicht offiziell: Einige der bekanntesten Künstler haben im Laufe ihrer Karrieren Alben aufgenommen, die nie das Licht der Plattenläden entdeckten - eine kleine Auswahl verschollener Großtaten.
„Mein neues Album? Ist schon fertig. Aber die Plattenfirma findet’s scheiße und will es nicht veröffentlichen. Ich werde eben noch mal von vorne anfangen.“ So direkt, wie es der schwedische Songwriter Kristofer Aström vor einigen Jahren in einem Interview sagte, ist es in der veröffentlichten Popwelt selten zu hören, aber das Zitat zeigt: Da liegt so einiges rum, bei Künstlers zu Hause und in den Archivschränken der großen Plattenfirmen. Der Verlust fürs plattenkaufende Publikum freilich dürfte oft ein überschaubarer sein. Zumindest die besten Songs dieser Phantom-Werke schafften es dann eben auf andere Platten. Siehe Ryan Adams, traditionell outputfreudig, siehe Bruce Springsteen, siehe auch Katy Perry. Ja, von der Dame, die mit „„I Kissed A Girl“ wochenlang alle Hitparaden blockierte, existiert ebenfalls eine nie veröffentliche Giftschrank-Aufnahme.
Doch es geht bei den „„verlorenen Alben“ um mehr als nur ein paar Songs, die niemand hören durfte. Es geht um Projektionsflächen, um so eine Art musikalisches Shangri-La, sagenumwobene Schätze, die niemand (oder kaum jemand) je gesehen hat. Denn das Schöne an solchem Kunstwerk: Erwartungshaltungen wird es nie enttäuschen. So bleibt „Smile“ das beste Beach-Boys-Album aller Zeiten, und so bleibt die Rezeption des tatsächlich Jahre später noch veröffentlichten „„Black Album“ von Prince eine, die die Schwächen der Platte völlig außen vor lässt. Wie das angeblich fertiggestellte, aber nie erschienene Prefab-Sprout-Album „Michael Jackson – „Behind The Veil“ klingt, muss man sich ebenso ausmalen wie den Genuss des nie veröffentlichten Buffalo-Springfield-Drittlings „Stampede“. Dass Axl Rose sein „Chinese Democracy“ vergangenes Jahr doch noch in die Läden brachte, war letztlich riesengroßer Blödsinn, weil so aus einem Mythos ein ziemlich langweiliges Rock-Album wurde.
Hier ein kleiner und keinesfalls vollständiger Überblick über die Gesellschaft, in der es sich sonst befunden hätte:
Beach Boys – Smile
Mit „„Smile“ verhält’s sich ein bisschen wie mit „„Chinese Demoeracy“. Dass Brian Wilson die Platte 2004 doch noch veröffentlichte, wurde von vielen eher verhalten aufgenommen. Schließlich gab es jetzt zwar eine offizielle Reihenfolge, wusste man jetzt, was Wilson sich da gute 40 Jahre vorher vorgestellt hat. Aber bei allen Feinheiten der Produktion blieb das Bild ein ambivalentes. Die 2.0-Version von „Smile“ wurde zuvorderst als Replika wahrgenommen, zumal man von einigen Songs die offiziellen Beach-Boys-Varianten kannte.
Die vielen bereits bekannten Stücke inszenierte Wilson dabei nicht wirklich anders als in ihren Ur-Versionen. Freilich brach er sie bisweilen: „Heroes And Villains“ besitzt einige bemerkenswerte Wendungen, die anfangs irritieren, weil sie die von der später veröffentlichten Beach-Boys-Version geweckten Erwartungen völlig aushebeln. „Good Vibrations“ ist die erwartete Perfektion. „Surf’s Up“ bleibt eine Oper, „Wonderful“ und „Songs For Children“ sind Kammerpop der Ersten Liga. Doch liest man von den Ideen, über denen Wilson seinerzeit brütete, wird schnell klar, dass eine Veröffentlichung in den sechziger Jahren kaum denkbar gewesen wäre: Die Vision, die ihn antrieb, unterschied sich massiv von der der restlichen Beach Boys, sieht man einmal von Dennis Wilson ab, dem das Zitat zugeschrieben wird, „Pet Sounds“ würde im Vergleich zum „„Smile“-Material „völlig abstinken“. Surf-Sound war nicht mehr das, was Wilson interessierte, er sah sich dem ultra-aufwändig produziertem Wall Of Sound eines Phil Spector und den Songideen eines Van Dyke Parks wesentlich näher. Inhaltlich sollte es eine „„Teenage Symphony To God“ werden, aber auch eine Reise durch Amerika und eine Aufarbeitung seiner Geschichte, die freilich eher assoziativ stattfinden sollte.
Gute zwei Jahre war die Band im Studio, bis sie mehr oder weniger aufgab. Das Material wurde in den Folgejahren zu großen Teilen auf Studioalben und Compilations veröffentlicht, zu nennen ist hier das 1967 erschienene „Smiley Smile“. Desweiteren existieren zahlreiche Bootlegs. Was mit den Masterbändern der damaligen Sessions passierte, ist unklar. Dass Brian Wilson sie verbrannte, wurde später dementiert. Setzt man zusammen, was bekannt ist, und addiert es mit der 2.0-Variante von „„Smile“, stellt man sich also die finalen und einigermaßen stringent produzierten Versionen von „Heroes And Villains“, „„Wind Cimes“, „Surf’s Up“, „„Cabinessence“, „Wonderful“ und „„Good Vibrations“ auf einem Album vor, wird klar: Das wäre eine großartige Platte geworden.
Springsteen – The Ties That Bind
Der etwas zähe Entstehungsprozess von „„Darkness On The Edge Of Town“ war es angeblich, der in Bruce Springsteen den Plan reifen ließ, beim Nachfolger alles anders zu machen. Flotter sollte die Platte entstehen, unmittelbarer klingen. Gemeinsam mit der E-Street-Band ging er also 1979 ins Studio, um zehn Songs aufzunehmen. Es wäre wohl das kürzeste Album seiner Diskographie geworden, vermutlich dennoch ein erfolgreiches: Mit Stücken wie dem Titeltrack, dem wunderbaren „The River“ und dem euphorischen „„Hungry Heart“ hätten sich darauf grandiose Songs befunden.
Warum Springsteen die Aufnahmesessions so lange erweiterte, bis sie zum Doppelalbum „„The River“ führten, darüber spekulierte Springsteen-Biograph Dave Marsh. Er vermutet, Springsteen hätte ein „„bigger Statement“ gegen die atomare Aufrüstung setzen wollen. Andere Quellen behaupten, die Sessions mit der E-Street Band hätten so viel Spaß gemacht, dass an Aufhören nicht zu denken gewesen sei. Ob die Songs auf „„The Ties That Bind“ unterm Strich großartig anders geklungen hätten als die auf „The River“, ist nicht bekannt: Einige Alternate Takes, die ihren Weg auf das „Box-Set „Tracks“ fanden, weisen aber daraufhin, dass die Produktion etwas karger ausgefallen wäre.
Auch das Springsteen-Großwerk „„Nebraska“ sollte angeblich anders klingen – man munkelt, dass es neben der auf Demos beruhenden veröffentlichten Version auch eine komplett ausgearbeitete Band-Version geben soll. Springsteens Manager John Landau dämpfte allerdings die Hoffnungen auf eine Veröffentlichung von „„Electric Nebraska“.
Ryan Adams – The Suicide Handbook
Wer Ryan Adams bei Twitter folgt, bekommt recht rasch eine Idee davon, wieviel der Mann an unveröffentlichtem Material herumliegen haben muss. Denn gerne und oft zeigt er über den Messaging-Dienst, was er gerade so hört. Und gerne und oft sind das irgendwelche Songs von ihm, die es nicht auf ein Studioalbum schafften. Elf Platten, so rechnete unlängst eine Fanseite aus, könnte der ehemalige Whiskeytown-Sänger quasi aus dem Stand füllen. Ein guter Teil der Songs fand in den vergangenen Jahren seinen Weg in die Tauschbörsen, einige US-Blogs setzten mühsam zusammen, was zusammengehören könnte. Bei so einem Output bleibt natürlich die Chronologie oft unklar – das eher ruhige „The Suicide Handbook“ gilt als relativ weit fortgeschrittenes Projekt und ist, was seine Entstehungszeit angeht, zwischen dem Solodebüt „Heartbreaker“ und „Gold“ anzusiedeln. Einige der Songs, etwa „„She Wants To Play Hearts“ oder „„Cry On Demand“, fanden ihren Weg auf spätere Alben, andere blieben offiziell unveröffentlicht, was so schlimm nicht ist: In den gängigen Tausch- und Torrent-Börsen des Internets findet sich das Album problemlos, auch physische Bootlegs sind erhältlich.
Es gibt noch weitere nicht veröffentlichter Adams-Alben. Das wohl 2001 entstandene „48 Hours“ etwa zeigt einen Westcoast-beeinflussteren, satteren Sound, und beim vermutlich direkt nach der Whiskeytown-Auflösung entstandenen „Destroyer“ wirkten David Rawlings und Gilian Welch mit.
The Beatles – Get Back
Wenn man sich mit der Entstehungsgeschchte von „„Get Back“ beschäftigt, wird schnell klar, warum das alles nicht funktionieren konnte: Manager Brian Epstein war Ende 1967 verstorben, Ringo Starr hatte die Band zeitweilig verlassen, spirituelle Erfahrungen in Indien hatten kaum Erleuchtung gebracht und die neu gegründete Beatles-Firma Apple war fast pleite. Ende 1968 war der unbesiegbare Nimbus der Fab Four dahin – und das Quartett heillos zerstritten.
Paul McCartney schlug vor, nach dem „„White Album“ (1968) „noch einmal von vorne anzufangen“, also eine Platte ohne Overdubs, ohne technische Hilfsmittel, quasi live aufzunehmen und so den alten Spirit neu zu beleben. Dokumentiert werden sollte das alles von einem Filmteam, das die Band bei den Sessions beobachten sollte. So weit die Theorie. Aber schon die Wahl des Aufnahmeortes führte zu heftigen Streitigkeiten. Und dass Yoko Ono spätestens seit dem „White Album“ nicht nur zum Studio-Inventar gehörte, sondern auch noch unverblümt ihre Meinung zur Musik äußerte, half auch nicht weiter. Bei der Arbeit an „Get Back“ warf George Harrison nach Zusammenstößen vor allem mit McCartney mehrfach genervt die Brocken hin – Gast-Keyboarder Billy Preston konnte angesichts der miesen Stimmung im Studio nur den Kopf einziehen.
Es kam, wie es kommen musste: Am 30. Januar 1969 gaben die Beatles ein Konzert auf dem Dach des Apple-Gebäudes – ihr letztes – und am Tag danach wurde das „Get Back“-Projekt still und heimlich begraben. Der Song „„Get Back“ erschien später als Single. Phil Spector wurde eingeschaltet, um aus dem Material der Sessions irgendwie ein Album zu basteln. Was er tat, mit jeder Menge Zusatz-Tand, der rein gar nichts mehr mit dem ursprünglichen „Back To The Roots“-Ansatz zu tun hatte. 1970 erschien das Ganze unter dem Titel „„Let lt Be“, zu diesem Zeitpunkt aber waren die Beatles schon Geschichte. Dennoch kann man „„Get Back“ mit etwas Glück hören: Eine fertige Version der Platte wurde direkt nach ihrer Entstehung an verschiedene Radiosender geschickt und ist heute als Bootleg erhältlich. Dazu gibt es inzwischen auch eine von McCartney abgesegnete Alternativ-Version von „„Let It Be“, Titel: „Let It Be … Naked“ (EMI 2003).
The Who – Lifehouse
Am Ende brachte „„Lifehouse“ alle zur Verzweiflung: Seinen Schöpfer Pete Townshend, weil er das ambitionierte Konzept dahinter niemandem verständlich machen konnte; seine Band, weil sie nicht verstand, was das alles sollte; seinen Manager Kit Lambert, weil der sauer war, dass Townshend dessen Musical-Version von „Tommy“ nicht absegnete und stattdessen mit „„Lifehouse“ auf dem besten Weg ins Wolkenkuckucksheim war.
Was sollte „Lifehouse“ sein? Kurz gesagt, ein multimediales Gesamthappening aus Musik, Film, Live-Konzert und Tonträger, das die Entfremdung des Menschen, dessen zunehmende Unmündigkeit und die alles heilende Kraft des Rock’n’Roll zum Inhalt haben sollte. Dazu sollten innovative Produktions- und Kompositionstechniken verwendet werden (Townshend wollte etwa die Geburtsdaten der Konzertbesucher in Synthesizer-Algorhythmen umrechnen). Und überhaupt, „„Lifehouse“ sollte die Welt retten. Oder so ähnlich. Jedenfalls: Keiner verstand, und Townshend erlitt einen Nervenzusammenbruch.
Das Ende vom Lied: Das Who-Hirn raffte sich auf, sammelte die Scherben des Projektes, die in Form von einzelnen Songs umherlagen, und verschwand mitsamt den Kollegen Daltrey, Entwistle und Moon sowie Produzent Glyn Johns ins Studio, um wenigstens ein handelsübliche Langspielplatte aufzunehmen. Die hieß „„Who’s Next“ und ist auf Seite 56 dieses Heftes ausführlich vorgestellt. Weitere „Lifehouse“-Songs schafften es im Laufe der Jahre auf verschiedene andere Alben, darunter auch Soloalben von Townshend, den das Projekt bis heute nicht losgelassen hat: Aufseiner Website eelpie.com sind ein Mitschnitt von „„Lifehouse“-Musik vom Februar 2000 unter dem Titel „Live: „Saddler’s Wells“ sowie das aufwändige 6-CD-Box-Set „„The Lifehouse Chronicles“ erhältlich.
Prince – Dream Factory / Camille / Crystal Ball
Was nun das große unveröffentlichte Prince-Album ist, wird in diversen Fan-Foren heftigst diskutiert. Das oft in den Ring geworfene „„Black Album“, das Ende 1987 erscheinen sollte, zunächst eingestampft und dann sieben Jahre später doch noch das Licht erblickte, ist es eher nicht. Spannender sind eine ganze Reihe von Songs, die Prince in den vorangegangenen drei Jahren aufgenommen hatte und die unter verschiedenen Arbeitstiteln zusammengefasst wurden. Besonders die „Dream Factory“-Sessions sind dabei erwähnenswert – zunächst einmal, weil sie so etwas wie ein zusammenhängendes Thema hatten. Nämlich die Schattenseiten und Fallstricke des Ruhms, aber auch weil sie musikalisch überzeugten: Prince nahm sämtliche Songs mit seiner damaligen Backing Band The Revolution auf, die sich kurz darauf auflöste – wohl ausschlaggebend dafür, dass es nicht zur Veröffentlichung des Albums kam, obwohl bereits eine Katalognummer und erste Testpressungen existierten. Auch die Pläne für „Camille“, eine Art Konzeptalbum mit hochgepitchter Stimme, und das opulente „Crystal Ball“ konnte Prince, vermutlich wegen massiver Vorbehalte seines Labels, nicht realisieren. Alles mündete schließlich in „„Sign O‘ The Times“, das zum großen Teil aus Material der erwähnten Sessions besteht. Der Rest der Songs wurde über die Jahre auf verschiedenen Alben und als B-Seiten veröffentlicht.
Jimi Hendrix – First Rays Of The New Rising Sun
Posthum-Veröffenthchungen angeblich letzter Vermächtnisse haftet ein etwas bitterer Nachgeschmack an – nicht erst seit der absurden Ausschlachtung des Tupac-Shakur-Backkataloges und der Verramschung sämtlicher verfügbarer Johnny-Cash-Aufnahmen. Im Falle des 1997 in die Läden gekommenen „„First Rays Of The New Rising Sun“ greift der Vorwurf allerdings ins Leere: Denn zunächst einmal waren die Aufnahmen ganz offenbar zu großen Teilen fertig gestellt, als Hendrix im September 1970 starb. Laut Plattenfirma hatte er mit „„Dolly Dagger“ sogar schon eine Single im Blick. Vor allem aber enthielt man sich im Unterschied zu den 1975 erschienenen „„Crash Landing“ und „„Midnight Lightning“ einer allzu offensichtlichen Nachbearbeitung und Instrumentierung durch fremde Studiomusiker, sodass trotz einer gewissen Unfertigkeit nie der Verdacht aufkommt, da hätte jemand etwas Altes des schnöden Mammons wegen neu aufpoliert. Wohl ist Hendrix‘ Reise in einen rhythmus-orientierteren, funkigeren Sound spannend, völlig überraschend ist sie nicht, betrachtet man die Entwicklung des legendären Künstlers über die Jahre hinweg – und vor allem das kurz vor seinem Tod veröffentlichte Live-Album „„Band Of Gipsys“.
50 Cent – Power Of The Dollar
Neun Kugeln waren es, die im Jahr 2000 die Verantwortlichen von Columbia Music dazu brachten, „Power Of The Dollar“ lieber doch nicht zu veröffentlichen. Denn dass der Mordanschlag auf 50 Cent mit irgendetwas zu tun haben könnte, was auf der Platte gesagt wurde, schien naheliegend: Fifty rüpelte und rappte auf dem Album gegen das komplette HipHop-Establishment, im Song „„Ghetto Qu’ran (Forgive Me)“ thematisierte er Drogen- und Bandenkriege im New Yorker Stadtteil Bronx. Anstelle des Albums erschien nach dem Anschlag eine entschärfte und stark gekürzte Version der Platte als EP, Angelpunkt waren das bereits bekannte „How To Rob“ und das eigentlich als zweite Single geplante „Thug Love“ mit Destiny’s Child.
Die Rekonvaleszenz kostete 50 Cent gute anderthalb Jahre, 2003 gelang ihm mit „„Get Rich Or Die Tryin'“ der Durchbruch in den Mainstream. „„Power Of The Dollar“ wurde inzwischen als Bootleg veröffentlicht – ob sich dahinter das tatsächlich so aufgenommene Debüt des Rappers verbirgt, ist freilich zu bezweifeln. Einige Songs des Albums sind aber auf der 2002 erschienenen Compilation „Guess Who’s Back“ vertreten.