Wings: „Band On The Run“ war ein Voodoo-Akt für Paul McCartney
So bedeutungsvoll hatte ein Beatle seit „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ nicht mehr geklungen.
Ausgerechnet Paul McCartney, der musikalisch versierteste Beatle, hatte nach dem Ende der Band zunächst die größten Schwierigkeiten beim musikalischen Neuanfang. Er war verliebt in die Idee der Fab Four, wollte und konnte nicht loslassen und war zugleich derjenige, der durch seine Klage gegen den verhassten Manager Allen Klein und seine ehemaligen Bandkollegen die Trennung besiegelte. Er verfiel in tiefe Depressionen, verschanzte sich mit seiner Familie in einer verfallenen Hütte in Schottland und tat es dem anderen großen Genie des Pop – Brian Wilson – gleich, indem er die Tage im Bett verbrachte. Doch irgendwann sprang der kreative Motor wieder an, der die Beatles in den letzten Jahren am Laufen gehalten hatte.
Die Kritiker sahen in McCartney allerdings den Übeltäter, der der größten Band der Welt den Todesstoß versetzt hatte, und ließen kein gutes Haar an seinen Alleingängen. Dabei war „McCartney“ mutig, „Ram“ genialisch und das erste raue Werk mit seiner neu gegründeten Band Wings, „Wild Life“, durchaus charmant. Doch jedes dieser Alben verkaufte jeweils weniger als sein Vorgänger. Lennon, Harrison und kurzzeitig sogar Starr schienen den Mann für die großen Melodien und einschmeichelnden Balladen kommerziell zu überflügeln.
Da zog McCartney die Notbremse, brach seine emanzipatorischen Experimente ab, um den öffentlichen Erwartungen an den unbekümmerten, leichtfüßigen, romantischen Beatle Paul zu entsprechen und sich selbst zu beweisen, dass er dazu noch in der Lage war. Das ursprünglich als Doppelalbum geplante zweite Wings-Album, „Red Rose Speedway“, strich er auf eine konzise LP zusammen, und schickte den Schmachtfetzen „My Love“ als Vorhut.
Der Erfolg gab ihm Recht. Der von George Martin produzierte, bombastische James-Bond-Song „Live And Let Die“ versöhnte ihn kurz darauf schließlich auch mit den Kritikern. McCartney schien wieder in der Spur zu sein, die Wings hatten sich etabliert.
Zweifel am afrikanischen Abenteuer
Das nächste Album sollte der große Wurf werden. Aufnehmen wollte McCartney es im nigerianischen Lagos – „tagsüber am Strand liegen, abends ein bisschen Musik machen“. Eine seiner typischen naiven Hippie-Ideen – Militärdiktatur, Cholera-Epidemie und der westafrikanische Monsun kamen ihm nicht in den Sinn. Gitarrist Henry McCullough und Schlagzeuger Denny Seiwell, die beide schon länger nach einem Grund für einen Ausstieg suchten, weil McCartney sie finanziell äußerst knapp hielt, nahmen den gefährlichen Trip zum Anlass, die Band zu verlassen.
Und so trafen sich am 8. August 1973 nur McCartney, seine Frau Linda, der treue Denny Laine und Toningenieur Geoff Emerick am Flughafen in London-Gatwick. Allmählich kamen auch ihnen erste Zweifel an ihrem afrikanischen Abenteuer. Die verstärkten sich wohl noch, als McCartney im Cockpit vom hilflosen Piloten gefragt wurde, ob er vielleicht irgendwo da unten im nebligen Dschungel die Landebahn erkennen könne.
Die wurde zwar gefunden, aber der Weg zum Meisterwerk blieb holprig. Das Studio in Lagos war recht spartanisch eingerichtet und genügte den Beatle-Ansprüchen erstmal nicht, zudem wurden die McCartneys Opfer eines bewaffneten Überfalls, bei dem sie zwar mit dem Leben davonkamen, doch die Demobänder mit ihren neuen Songs konnten sie nicht retten. Und so mussten sie die Lieder aus dem Gedächtnis rekonstruieren.
Vor allem in der neuen Version von „Band On The Run“ haben der Schock und die Paranoia nach dem Überfall in den Zeilen „Well, the night was falling as the desert world began to settle down/ In the town they’re searching for us every where, but we never will be found“ ihre Spuren hinterlassen. Die McCartneys versuchten, ihre Angst vor weiteren Übergriffen mit Gras zu bekämpfen. Keine gute Idee, wie jeder weiß, der schon mal einen chronischen Kiffer in freier Wildbahn begleitet hat. Paul brach nach einer vermutlich durch übermäßigen Marihuana-Konsum ausgelösten Panikattacke zusammen und landete erst mal im Krankenhaus.
Besuch bei den Imperialisten
Aber nur weil jemand paranoid ist, heißt das ja nicht, dass er nicht auch verfolgt wird. Fela Kuti startete eine kleine Hetzjagd auf die Wings und beschuldigte sie öffentlich, die afrikanische Musik für kommerzielle Interessen auszubeuten – 13 Jahre vor Paul Simons „Graceland“. Der durch seinen Aufenthalt in den USA und seine Kontakte zur Black-Power-Bewegung politisierte Afro-Beat-Star suchte gar die direkte Konfrontation und stellte die vermeintlichen britischen Imperialisten im Studio. McCartney konnte ihn beruhigen, indem er ihm seine Aufnahmen vorspielte – besonders afrikanisch klangen die nicht. Ginger Baker kam ebenfalls, allerdings in friedlicher Mission, zu Besuch, zeigte sich begeistert von McCartneys Schlagzeugspiel und lud die Wings in sein Studio im nigerianischen Ikeja ein.
Als die McCartneys, Laine und Emerick Ende September 1973 nach London zurückkehrten, waren sie um viele Erfahrungen und ein klassisches Album reicher. Das am 5. Dezember in den USA und am 7. Dezember in Großbritannien veröffentlichte „Band On The Run“ sollte das erste McCartney-Post-Beatles-Werk werden, auf das sich Kritiker und Käufer gleichermaßen einigen konnten. Vermutlich, weil es an frühere Großtaten erinnerte, ohne die alten Erfolgsformeln zu einfach zu reproduzieren. Heute nennt man sowas Neuerfindung. Für McCartney war es einfach Alltag. Er kannte es von den Beatles nicht anders – bei jedem Album wurden die Karten neu gemischt.
Der Titelsong und „Picasso’s Last Words (Drink To Me)“, das McCartney in Jamaika am Set von Franklin J. Schaffers „Papillon“ komponierte, um Dustin Hoffman zu beweisen, dass er über jedes Thema im Handumdrehen ein Lied schreiben konnte, machten in ihrer sinfonischen Struktur dort weiter, wo die Beatles auf „Abbey Road“ einst aufgehört hatten. „Jet“ war die überaus überzeugende Wings-Antwort auf Glam-Rock, die Lennon-Pastiche „Let Me Roll It“ wurde allgemein als Friedensangebot an den einstigen Freund gedeutet.
„Bluebird“, „Mrs. Vanderbilt“ und „Mamunia“ klangen für den Nicht-Afrikaner angenehm exotisch, ohne die von Fela Kuti gesetzten Grenzen zu verletzen, und „Nineteen-Hundred And Eighty-Five“ beschloss das Album majestätisch. So groß und bedeutungsvoll hatte ein Beatle seit „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ nicht mehr geklungen. Und auch das Cover von „Band On The Run“ – die Bande auf der Flucht, mit den prominenten Gesichtern von James Coburn und Christopher Lee – schien subtil auf dieses Meisterwerk anzuspielen.
Zum zweiten Mal war ihm eine Band davongelaufen, zum zweiten Mal war er kurz davor, alles hinzuwerfen, doch am Ende stand der Triumph. Mit „Band On The Run“ gelang es McCartney, dem Schatten der Beatles zu entfliehen und die Geister der Vergangenheit in einem irren Voodoo-Akt auszutreiben. Bald würde es in den USA eine Wingsmania geben.
>>> Alles zum 2024er-Reissue von „Band on the Run“ hier.
McCartney über Fela Kuti:
„Band On The Run“