Revolver reloaded
DER SÄNGER ERINNERT sich: Zwei Jungen, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, die Gitarren geschultert, das Haar mit Vaseline (!)zurückgekämmt wie auf den Fotos, die im Plattenladen hängen, laufen die Straße entlang und spielen den Leuten ihre Lieder vor -„so many times I had to change the tears into laughter/Just to keep from getting crazy“. So beginnt „Early Days“, ein anrührendes Folkstück, in dem Paul McCartney seine Geschichte zurückerobert, denn er war, so singt er, im Gegensatz zu all den selbst ernannten Beatles-Experten ja wirklich dabei, in den frühen Tagen, als alles passierte – „they can’t take that from me/I lived through these early days“.
Der Song ist einer der Höhepunkte auf Paul McCartneys am 11. Oktober erscheinenden Album „New“. Der etwas profane Titel deutet zwar in die Zukunft, doch nach einem ersten Höreindruck in einem kleinen Plattenfirmenbüro kann man wohl sagen, dass der 71-Jährige in seinem Solowerk noch nie so viele Beatles-Harmonien, „Revolver“-Rückwärtsgitarren und Erinnerungsspuren zugelassen hat wie hier.
Bevor falsche Hoffnungen aufkommen: Wie ein Beatles-Werk klingt das erste neue McCartney-Album mit eigenen Pop-Songs seit „Memory Almost Full“ von 2007 trotzdem nicht. Doch es scheint mehr zu wollen als der Vorgänger, ist frischer, moderner und überraschender. Das liegt sicher auch an den vier Produzenten, die McCartney bei den 13 neuen Stücken (eines davon ist ein hidden track) geholfen haben. Neben Mark Ronson (Amy Winehouse, Rufus Wainwright) und Paul Epworth (Adele) sind die Söhne zweier Beatles-Mitarbeiter darunter: George Martins Sohn Giles und Ethan Johns (Laura Marling, Kings Of Leon), Sprössling von Glyn.
Er habe nach dem wilden Experimentalwerk „Electric Arguments“ (2008) mit seinem Projekt The Fireman und der klassischen Songrevue „Kisses On The Bottom“ aus dem vergangenen Jahr für seine Rückkehr zum zeitgenössischen Pop verschiedene Produzenten ausprobieren wollen, erklärte McCartney in einer US-Radioshow. „Am Ende haben mir alle vier gefallen -wir hatten auf ganz unterschiedliche Art und Weise eine gute Zeit. Jeder von ihnen hatte einen anderen Ansatz.“ Naturgemäß kann „New“ bei so vielen Köchen kein Album aus einem Guss sein wie das ähnlich ambitionierte „Chaos And Creation In The Backyard“ von 2005, bei dem Radiohead-Produzent Nigel Godrich nicht nur strenge Qualitätskontrolle betrieb, sondern auch alles herausfilterte, was nicht zur ihm vorschwebenden wohltemperierten Alterswerkästhetik passte. Auf „New“ scheint alles erlaubt zu sein. Mit Epworth improvisierte McCartney die Songs – ähnlich wie bei The Fireman mit Youth – im Studio, mit Martin versucht er sich einige Male an einer rauen Mischung aus Rock und zeitgenössischem R’n’B, Johns ist für intimen Folk und Psychedelia zuständig und Mark Ronson, wie man bereits auf dem vorab veröffentlichten Titelsong hören kann, für Pop und Finesse. Neben „Early Days“ und „New“ blieben beim ersten Hören vor allem zwei Songs hängen, die den Eklektizismus dieses Albums ganz gut auf den Punkt bringen. Das schrullige, an Ray Davies erinnernde „On My Way To Work“ erzählt von einem Mann, der sich auf dem Weg zur Arbeit ein Magazin kauft, in dem sich ein „pretty girl from Chichester“ entkleidet hat. Das sakrale „Hosanna“ ist ein romantischer Wiedergänger von „Tomorrow Never Knows“ und vermutlich das beste Stück auf einem Album, das Wehmut und Wucht, Beatles und Beats, Pop und Experiment vereint. Wie gut das gelungen ist, lesen Sie in unserer nächsten Ausgabe.
McCartney entstaubt Beatles-Harmonien und Rückwärtsgitarren