SUPERHELDEN WIE WIR
Süsses oder saures?“ rufen die fünf Jungs, als sich die Tür öffnet. Die Hausfrau ist ganz entzückt von der Ha l lowe en-Überraschung:“Oh, schau an, so viele Superhelden auf unserer Veranda.“ Jeder kriegt einen kandierten Apfel – Superman, Batman, sein treuer Gehilfe Robin, The Green Lantern; aber was ist mit dem fünften Jungen? Er trägt eine braune Jacke und ein graues Hemd. „Ich bin Harvey Pekar“, sagt der Kleine mit leidendem Gesichtsausdruck, und die anderen Jungs tuscheln:“Pimmel Pekar, ha ha“. Die Frau ist irritiert.
„Harvey Pekar? Klingt nicht gerade nach einem Superhelden.“ Der Junge schaut sich um, als suche er nach Hilfe, seufzt tief. „Ich bin ja auch kein Superheld. Ich bin ein Junge aus dem Viertel hier, okay?“ Die Frau scheint nicht zu verstehen, und Harvey wendet sich resigniert, ohne kandierten Apfel, ab. „Ach, vergessen Sie’s.“
So beginnt Shari Springer Bermans und Robert Pulcinis halbdokumentarischer Spielfilm „American Splendor“ über Harvey Pekar, den 2010 verstorbenen Selfmade-Comichelden, der seinen Alltag seit Mitte der Siebziger mit Hilfe von Zeichnern wie Robert Crumb und Frank Stark zwischen Buchdeckeln festhielt.
Diese Szene ist ziemlich präsent, als ich mit Chris Ware über die Leipziger Buchmesse flaniere. Um uns herum wimmeln Teenager in Manga-Kostümen mit Schwertern und Äxten, und der Gesichtsausdruck des 45-Jährigen ist verzweifelt pekaresk. Mit seiner Nickelbrille und seiner beigefarbenen Jacke sieht er aus wie ein Studienrat. Einen Comichelden stellt man sich jedenfalls anders vor. Und doch: Eine gewisse Ähnlichkeit zur Titelfigur seiner 2000 in den USA erschienenen Graphic Novel „Jimmy Corrigan. The Smartest Kid On Earth“ ist nicht zu verleugnen -die hohe, in Falten gelegte Stirn, das unauffällige Outfit, die irgendwie kraftlose Körperhaltung.
Jimmy Corrigan ist Mitte 30, lebt wie Ware in Chicago, ist ängstlich und kontaktscheu und flüchtet sich oft in seine kindliche Fantasie. Er hat eine ziemlich dominante Mutter, die ihn ständig anruft; seinen Vater James William Corrigan hat er das letzte Mal gesehen, als er sechs Jahre alt war. Doch dann bekommt er einen Brief, in dem der ihn über Thanksgiving zu sich nach Hause in die Kleinstadt Waukosha einlädt, und Jimmy macht sich auf den Weg. James gibt sich jovial, doch sein Sohn fremdelt, ist unsicher und umständlich, schweigt und stottert, hat Mordfantasien und Albträume. Am liebsten würde er flüchten, doch paralysiert erträgt er jede emotionale Konfrontation, begegnet seiner adoptierten Stiefschwester Amy und seinem uralten Großvater Jimmy Reed Corrigan, dessen tragische Kindheit Ware u.a. vor der beeindruckenden Kulisse der zukunftsberauschten Weltausstellung in Chicago von 1893 erzählt: seine Mutter starb bei der Geburt, sein Vater verstieß ihn, als er fünf war. „Jimmy Corrigan“ könnte auch „100 Jahre Einsamkeit“ heißen.
Als Chris Ware 1993 begann, diese Geschichte in Fortsetzungen zunächst als wöchentlichen Comicstrip in der Chicagoer Zeitung „New City“ und dann in seiner eigenen Comicreihe „The ACME Novelty Library“ zu publizieren, hatte er seinen eigenen Vater noch nie gesehen. Er habe sich mit dieser Arbeit wohl für ein mögliches Treffen wappnen wollen, indem er die Situation zunächst auf dem Papier durchspielte, schrieb er im Nachwort der Buchausgabe, die nun in einem prächtigen Band endlich auch in deutscher Sprache vorliegt. „Als emotionaler Versager, der ich halt bin, habe ich mein Alter Ego vorgeschickt“, sagt Ware, der dazu neigt, sich immer in einem besonders miesen Licht darzustellen, sodass man die dahinterliegende Selbstironie manchmal kaum ausmachen kann. Man muss schon in die leuchtenden Augen seiner Leser oder auf die vor Verehrung glühenden Kritiken schauen, die in den vergangenen Wochen auch zur deutschen Veröffentlichung von „Jimmy Corrigan“ erschienen sind, um in dem leptosomen Zeichner einen Helden zu erkennen.
Als Jimmy Corrigan seinen Vater schon gefunden hatte und die Geschichte bereits zu großen Teilen erschienen war, bekam Ware übrigens tatsächlich einen Anruf von seinem verschollenen Erzeuger. Doch der starb kurz darauf, sodass es zu keinem Treffen zwischen den beiden mehr kam.
Das Schicksal, ohne Vater aufgewachsen zu sein, teilen Chris Ware und sein gezeichnetes Alter Ego mit vielen Comichelden. Einer von ihnen hat auch zwei Gastauftritte in „Jimmy Corrigan“. Gleich zu Beginn steht der kleine Jimmy bei einer Comic-Convention für ein Autogramm eines Superman-Darstellers an, der sich dann ins Bett seiner Mutter charmiert. 30 Jahre später, der Brief des Vaters ist gerade eingetroffen, sieht Jimmy einen Selbstmörder in blauem Anzug mit rotem Umhang von einem Hochhaus in die Tiefe springen.
„Als ich an dem Buch arbeitete, dachte man bei Comics immer noch vor allem an Superhelden“, erklärt Ware. „Da schien es mir eine gute Idee, mit diesem Klischee zu spielen. Und natürlich ist das auch ein wichtiges Motiv in dieser Geschichte. Es ist wohl kein Zufall, dass Superhelden ihre goldene Ära zur Zeit des Zweiten Weltkrieges hatten. Während die Väter in Europa kämpften, dienten die Superhelden als Vaterersatz. Und das setzte sich dann in den Nachkriegsjahren fort, als durch die erste Scheidungswelle viele Kinder ohne Väter aufwuchsen. Das gilt auch für Jimmy Corrigan.“
Natürlich ist „Jimmy Corrigan“ keine Superheldengeschichte. Ware ist der wohl zurzeit wichtigste Vertreter der alternativen US-Comicszene, deren Protagonisten seit den Achtzigern nach anspruchsvolleren und zugleich alltagstauglicheren Geschichten suchen als dem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse in lustigen Kostümen. Aber Ware ist auch ein Nostalgiker, für ihn sind Superman, Batman und Co. ein ziemlich realer Teil seiner Kindheit und Jugend. Da geht es ihm ähnlich wie Dylan Ebdus und Mingus Rude aus Jonathan Lethems autobiografischem Roman „Die Festung der Einsamkeit“ von 2003, die ihre Comicbegeisterung auf das Brooklyn der 70er-Jahre projizieren. Auch Michael Chabon erzählt in seinem etwa zur gleichen Zeit wie „Jimmy Corrigan“ entstandenen „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay“ anhand eines jüdischen (und vaterlosen) Comicautoren-Duos im New York der 40er-Jahre von der Parallelität zwischen Superhelden-Comics und Realität.
„Chabon und Lethem sind emblematisch für einen neuen Typ des öffentlichen Denkers“, meint Daniel Clowes, der die alternative Comicszene mit seinem Magazin „Eightball“ seit den späten Achtzigern entscheidend mitprägte. „Sie haben in ihrer Jugend Robert Crumb oder Art Spiegelman, die ,Love &Rockets‘-Reihe, das ,Raw‘-Magazin und ,Eightball‘ gelesen und sind mit der Idee aufgewachsen, dass Comics nicht notwendigerweise nur ein Medium für Kinder sind, sondern durchaus ihren Platz zwischen den Künsten haben. Plötzlich interessieren sich auch Journalisten und Akademiker für unsere Arbeiten. Das ist einfach eine neue Generation. Meine Eltern haben in ihrer Zeit Comics eher als minderwertiges Entertainment wahrgenommen.“
Der 1961 in Chicago geborene Clowes wuchs nach der Scheidung seiner Eltern -wie Ware, Jimmy Corrigan und Superman -ohne Vater auf. Und auch
Der hat sich in der gerade in deutscher Sprache erschienenen Graphic Novel „Der Todesstrahl“ („The Death Ray“) dem Superhelden-Genre gewidmet:
Andy, ein schmalschultriger, bei seinem Großvater lebender Nerd, wird von seinem einzigen Freund, dem toughen Louie, zum Rauchen genötigt und entwickelt daraufhin nach anfänglicher Übelkeit Superkräfte. Sein verstorbener Vater, ein Wissenschaftler, hatte ihn als Kind mit einem Hormon behandelt, dessen magische Wirkung durch Nikotin aktiviert wird und ihn nicht nur wahnsinnig stark macht, sondern ihm auch die Fähigkeit gibt, mit einer Strahlenpistole Menschen für immer verschwinden zu lassen.
Eine sehr clevere Variation des Superhelden-Themas, aber wie eine Story von Daniel Clowes klingt das noch nicht. Übernatürliches, gar Metaphysisches findet bei ihm normalerweise nicht statt, alle Illusionen, die sich seine Figuren in dieser Hinsicht machen, enttarnt er mit diebischer Freude und schwarzem Humor, denn sein Metier sind menschliche Schwächen, nicht Superkräfte. Besonders komisch und zugleich anrührend ist ihm das in seiner bis heute erfolgreichsten Graphic Novel (er mag das Wort überhaupt nicht -„too pretentious“) „Ghost World“ gelungen, die von Terry Zwigoff überaus erfolgreich mit Steve Buscemi, Thora Birch und der jungen Scarlett Johansson verfilmt wurde und einen regelrechten Comic-Boom unter postadoleszenten Literaturfreunden auslöste.
„, The Death Ray‘ basiert auf einer Geschichte, die ich mir mit 15 oder 16 ausgedacht habe“, verrät Clowes über die Entstehung seines 2004 erstmals in „Eightball“ erschienenen Comics. „Ursprünglich war das ein Abklatsch der frühen Spider-Man-Geschichten von Steve Ditko, aber als ich mich entschied, damit zu arbeiten, stellte ich mir die Frage, was wohl die allerschlechteste Idee wäre, die mir dazu einfallen könnte. Ich dachte mir also, ich könnte versuchen, einen realistischen Superhelden-Comic zu zeichnen. Jeder, dem ich davon erzählte, fand die Idee vollkommen bescheuert. Das schien mir ein gutes Zeichen.“
Und so setzt Clowes seinen Helden Andy zwischen die Stühle von Fiktion und Wirklichkeit; am Ende ist es ein moralisches Dilemma. Wie alle Superhelden will er aus der Welt einen besseren Ort machen -aber er hat ernste Zweifel, ob ihm seine übernatürlichen Gaben dabei helfen können. Nur weil er von seinen Mitschülern nicht sonderlich gemocht wird, scheint es doch ein bisschen unverhältnismäßig, sie gleich alle zu eliminieren. Zum großen Ärger seines besten Freundes Louie kommt er zu dem Schluss, dass Superhelden der Welt nicht wirklich weiterhelfen.
„Der Todesstrahl“ ist ein tiefsinniges, in schonungslosem Realismus geerdetes Spiel mit Genres und Stilen, und ein fantastisches Antihelden-Epos mit einer Clowes-typischen Moral: Es gibt keinen Ausweg aus dem irdischen Schlamassel. „Ich bin in der schlimmsten Dekade des urbanen Amerikas aufgewachsen“, sagt der Autor. „Die Kriminalität war außer Kontrolle und jede Großstadt schien sich in den Film ,Escape From New York‘ zu verwandeln -macht einfach eine Mauer drum und überlasst es den Gangstern. Das hatte einen großen Einfluss auf die Art und Weise, wie ich die Welt sehe.“
1992 hat Clowes Chicago, „diese absurde Stadt“, verlassen und ist ins kalifornische Oakland gezogen. Es sei eine Herausforderung, vor der pittoresken Kulisse, zwischen gesunden, fitnessgestählten Menschen eine Geschichte zu zeichnen, die sich nicht von der Oberflächlichkeit anstecken lässt, sagt er. „Aber ich denke, meine Vergangenheit hilft mir dabei.“ Dazu schöpft er nicht nur aus einer Erinnerung an den großstädtischen Verfall, sondern auch aus der großen Comicsammlung, die ihm sein zehn Jahre älterer Bruder hinterließ, der sehr früh schon, kurz nach der Scheidung der Eltern, das Haus verließ. „Er hatte alles von ,MAD‘ über Science-Fiction bis Marvel“, so Clowes. „Die Marvel-Erstausgaben, die heute ein Vermögen wert sind, habe ich mir damals über den Kopf gehalten, wenn es anfing zu regnen. (lacht) Ich war schon in jungen Jahren mit der großen Bandbreite des Comicgenres vertraut und habe schon sehr früh verstanden, auf welche Weise diese Bilder Geschichten erzählen. Und ich glaube auch, dass vielen der heutigen Comiczeichner, die eher von der Illustration her kommen, genau diese Erfahrung fehlt. Man merkt das an der Art, wie sie Geschichten erzählen. Das wirkt immer irgendwie unnatürlich.“
Er sei auf der Suche nach der Einfachheit, die Charles M. Schulz mit den „Peanuts“ oder Carl Barks in seinen Arbeiten für Disney erreicht haben, sagt er. „Man kann diese Sachen nicht nicht lesen, wenn man sie sieht. Das ist mein Ideal. Wenn ich mir meine frühen Sachen anschaue, denke ich immer:,Wer hat denn schon Lust auf diese ellenlangen Texte?‘ Ich will, dass der Leser alle Wörter auf einer Seite mit einem Blick übersehen kann und zu lesen beginnt, ohne vorher darüber nachzudenken.“
Höhepunkt dieser neuen Simplizität ist sicher „Wilson“ von 2010, das in einseitigen Strips pointierte Episoden aus dem Leben des gleichnamigen, ziemlich unangenehmen, pedantischen und misanthropischen Protagonisten erzählt. Die Idee dazu kam Clowes, als er am Totenbett seines Vaters David Michaelis‘ Biografie „Schulz And Peanuts“ las. Jede Seite von „Wilson“ hat er in einem anderen Stil gezeichnet und so die Komplexität vom Text in die Bilder verlegt. „Seine Bücher zu lesen ist weniger wie ein opulentes Mahl zu verspeisen, sondern eher wie wenn man eine Pille schluckt“, hat Chris Ware über Clowes geschrieben. „Man wird sie nicht notwendigerweise schmecken, man wartet einfach auf die Wirkung.“
„Wilson“ war Clowes‘ erste Veröffentlichung seit seinem Debüt „Lloyd Llewellyn“, die ihren Ursprung nicht in „Eightball“ hatte. „Die beiden letzten Ausgaben des Magazins waren ganz ,The Death Ray‘ und ,Ice Haven‘ gewidmet -zwei Geschichten, die eigentlich sofort als Buch hätten erscheinen sollen und nicht in einem Format, das für kurze Strips und Fortsetzungsgeschichten gedacht war und nicht mal in Buchläden vertrieben wurde. Deswegen habe ich mich entschieden, die Reihe aufzugeben und mich ganz den längeren Sachen zu widmen.“
Nach dem Ende von „Eightball“ ist neben „Wilson“, das auch auf Deutsch vorliegt, noch der Band „Mr. Wonderful“ erschienen, eine nur scheinbar romantische, mit der für den Autor typischen Ironie erzählte Liebesgeschichte, die Clowes für das „New York Times Magazine“ zeichnete. Auffällig, dass in beiden Bänden nicht mehr länger Teenager die Hauptrolle spielen. „Schon seltsam, ich habe mich direkt von der Adoleszenz auf schrullige alte Männer verlegt“, bemerkt Clowes. „Junge Erwachsene, zwischen 25 und 40, interessieren mich irgendwie nicht so richtig. Was ja schon ein bisschen seltsam ist, wo doch diese Altersgruppe in Filmen und in der Werbung die größte Rolle spielt. Aber mir fällt dazu einfach nichts ein.“
Zurzeit arbeite er an der längsten Geschichte seiner Karriere, sagt er. Genaueres will er aber nicht preisgeben. „Wenn ich es erkläre, klingt es so bescheuert, dass ich gleich damit aufhören muss.“ Ob er etwa gerade an der Great American Graphic Novel sitze, will ich wissen, doch er lacht nur höhnisch. „Das wird nicht passieren. Niemals. Immer, wenn ich versuche, an etwas Großem und Bedeutungsvollem zu arbeiten, zwinge ich mich irgendwann, damit aufzuhören und das genaue Gegenteil davon zu tun. Ich finde einfach, es ist der falsche Antrieb, etwas zu machen, nur damit es im ,New York Review Of Books‘ besprochen wird. Ich will kein geordnetes Kunstwerk erschaffen, sondern etwas, das sich anfühlt wie eine Naturgewalt. Man soll als Leser hineingezogen werden in die Welt des Comics, die zwei Buchdeckel vergessen und Teil der Geschichte werden.“
Das liest sich ein bisschen wie der Gegenentwurf zu den ambitionierten, kühlen Werken von Chris Ware. Die beiden kennen sich seit Anfang der Neunziger, als sie sich mit anderen Zeichnern, unter ihnen auch der spätere The-Sea-And-Cake-Keyboarder Archer Prewitt, in einem kleinen Coffee Shop zur „Mini Comics Night“ trafen und jedes greifbare Papier -Flyer, Poster, Speisekarten -mit skurrilen Zeichnungen versahen. „Chris ist ein besonderer Fall“, sagt Clowes. „Er liebt es einfach, 10,15 Jahre an ein und demselben Riesenprojekt zu arbeiten. Das könnte ich nicht. Ich muss alle paar Jahre etwas völlig anderes tun. Die Veränderung hält mich bei der Arbeit. Oder sagen wir: die Illusion der Veränderung. Im Endeffekt sind sich meine Sachen natürlich dann doch alle sehr ähnlich.“
„Ich fühle mich tatsächlich am besten, wenn ich weiß, dass ich zu einer Story zurückkehren kann, die ich schon gut kenne und von der ich weiß, in welche Richtung sie geht“, bestätigt Ware. „Manchmal denke ich natürlich schon, ich sollte mal etwas anderes versuchen, aber zugleich will ich eine Geschichte so fein und so dicht weben, wie es mir nur möglich ist. Das braucht Zeit. Mit kürzeren Büchern fühle ich mich nicht besonders wohl.“
So hat es dann auch nach „Jimmy Corrigan“ ganze zwölf Jahre gedauert, bis Ware das nächste Großprojekt beendet hatte. „Building Stories“ erschien im Herbst vorigen Jahres in den USA. Allein das Format ist schon beeindruckend: ein großer Karton, in dem man eher ein 5000-teiliges Puzzle vermuten würde als eine Graphic Novel. Und so falsch ist das auch gar nicht, denn „Building Stories“ besteht aus 14 Teilen -Comicbüchern, Zeitungen, Heften, Strips und einer ausklappbaren, spielbrettartigen Pappe. Zusammen erzählen diese Artefakte die Geschichte eines Mietshauses und das Leben einer jungen Frau – Tochter, Unfallopfer, Babysitterin, Kunststudentin, Freundin, einsame Blumenverkäuferin, Mutter. Ein Werk der Formen und der Körper. „Wir leben nun mal in Gebäuden, in geschlossenen, mehr oder weniger kontrollierten Strukturen“, erklärt Ware. „Und ein Buch ist rechteckig wie ein Haus, die Seiten sind die größte Maßeinheit, und die Panels unterteilen die Seite und reflektieren zugleich das große Ganze -so wie die Zellen eines Körpers. Das Buch wächst aus diesen Seiten. So gesehen ist ein Buch auch immer eine Architektur.“
„Building Stories“ wird (noch) weniger von einer Handlung angetrieben als „Jimmy Corrigan“ – es geht noch radikaler um Räume, Relationen, Orte, Erinnerungen und Emotionen. „In den Neunzigern habe ich in Chicago in einer Wohnung gelebt, die für mich immer noch mit einem bestimmten Gefühl verbunden ist, das ich nicht näher beschreiben kann. Dieses Gefühl heraufzubeschwören, ist sicherlich ein Antrieb hinter ,Building Stories‘ gewesen“, so Ware. „Unser Gehirne sind ja konstruiert, um Informationen aufzunehmen, zu sortieren und zu erklären und sie dann in Form von Gefühlen zu uns zurückzusenden, damit wir schnell handeln können. Es ist die Aufgabe des Künstlers, diesen Weg zurückzuverfolgen und so Emotionen auszulösen. Man kann die Gefühle des Lesers natürlich nicht kontrollieren, sollte man auch nicht. Aber man sollte dafür sorgen, dass die Leseerfahrung so reichhaltig wie möglich ist, damit der Leser aus den Informationen, die man ihm gibt, eigene Gefühle gewinnt.“
Die Akribie, mit der Ware Wahrnehmungen und Emotionen auseinandernimmt, hat er nicht anhand von Comics gelernt, sondern durch seine Liebe zur klassischen Literatur. Leo Tolstoi, Eudora Welty und Carson McCullers hätten ihm gezeigt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, sagt er, „und natürlich James Joyce. Er ist vermutlich der realistischste Autor, der jemals gelebt hat.,Ulysses‘ ist ein sehr realistischer Versuch, einen Eindruck davon zu vermitteln, was es bedeutet, ein menschliches Gehirn und einen menschlichen Körper zu bewohnen. Und das ist auch mein Ziel: zu beschreiben, wie es sich anfühlt, ein Bewusstsein zu haben, zu vermitteln, wie es sich anfühlt, zu leben.“
Die britische Autorin Zadie Smith erklärte kürzlich bei einem Gespräch mit Ware in der New York Public Library, die Darstellung von Wahrnehmung und Erinnerung in „Jimmy Corrigan“ habe Teile ihres (übrigens ziemlich fantastischen) neuen Romans „NW“ beeinflusst.
Er stelle sich selbst immer als Schriftsteller vor und nicht als -so die offizielle englischsprachige Berufsbezeichnung -Cartoonist, sagt Ware, „und dann fällt mir ein: Warte mal, ich zeichne ja auch noch.“ Man könnte auch sagen, er schreibt mit dem Zeichenstift und malt mit Worten, denn in seinen Werken gehen Text und Bild eine merkwürdige Synthese ein. Die Buchstaben kriechen förmlich in die Zeichnungen, sind ebenso sehr Ornament, wie die klaren, in lyrischen Rhythmen auf der Seite arrangierten Formen Schrift sind. Der Unterschied zwischen bildender Kunst und Comics sei, dass man Kunst anschaue und Comics lese, sagt Ware. Dem versuche er mit seinen schematischen Zeichnungen Rechnung zu tragen. Sie sollten die Lektüre nicht stören oder aufhalten.
Auf die Spitze treibt Ware seinen Realismus im aktuellen Band seiner „ACME Novelty Library“. Hier erzählt er in gut 70 wie in Bernstein eingeschlossenen Momenten die Lebensgeschichte von Jordan Wellington Lint, einer Nebenfigur seines mittlerweile auf über 250 gezeichnete Seiten angewachsenen Projekts „Rusty Brown“. „Es ist mein Versuch, eine Person zu verstehen, indem ich die Entwicklung ihres Bewusstseins reproduziere“, sagt Ware. „Umgangssprachlich könnte man auch sagen: Es ist ein James-Joyce-Rip-Off.“
Der wahre Superman, die große Vaterfigur im Werk von Chris Ware scheint also wohl der Autor des „Ulysses“ zu sein. „Man kann jedenfalls viel lernen von ihm“, sagt er. „Wenn es aber einen Künstler gibt, dessen Hand ganz unmittelbar, auf ehrliche und unprätentiöse Weise Gefühle auslösen konnte, dann war es die von Charles Schulz. Wenn man Charlie Brown anschaut, fühlt man Charlie Brown. Das ist unerreicht.“
Für sein über 18.000 Strips umfassendes Werk hat Schulz 50 Jahre gebraucht. Verglichen damit sind Chris Wares zeitraubende Großprojekte nun ja Peanuts.
BILDER ZUM LESEN
VIER MEISTERWERKE DER AMERIKANISCHEN GRAPHIC NOVEL, DIE IN DEUTSCHER SPRACHE VORLIEGEN
EIN VERTRAG MIT GOTT
WILL EISNER
In „Ein Vertrag mit Gott“ und den beiden Folgebänden der gleichnamigen Trilogie erweckt Eisner den Straßenzug in der Bronx wieder zum Leben, an dem er seine Kindheit verbrachte. Er erzählt von Emigrantenschicksalen, Gott und dem Sinn des Lebens. Der Alte Meister des Comics bricht in diesen vier Kurzgeschichten die klassische Form auf und zeigt neue erzählerische Möglichkeiten. (Carlsen)
MAUS
ART SPIEGELMAN
In dieser dunklen, zunächst in zwei Teilen erschienenen Graphic Novel erzählt Art Spiegelman die Geschichte seiner Eltern Wladek und Anja, die den Holocaust überlebten. 1992 erhielt er den Pulitzerpreis für die Fabel über den Schrecken und das Leben danach, in der die Juden als Mäuse und die Nazis als Katzen dargestellt werden. (Fischer)
BLACK HOLE
CHARLES BURNS
Coming-of-Age als Horrorstory. Jugendliche im Seattle der Siebziger infizieren sich über Körperflüssigkeiten mit einem geheimnisvollen Virus und leben als Aussätzige. American Gothic mit scharfem Strich und schneidendem Humor. (Reprodukt)
ASTERIOS POLYP
DAVID MAZZUCCHELLI
Als sein New Yorker Apartment abbrennt, bricht der schneidige Architektur-Professor Asterios Polyp mit dem Greyhound-Bus ins amerikanische Nirgendwo auf und sucht sich einen Job als Automechaniker. Mazzucchelli ist ein Erbe Eisners und Updikes, bildgewaltig und schonungslos. (Eichborn)