Tourist im eigenen Land
Bereits in seinem ersten Spielfilm, "Permanent Vacation", hatte Jarmusch seinen eigenwilligen Stil gefunden. Und obwohl seine Produktionen mit den Jahren größer wurden und die Interessen sich verlagerten, ist er der Ästhetik und den Themen von damals in gewisser Weise immer treu geblieben.
Ein spartanisch eingerichtetes Büro. An den Wänden hängen nur das Filmplakat von „Death Of A Salesman“ und eine Schwarzweiß-Fotografie von Marion Brando in „The Wild One“. Auf einem einfachen Holzstuhl sitzt hinter einem leeren Schreibtisch ein etwa 70-jähriger Mann. Der Regisseur dieser Filme, Läszlö Benedek. Er seufzt. Vor ihm steht ein junger Student, vom Gesicht her vielleicht Mitte 20, wenngleich seine schon ergrauenden Schläfen etwas anderes zu sagen scheinen. Er trägt schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt mit einem Button, auf dem „The Heartbreakers“ steht, und Chucks. In seiner linken Hand hält er „Les Chants de Maldoror“ von Lautreamont. Er druckst herum, kann die richtigen Worte nicht finden, macht mehrere Anläufe. Schließlich gelingt es ihm, sein Anliegen vorzubringen. Er will hinschmeißen. Sein Filmstudium abbrechen. Ihm fehlt das Geld, und außerdem scheinen ihm die meisten Kurse an der „Tisch School Of Arts“, dem Filminstitut der NYU, vollkommen sinnlos. Da seufzt Benedek, der Leiter des Studiengangs, noch einmal. Nur tiefer. „Wissen Sie“, hebt er an, mit einem Akzent, der verrät, dass er ein Fremder ist, hier in New York, „das ist sehr schade, denn ich habe Nicholas Ray gewinnen können, hier im nächsten Jahr zu unterrichten. Er braucht einen wissenschaftlichen Mitarbeiter, und ich dachte, Sie könnten dafür der perfekte Mann sein.“
Der junge Mann schluckt. Nicholas Ray – „Rebel Without A Cause“ – Johnny Guitar“ – „The Lusty Men“. Lebt der denn noch? Sein letzter Film muss fast 15 Jahre her sein. War er danach nicht zusammengebrochen?
Vollkommen am Ende? Ach nein, vor ein paar Jahren gab es den Skandal um ein neues Werk, in dem man ihn mit seinen Filmstudenten Marihuana rauchen sieht.
All das geht dem jungen Mann durch den Kopf, man kann es sehen. An seinem Blick ins Leere, an seinem Mund, der ein bisschen offen steht, auch an seiner verschlossenen Haltung. Als er seinem Schulleiter in die Augen sehen und schüchtern nicken will, schaut er auf einen leeren Stuhl. Er wendet seinen Blick, am Filmplakat und am Bild von Brando vorbei, und sieht, dass Benedek bereits im Begriff ist, die Tür zum Nebenraum zu öffnen. Am Fenster steht ein hagerer älterer Mann mit wirrem weißen Haar und riesiger Sonnenbrille und schaut aus dem zwölften Stock, in dem sie sich befinden, auf den regennassen Broadway hinunter. Er dreht sich kurz zur Tür und grummelt in Richtung des jungen Mannes: „Können sie das Wort .dialektisch‘ definieren? 1 Ob sich die Szene wirklich genau so abgespielt hat, ist nicht bekannt. Aber so ähnlich hätte sie wohl ausgesehen, wenn sie in einem der Filme aufgetaucht wäre, die der junge Mann, um den es hier geht, später gedreht hat. Er heißt Jim Jarmusch und hat damals, Ende der Siebziger, tatsächlich die Assistentenstelle bekommen, nachdem er Rays Frage zu dessen Zufriedenheit positiv beantwortet hatte. Sein Studium hat er mithilfe des so verdienten Geldes und eines Stipendiums auch fortführen können, wenngleich er schon bald häufiger in Rays Wohnung an der Ecke Spring Street, West Broadway in Soho zu finden war als ein paar Blöcke weiter nördlich in den Gebäuden der NYU im Village.
Auch fast 30 Jahre später kann man Rays Einfluss auf die Werke seines Schülers noch spüren. Er zeigt sich nicht so sehr, bzw. gar nicht in filmischen Mitteln oder Dramaturgie, sondern in einem Blick, den man vielleicht mit einem Zitat des von Sterling Hayden gespielten Ray-Helden Johnny Guitar beschreiben kann: „Fm a stranger here myself.“ Denn es ist die Perspektive eines Fremden, die für Jarmuschs wie für Rays Filme so charakteristisch ist. Seine Protagonisten sind allesamt Außenseiter, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Individualität nicht in den Kontext zu passen scheinen, in dem sie abgebildet werden. Ihre Geschichten sind keine großen amerikanischen Erzählungen, auch wenn sie ab und zu vielleicht den Eindruck machen, sie wären es gerne.
Jarmusch hat sich diesen fremden Blick zu einem Teil schon vor seiner Zeit mit Ray erarbeitet. Als Literaturstudent in Paris, der statt über den Büchern zu sitzen, in der Cinemateque Francaise das studierte, was heute in anglo-amerikanischen DVD-Shops unter „World Cinema“ zu finden ist. Die Werke europäischer und asiatischer Filmemacher wie Jean Eustache, Carl Theodor Dreyer, Yasujiro Ozu oder Akira Kurosawa. Zudem lenkten seine Leidenschaft für Dichtung und Musik – er war bis in die frühen Achtziger Keyboarder der New Yorker No-Wave-Band The Del Byzanteens – seine Aufmerksamkeit auf die Misfits und Outsiders der (amerikanischen) Gesellschaft.
Er habe das Gefühl, in Gesprächen über Bücher, Musik oder Baseball mindestens ebenso viel, wenn nicht mehr von Ray gelernt zu haben als in den Unterhaltungen, die sich spezifisch ums Filmemachen drehten, erinnerte sich Jarmusch später in einem Interview. „(Ray) sagte immer, das Hauptproblem mit Filmstudenten sei, dass sie ausschließlich daran interessiert seien, alle Aspekte des Filmemachen zu erlernen, sich aber niemals ein Gemälde ansehen würden, weder an Musik noch an anderen Kunstformen interessiert seien.“
Und so wundert es nicht, dass Ray seine Seminare am Ende nur noch für einen Schüler abhielt: den vielfach interessierten Quereinsteiger Jarmusch, der nicht wegen eines Films, sondern ¿wegen eines Essays über Filmstills an der „Tisch“ angenommen worden war. Jarmusch war schließlich auch der einzige Mitarbeiter, den der an Lungenkrebs erkrankte Regisseur in die Produktion seines letzten Films „Lightning Over Water“ einbrachte. Den Rest der Crew engagierte der deutsche Co-Regisseur Wim Wenders.
Seine Hauptaufgabe habe bei den Dreharbeiten darin bestanden, Kaffee zu holen und sich um Rays dritte Zähne zu kümmern, erklärte Jarmusch später lakonisch. Doch auf Wenders hatte der junge Filmstudent durchaus Eindruck gemacht. „Als ich 1978 einen Film mit Nicholas Ray diskutierte, den wir dann später auch gemeinsam drehten…, hatte Nick einen Lehrauftrag an der N.Y.U. Graduate Film School. Sein Teaching Assistant war ein ruhiger junger Mann mit für sein Alter ungewöhnlich grauen Schläfen namens Jim Jarmusch“, erinnerte er sich in seinem Vorwort ftir den sehr lohnenswerten, von Rolf Aurich und Stefan Reinecke 2001 herausgegebenen ,Jarmusch“-Band. „Nicholas Ray hielt große Stücke auf ihn, und so wurde Jim bei unseren Dreharbeiten Produktionsassistent. Einmal erscheint er im Film auch kurz im Bild, an einer alten Moviola stehend, auf der er gerade Nicks letzten Film ,We Can’t Go Home Again‘ (1976) umspult. Mein Eindruck von Jim war: Er wusste genau, was er wollte. So still er vielleicht schien, so unbeirrbar würde er seinen Weg gehen.“
Unbeirrbar war Jarmusch jedenfalls, wenn es um sein erstes Drehbuch ging. Es hieß „Permanent Vacation“ und drehte sich um einen jugendlichen Ausreißer, der die Straßen der Lower East Side von Manhattan bewohnte. Ab und zu zeigte Jarmusch seinem Lehrmeister Ray die Entwürfe, und der gab ihm einige Ratschläge. „Lass den Jungen von der Polizei verfolgt werden, die Polizei muss ihn die ganze Zeit jagen. Er läuft vor der Polizei davon, flieht an Bord dieses Schiffes, und als er von Bord gehen will, taucht plötzlich dieses Mädchen auf, zieht eine Knarre aus ihrer Handtasche und killt ihn.“
Das wäre in der Tat ein perfekter Ray-Film gewesen – jugendliches Aufbegehren, gesellschaftlicher Sprengstoff, große Dramatik, tragisches Ende. Doch Jarmusch nahm jedes Mal, wenn Ray eine neue Finte vorschlug, stattdessen einen weiteren Teil der eh schön spärlichen Handlung aus dem Drehbuch heraus, „um es noch passiver zu machen“, wie er erklärte. „Einfach, weil ich ihn (Ray) nicht imitieren wollte. Ich glaube, er hat das respektiert.“
Nick Ray starb am 16. Juni 1979. Noch im selben Monat drehte Jarmusch in zehn Tagen „Permanent Vacation“ ab. Seinen Hauptdarsteller, den 16-jährigen Chris Parker, hatte er zwei Jahre zuvor im New Yorker Club CBGB’s kennengelernt. Er war ein Freund des Besitzers Hilly Chrystal gewesen und hatte den mittellosen Jarmusch des öfteren an der Kasse vorbei durch die Hintertür in den Club geschleust. Das Leben dieses seltsamen jungen Mannes diente Jarmusch als Blaupause für seinen ersten Film. Doch einen entscheidenden Aspekt blendete er, als er das Drehbuch schrieb, aus: die zeitgenössische Punkund New-Wave-Szene, in der er ihn kennengelernt hatte. Und gerade diese Auslassung macht aus einem ganz normalen Szenesonderling einen entwurzelten Außenseiter-den Prototypen des jarmusch’schen Helden schlechthin also. Heimatlos, keiner Szene zugehörig, mit einem eigensinnigem, aus unterschiedlichen (Sub-) Kulturen zusammen gewürfelten Stil und idiosynkratischen Marotten. Cool aus sich selbst heraus.
Als Zuschauer treffen wir Chris, der im Film Aloysius ,Allie“ Parker heißt, wie zufällig auf den menschenleeren, verschmutzten Straßen der Lower East Side von Manhattan. Wir wissen nicht, woher er eigentlich stammt und wer er eigentlich ist. Wir begleiteten ihn durch heruntergekommene Viertel, sind Zeuge absurder Begegnungen, sehen ihm zu, wie er Graffiti sprüht, sich mit seiner Freundin anschweigt, tanzt, auf dem Dach eines Hochhauses schläft, ins Kino geht, seine geisteskranke Mutter in einer Klinik besucht, ein Auto klaut.
Und obwohl wir die ganze Zeit bei ihm sind, können wir ihn nicht ergründen. Er ist ganz bei sich, meidet autistisch jede Bindung, lebt in seiner eigenen Welt, aus der heraus er niemanden berühren, mit niemandem wirklich kommunizieren kann. „I have my dreams while I’m awake“, sagt er. Und so treiben wir mit ihm durch Straßen, Räume und Tagträume. Nach knapp 80 Minuten verlieren wir ihn dann am Hafen von Manhattan wieder aus den Augen. Er ist auf dem Weg nach Paris. Was er dort vorhat – ist egal. Allie ist ein Drifter, ein „tourist on permanent vacation“, wie so viele von Jarmuschs Filmcharakteren. Seine Figuren seien wohl deshalb ständig unterwegs, weil er selbst als Kind nie gedacht hätte, mal aus Akron, Ohio rauszukommen, erklärte Jarmusch jüngst der „New York Times“.
Vielleicht ist ihm die Idee zu diesen aus dem Nichts auftauchenden und die Ungewissheit verschwindenden Drifter aber Ende der Siebziger auch bei einer seiner Besuche des „Squat Theatre“ in der Nähe des „Chelsea Hotel“ gekommen. Das hauptsächlich aus ungarischen Emigranten bestehende Ensemble spielte seine Aufführungen vor einem Fenster, aus dem man auf die West 23rd Street schauen konnte. Die Schauspieler bauten das zufällig auf der Straße vor sich gehende Treiben in ihre Performance mit ein, manchmal wurde ein vorübergehender Passant sogar zum unfreiwilligen Protagonisten. „Das waren wirklich unglaublich kreative Leute, die nicht besonders an traditionellem Theater interessiert waren“, so Jarmusch. „An kommerziellen Sachen hatten die kein Interesse. Sie lebten in einer Kommune… und sie hatten immer viel Musik. Sun Ra hat dort zum Beispiel gespielt, und viele Leute aus der Szene, wie James Chance, Arto Lindsay, ich und John (Lurie) hingen dort rum. Es war einfach eine großartige Atmosphäre, da wurden viele Ideen ausgetauscht.“
Permanent Vacation“ blieb ein Underground-Film, wurde fast nur in den Clubs gezeigt, in denen sich die New Yorker Musik- und Filmszene traf. In Europa – vor allem Deutschland – allerdings brachte er Jarmusch einige Anerkennung und wurde schließlich sogar vom WDR eingekauft. „Zwei gegenläufige Eindrücke brannten sich mir gleich beim ersten Sehen von .Permanent Vacation‘ ein“, erinnerte sich der damalige „Filmkritik“-Mitarbeiter Ralph Eue, der Jarmuschs Debüt durch Zufall beim Filmfestival in Mannheim gesehen hatte. ,Auf der einen Seite dieses absolute In-Tune-Sein mit der Zeit, aus der heraus er entstand; und im Gegensatz dazu das stoische Zelebrieren von Abweichung, einer decalage, was den Stil betrifft ebenso wie den Off-Beat seiner Haltung. .Permanent Vacation‘ brachte mit größter Selbstverständlichkeit inkommensurable Dinge zusammen: Punk und Jazz und Nicholas Ray und Meditation; dazu diese fast fiebrige Jetztheit‘, die im gleichen Moment tief verankert war in einem weiten Traditionsraum. Und nicht zuletzt frappierte .Permanent Vacation‘ auch durch den Verzicht auf das, was man in diesem Film unbedingt vermuten musste: Punk-Musik.“
In den USA wurde „Permanent Vacation“ kaum beachtet und die „Tisch School Of Arts“ hat ihn nicht mal als Abschlussarbeit anerkannt, weil Jarmusch
zur Finanzierung Geld aus einem Stipendium verwendet hatte, das eigentlich zur Begleichung seiner Studiengebühren gedacht war. Die wenigen amerikanischen Kritiker, die sich dem Film widmeten, attestierten dem jungen Regisseur zwar Talent in der Bildgestaltung, doch Schauspielerführung und die Interaktion zwischen den Figuren seien ihm vollkommen misslungen.
Erst mit den folgenden Filmen sollte sich herausstellen, dass genau in diesem Misslingen Jarmuschs Hauptinteresse lag. Gerade aus dem Nicht-Verstehen, Missverstehen und Aneinandervorbeireden entstehen — vor allem in seinen frühen Werken — die komischsten und wahrhaftigsten Momente. Etwa wenn der clowneske Italiener Roberto (Roberto Benigni) aus „Down By Law“ von 1986 in der Gefängniszelle ein paar irgendwo aufgeschnappte Englischbrocken und Gedichtzeilen aus seinem Notizbuch rezitiert und schließlich mit seinen mürrischen Mitgefangenen Zack (Tom Waits) und Jack 0ohn Lurie) einen situationistischen Aufstand probt: „I scream! You scream! We all scream for ice cream!“ Oder wenn der ostdeutsche Taxifahrer Helmut Grokenberger (Armin Müller-Stahl) seinen afro-amerikanischen Fahrgast Yoyo (Giancarlo Esposito) in „Night On Earth“ schier zur Verzweiflung treibt. „Sprachschwierigkeiten sind das traurigste und schönste zugleich, dass wir anders denken, weil die Struktur unserer Sprachen eine andere ist“, so Jarmusch, eine Zeile von Roberto aus „Down By Law“ variierend („It’s a sad and beautiful world“).
Doch es ist nicht die Sprache allein, die in seinen Filmen Kommunikation und Verstehen sabotiert. Man denke an all die absurd-komischen Begegnungen in den Kurzfilmen, die Jarmusch unter dem Motto „Coffee And Cigarettes“ seit Mitte der Achtziger drehte und 2003 unter diesem Titel auch gesammelt ins Kino brachte. Jedes dieser elf Gespräche zu Kaffee und Zigaretten misslingt. Neben Sprachbarrieren stehen unterschiedliche Milieus, Ignoranz und falsche Eitelkeit den Protagonisten im Weg. Doch betrachtet man die Episoden in der Zusammenschau, scheinen die Figuren der einzelnen Gespräche über Zeit und Ort hinweg miteinander zu kommunizieren. „Earth is a conduetor of acoustical resonance“, wiederholt Meg White, nachdem sie den Ausführungen Jacks über Nikola Tesla gelauscht hat. „1t resonated through the whole building“, jauchzt Taylor Mead, als er in einer dunklen Lagerhalle die Klänge eines Gustav-Mahler-Liedes förmlich herbeigesehnt hat.
In „The Limits Of Control“ bemerkt Tilda Swinton in ihrer Rolle als platinblonder Vamp an einer Stelle, sie möge Filme, in denen die Leute einfach so dasitzen und nichts sagen. Sie dürfte ein Fan der Werke von Aki Kaunsmäki sein, vermutlich mag sie auch den frühen Wim Wenders. Ganz sicher aber liebt sie Jim Jarmusch. Ja, der Regisseur scheint ihr seine eigene dramaturgische uns ästhetische Maxime in den Mund gelegt zu haben.
Als Jarmuschs Vater, Zeit seines Lebens Mitarbeiter des Reifenherstellers „Goodrich“ in Akron, Ohio, „Permanent Vacation“ zum ersten Mal gesehen hatte, war er sich sicher, dass der Filmvorführer da eine Spule vergessen haben musste. „Er sagte: ,kh glaube, ich hab nicht den ganzen Film gesehen, oder?“‚, erinnerte sich Jarmusch später. „Und ich sagte: ,Doch, das ist alles.‘ Und er meinte: ,Hm, ich glaube, da fehlt etwas von der Geschichte.“‚ Und in der Tat hat man in Jarmuschs Filmen oft das Gefühl, einen Teil der Story verpasst zu haben. Man kommt sich vor wie jemand, der zufällig in eine Situation hereinschneit. Ein paar Leute sitzen irgendwo rum, erzählen etwas oder schweigen. Irgendetwas ist passiert oder wird passieren, vielleicht hier, vielleicht an einem anderen Ort, vielleicht auch gar nicht.
Man kriegt diese Filme nicht zu fassen, in dem man ihre Handlung nacherzählt. Was etwa weiß man über „Down By Law“, wenn man erfährt, dies sei ein Film über drei Männer, die aus unterschiedlichen Gründen im Knast landen, zusammen ausbrechen, abhauen und sich schließlich wieder trennen? Zumal, -wenn man bedenkt, dass der dramatischste Teil dieser Zusammenfassung- der Ausbruch – nicht einmal gezeigt wird.
„Ich glaube, die Leute neigen dazu, Dinge zu sehr zu dramatisieren – besonders im Film“, erklärte Jarmusch 2000 der „Zeit“. „Sie wollen, dass es die ganze Zeit spektakulär zugeht, und sie wollen einen Plot haben, Verwicklungen. Aber das Leben hat keinen Plot, und nicht jeder Augenblick ist dramatisch. Von jemandem wie Billy the Kid glauben alle, er hätte ein wildes Leben gehabt, aber auch da gab es Zeiten, zu denen er nur herumsaß und nichts getan hat. Es wäre vielleicht interessant, darüber mal einen Film zu machen.“
Zu der Zeit arbeitete Jarmusch gerade an „Int. Trailer. Night“, seiner Episode für das Projekt „Ten Minutes Older“, für das sich 14 Regisseure mit dem Thema „Zeit“ beschäftigten. Sein Beitrag zeigt eine Schauspielerin (Chloe Sevigny) in der Drehpause zwischen zwei Einstellungen, somit in einer filmischen Nicht-Zeit, in einem Trailer, an einer Art Nicht-Ort also. „Ich will sehen, was jemand bei der Arbeit tut, wenn er nicht arbeitet oder wenn er von einem Ort zu einem anderen unterwegs ist“, erklärte Jarmusch der „Süddeutschen Zeitung“. „In so einem Zwischenraum ist ,Int. Trailer. Night‘ angesiedelt.“
In seinem Schaffen scheint dieser Kurzfilm einem Werk am nächsten, das ebenfalls in der Kurzform begann: „Stranger Than Paradise“ von 1982. Es ist der Film, in dem Jarmusch die undramatische Ereignislosigkeit vielleicht am überzeugendsten umgesetzt hat. Auch hier spielt die Zeit und deren (Nicht-)Verstreichen die Hauptrolle. Man hat wiederum das Gefühl, in eine alltägliche Szenerie eingedrungen zu sein. Der in New York lebende ungarische Einwanderer Bela (John Lurie). ein kleiner Gauner, der versucht, ein waschechter Amerikaner zu sein, bekommt Besuch von seiner Cousine Eva (Eszter Balint, die Tochter des „Squat Theatre“-Mitbegründers Stephan Balint) aus Budapest, die dann nach Cleveland Weiterreisen will. Man sieht die Protagonisten sitzend, liegend, stehend und betreten schweigend – sei es, weil sie genervt sind oder weil sie die richtigen Worte nicht finden können. Fast die gesamte Handlung spielt sich in Belas spartanischer und nicht besonders einladender Wohnung ab. „Manche Leute sagen, meine Filme seien leergeräumt, entvölkert, abstrakt“, erklärte Jarmusch dem amerikanischen Filmhistoriker Tod Lippy. „Das mag stimmen, aber weniger ist für mich mehr. Ich denke dabei an einen schönen Essay von Carl Theodor Dreyer, worin er ausführt, dass die Reduzierung von Elementen in einer Szene hilft, die Persönlichkeit der Personen zu betonen. Was bleibt, hat etwas mit ihnen zu tun. Mit einem voll gestellten Raum ist die Wahrnehmung überfordert, und niemand kann mehr Verknüpfungen herstellen. Wenn man zum Beispiel nur einen Stuhl, einen Tisch und eine Lampe hat, wirkt allein schon die Form und Anordnung dieser Objekte beim Betrachter, denn das sind die Dinge, die unserer Figur zugehören. Solchen Überlegungen schenke ich große Aufmerksamkeit. Ich will kein großes Trara. Ähnlich verhält es sich mit der Frage nach Schwarzweiß oder Farbe. Manche Geschichten lassen sich besser und effektiver schwarzweiß erzählen — es gibt weniger Informationen. Das ist der einzige wirkliche Unterschied, psychologisch gesprochen. Man gibt zum Beispiel keine Information darüber, welche Farbe ein Hemd hat. Das ist eine starke Wirkung. Diese kleinen Dinge bekommen Gewicht.“
Auch „Stranger Than Paradise“ ist in Schwarzweiß gehalten. Jarmuschs Studienkollege und Kameramann Tom DiCillo filmte die Szenen in teilweise quälend langen Plansequenzen, für die es zunächst mal eine ökonomische Erklärung gibt: das Filmmaterial war knapp. Jarmusch hatte insgesamt knapp 45 Minuten zur Verfügung, die von den Dreharbeiten zum Wenders-Film „Der Stand der Dinge“ (in dessen Soundtrack sich übrigens zwei Songs von The Del-Byzanteens finden) übrig geblieben waren. Ein sparsamer Filmemacher hätte daraus vielleicht einen zehnminütigen Film machen können, Jarmusch machte daraus ein halbstündiges Werk, das genau genommen vollkommen ohne Schnitte auskommt. Nach jeder Plansequenz folgt ein Stück Schwarzfilm.
Zwei Jahre später verlängerte Jarmusch „Stranger Than Paradise“ um zwei weitere Episoden zu einem Langfilm. Eva versucht, sich in Cleveland eine neue Existenz aufzubauen, Bela und sein Freund Willie (Richard Edson) besuchen sie dort und fliehen gemeinsam mit ihr nach Florida. Dort kommt Eva durch einen Zufall zu Geld, und Bela landet durch ein Missverständnis in einem Flugzeug nach Budapest. Jarmusch hat das Kammerspiel des ersten Teils in ein minimalistisches Road Movie verlängert, in dem Amerika genauso leer und hässlich erscheint wie zuvor Belas Wohnung.
Zehn Jahre später, als der Regisseur sich in „Dead Man“ der amerikanischen Mythen- und Heldenmaschine schlechthin, dem Western, zuwendet, ist dieses Amerika immer noch präsent. Der sonst helle und weite Westen wirkt eng und dunkel, karg und abstoßend. Auch sonst scheint der Film eine Art Spiegelung von „Stranger Than Paradise“ zu sein. Er beginnt ebenfalls mit einem Aufbruch nach Westen und endet mit einer Art unfreiwilliger Heimkehr über den großen Ozean. Sein Protagonist ist- ebenso wie Bela und Eszter – ein Fremder, der aus dem Osten kommt. Ein blasses Bürschchen in einem geckenhaften Anzug, ein Buchhalter aus Cleveland, der für einen Job in den Westen gereist ist. Verkörpert- oder besser: entkörperlicht von Johnny Depp. William Blake heißt er und schleppt sich nach einer Schießerei, bei der er den eifersüchtigen Sohn des örtlichen Fabrikbesitzers tötet, mit einer – später zwei – Kugeln im Körper durch Robby Müllers unnachahmliche Schwarzweiß-Bilder. An seiner Seite ein unter Weißen aufgewachsener und daher neurotischer Indianer namens Nobody (Gary Farmer), der ihn für den schottischen Dichter William Blake hält.
m Ende des Films ist Blake durch die Zuschreibung anderer tatsächlich eine Art Held geworden. Ein steckbrieflich gesuchter Verbrecher, ein Poet mit der Knarre, der – so wie die Helden in John Fords Western – weder das Leben der Wurzeln schlagenden Siedler annehmen, noch mit den nomadenhaften Indianer leben kann. Auch er ist ein Getriebener, der sein Zuhause schließlich an einem Ort jenseits aller realen Orte, in diesem Fall auf der anderen Seite des großen Meeres, findet.
Nach seiner Western-Version drehte Jarmusch vier Jahre später eine Art Eastern. An der amerikanischen Ostküste, versteht sich. So wie in „Dead Man“ die indianische und weiße Kultur kollidieren und seltsame neue Verbindungen eingehen, erzählt „Ghost Dog. The Way Of The Samurai“ vom Aufeinandertreffen amerikanischer Einwandererkulturen und den dabei entstehenden Resonanzen. Der Protagonist, äußerlich halb buddhistischer Mönch, halb Rapper, lebt nach dem Ehrenkodex der Samurai. Er steht tief in der Schuld des Mafioso Louie 0ohn Tormey), der ihm in der Jugend das Leben gerettet hat, und begeht daher für ihn Auftragsmorde. Als er ein Clan-Mitglied umlegt, weil es eine Affäre mit der viel zu jungen Tochter des Paten hat, und diese Zeuge der Erschießung wird, prallen der Würde des Samurai und der Ehrenkodex der Mafia aufeinander. Die Mafia jagt Ghost Dog, Ghost Dog jagt die Mafia. Doch die Protagonisten stehen sich keineswegs diametral entgegen, sind vielmehr allesamt assimilierte Amerikaner, hören HipHop, lieben Cartoons und fahren Luxuslimousinen. Und wenn sich am Ende Ghost Dog und Louie zum letzten Schusswechsel gegenüber stehen, tun sie dies nach Art des amerikanischen Western.
Das große Thema von „Ghost Dog“ ist nicht Schuld und Sühne, Ehre und Verrat oder Gut gegen Böse. In moralischen Kategorien lässt sich dieser Film nicht fassen. Er zeigt einfach unterschiedliche kulturelle Perspektiven auf, die zu gegensätzlichen Deutungen der Wirklichkeit führen, diese aber stellt Jarmusch – in Anspielung auf Ryunosuke Akutagawas Novelle „Rashomon“ – gleichwertig nebeneinander.
Die Konstellationen der Figuren, die Orte und kulturellen Subtexte, die Verknüpfungen und Spannungen sind in Jarmuschs Filmen viel wichtiger als die Handlung selbst. „Ich arbeite sozusagen rückwärts“, erklärte er mal in einem Interview. „Statt eine Story zu finden, die ich erzählen will, um dann interessante Details hinzuzufügen, sammle ich zunächst die Details und versuche dann, daraus ein Puzzle oder eine Geschichte zu konstruieren. Ich habe ein Thema und eine Stimmung und die Charaktere, aber keinen Handlungsstrang, der von vorne bis hinten durchgeht.“
Auf formaler Ebene wird das besonders deutlich in seinen Episodenfilmen. Etwa in „Mystery Train“ von 1989, der von einem ganz normalen Tag und einer unheimlichen, von den Geistern der Vergangenheit bespukten Nacht in Memphis erzählt, von seltsamen Begegnungen Fremder in einem fremden Land. Verbundenwerden die Episoden durch gemeinsame Handlungsorte, durch Beiläufigkeiten, kleine Details, Songs und den omnipräsenten Elvis Presley. Der Film zieht seine Komik aus scheinbaren Zufallen, Parallelitäten und Wiederholungen und enthalt seinen Zuschauern eine Handlung bis zum Ende hin vor. „Das Erzählen im Kino ist am Ende angekommen. Also fängt Jarmusch dort mit dem Erzählen an“, schrieb Michael Althen in einem Essay zum Film., „Er nimmt die entlegensten Enden, die er finden kann, und folgt den Fäden zu ihrem Anfang. Wenn sie an keinem Punkt zusammenführen, macht das auch nichts. Dann verknotet er sie eben auf denkbar loseste Art.“
War Jarmuschs Herangehensweise an „Mystery Train“ noch weitgehend eine literarische – er war zu der Verschränkung mehrerer autonomer Geschichten durch William Faulkners „The Wild Palms“ inspiriert worden —, was sich auch in den Verknüpfung der einzelnen Episoden zeigt, arbeitete er in „Night On Earth“ von 1991 eindeutig filmisch. Nicht nur spielt er hier mit Referenzen an u.a. Cassavetes, Fellini und Kaurismäki, er eröffnet zudem neue Perspektiven auf Zeit und Zeit-Empfinden, wie dies nur der Film kann. „Night On Earth“ zeigt fünf nächtliche Taxifahrten in Los Angeles, New York, Paris, Rom und Helsinki. (Welt-) Zeit und Situation sind gleich – und dabei doch so verschieden. Während in Los Angeles der Abend dämmert, graut in Helsinki der Morgen, während in New York der ortsunkundige Helmut Grokenberger unsicher durch die Straßenschluchten wackelt, kennt der aufgedrehte Italiener (Roberto Benigni) sein Rom besser als die Zehn Gebote oder die Straßenverkehrordnung und fährt mit Gottvertrauen beschwingt falsch herum in jede Einbahnstraße. „Night On Earth“ ist, wie Andreas Kilb schrieb, „ein Skizzenbuch der unvermeidlichen Verirrungen, der planmäßigen Fehlschläge, der verpassten Geschichten, die dann doch auf so zärtliche wie zwanglose Weise, zu wirklichen Erzählungen werden, zu Gruppenbildern und Porträts im Spiegel dieser einen Nacht.“
Auch „Broken Flowers“ von 2005 ist eigentlich ein Episodenfilm, obwohl er brav linear erzählt und nur eine Hauptfigur besitzt: den von Bill Murray stoisch gespielten alternden Junggesellen Don Johnston. Er ist auf der Suche nach einer Ex-Freundin, die ihm brieflich offenbart hat, er habe mit ihr einen 19-jährigen Sohn. Sein mit großer Neugier ausgestatteter Nachbar, ein Rastafari mit Großfamilie namens Winston (Jeffrey Wright), überredet ihn schließlich, sich auf die Suche nach der Mutter seines Kindes zu machen. So begibt sich Don, der nicht zufällig die Initialen mit „Don Juan“ teilt, auf die Reise und begegnet dabei Frauen mit literarischen Namen wie Lolita (Nabokov), Laura (Petrarca), Dora (Freud) oder Carmen (Bizet) und den dazugehörigen Geschichten. ,“Wenn man .Broken Flowers’… mit Wim Wenders‘ ,Paris, Texas‘ vergleicht, einem anderen Film, der von verlorener Liebe, einem vergessenen Sohn und dem Sichwiederfinden in der Welt handelt, wird klar, warumjarmusch, anders als sein Vorbild Wenders, nie auf die eigene Legende hereingefallen ist“, so Andreas Kilb in der „FAZ“. „Wo Wenders im Kino immer auf dem Weg ist zu sich selbst, ist Jarmusch mit dem Kino unterwegs zu dem, was ihn interessiert.“
Und in der Tat ist das eigentlich Bemerkenswerte an „Broken Flowers“ nicht die Geschichte, sondern (wieder) das Unterwegssein. Genauer gesagt: Es sind Dons endlose Fahrten mit dem Mietwagen über die immer gleich bleibende Schnellstraße, es sind die sterilen Vororte, die er durchquert, und die stillosen Motels, in denen er absteigt. Dies könnte das Amerika aus „Stranger Than Paradise“ sein. 20 Jahre später. Dons einziger Ausweg aus dieser Tristesse ist die CD mit äthiopischer Musik, die ihm Jeffrey zusammengestellt hat.
Die Botschaft dieser von afrikanischen Klängen kolorierten Highway-Szenen ist klar: Durch diese schwarze Beigabe wird der weiße Mythos vom Highway belebt, denn erst das Zusammenspiel unterschiedlicher Kulturen macht Amerika zu einem lebenswerten Ort. Erst wenn es einem möglich ist zu sagen „I’m a stranger here myself“, kann man sich dort wirklich zu Hause fühlen.