Paradiese aus Vinyl

Am 10. Oktober beginnt die dritte deutsche Plattenladenwoche. Ein Zeichen dafür, wie lebendig die Kultur des Musikkaufens ist. Unser Special berichtet über die derzeitige Lage der Händler, dazu stellen Musiker ihre Lieblingsläden vor.

Musiker-Interviews: Torsten Groß

Vor einigen Monaten erteilte Christof Jessen, Miteigentümer des Hamburger Plattenladens Michelle Records, dem Abfindungsmillionär Dirk Jens Nonnenmacher eine Abfuhr. „Der schlurfte hier rein, aber ich wollte ihm nichts verkaufen“, erinnert sich Jessen. Der Banker, der die HSH Nordbank in Turbulenzen gewirtschaftet hatte, sei damals etwas überraschend mit einer Eric-Clapton-CD an der Kasse des in der Hamburger Innenstadt gelegenen kleinen Plattenladens gestanden. Ihm gegenüber saß der verblüffte Musikhändler und verweigerte das Geschäft.

Christof Jessen, 47, ist ein eher stiller, freundlich wirkender Mensch mit tief ins Gesicht gezogener Baseballkappe und bedächtiger Stimme, dem man schroffe Reaktionen eher nicht zutraut – und er rechtfertigt sich auch umgehend, fast beschämt, für die Nonnenmacher-Abfuhr. Er habe den unerwarteten Kunden erst mal ungläubig beobachtet. Und als er sicher war, um wen es sich da handelte, traf er eine Entscheidung, weil für ihn eine Grenze erreicht war: „Ich reiße mir hier jeden Tag den Arsch auf, gehe mit echt wenig Geld nach Hause, sitze regelmäßig noch bis zwei Uhr nachts im Laden, wenn noch Buchhaltung und der ganze Kram anfallen, und das gibt mir die Freiheit zu so einer Verweigerung. Nonnenmacher steht einfach für Werte, die weit von meinem Weltbild entfernt sind“, sagt Jessen. Und fügt hinzu, dass der Banker die Weigerung gefasst akzeptierte, die Clapton-CD zurückstellte und sich aus dem Staub machte.

Ja, es gibt sie tatsächlich noch, die Musikhändler, bei denen Haltung vor Geschäft steht. Diese Plattenläden, wie sie der britische Schriftsteller Nick Hornby in seinem Roman „High Fidelity“ verewigte. Diese von der Moderne überholten, mit Tonträgern vollgestopften Biotope, in die sich angeblich nur einsame Spinner und weltfremde Romantiker verirren. In denen sich der Chef eben auch mal den Luxus herausnimmt, unpassende Kunden nicht zu bedienen. Diese gallischen Dörfer im Musik-universum, die sich einer durchdigitalisierten Gegenwart verweigern, in der Platten nur noch als Datensätze auf tragbaren Festplatten zu existieren scheinen.

„Das Wort ‚Plattenladen‘ stand gestern noch für etwas Aussterbendes, für verstaubte Geschäfte, die spätestens nächste Woche pleite sind. Aber das hat sich wieder gewandelt. Heute weist das Wort ‚Plattenladen’wieder auf einen Ort hin, an dem Leute arbeiten, die sich wirklich mit Musik auskennen“, verkündet Jörg Hot-tas energisch. Allerdings wird der 56-Jährige auch dafür bezahlt, dass er Botschaften wie diese in die Welt trägt: Immerhin ist er Geschäftsführer der Aktiv Musik Marketing GmbH & Co KG, kurz AMM, des Verbandes deutscher Plattenläden, der als Einkaufsgemeinschaft und „Schnittstelle zur Industrie, Lobbyarbeit also“ (Hottas) agiert.

Als Erinnerung daran, dass es diese gallischen Plattenladendörfer noch gibt, dient die sogenannte Plattenladenwoche, die in diesem Jahr vom 10. bis 15. Oktober zum dritten Mal in Deutschland inszeniert wird. Die Idee dazu stammt aus den USA, wo Plattenladenbetreiber 2007 die Idee ausheckten. Seit drei Jahren läuft der Record Store Day nun an jedem dritten Samstag im April mit zunehmendem Erfolg. Dort, in England und einigen anderen Ländern, mühen sich Künstler, Plattenfirmen und Händler, mit Aktionen und Sondereditionen für Aufmerksamkeit zu sorgen. Prominente wie Paul McCartney übermitteln aufmunternde Durchhaltebotschaften: „Für mich ist nichts so glamourös wie ein Plattenladen. Deswegen bin ich mehr als glücklich, den Record Store Day zu unterstützen, und ich hoffe, dass die-se Läden noch viele Jahre für uns da sein werden.“

Bands wie Metallica, Wilco, Sonic Youth, Vampire Weekend, R.E.M. oder Slayer, um nur einige zu nennen, musizieren in Plattenläden oder geben Autogramme. Der Hipster-Produzent und Vinyl-Sammler Mark Ronson stellte sich in diesem Jahr sogar einen Nachmittag lang hinter den Verkaufstresen des Londoner Rough Trade Shops nahe der Portobello Road. Dazu kommen jedes Jahr zahlreiche, mitunter extrem limitierte Platten, die nur am Record Store Day angeboten werden: exklusive Tonträger von Bob Dylan, Radiohead, Foo Fighters oder Pet Shop Boys, um die sich aufgeregte Sammler balgen. In den USA und England ist es üblich, dass ein Pulk von Vinyl-Jägern Stunden vor Ladenöffnung vor der Tür lauert, um Schätze wie die exklusive, auf 1000 Exemplare limitierte Blur-7inch „Fools Day“ einzusacken, die nur Stunden nach Verkaufsstart für mehr als 200 Pfund im Internet gehandelt wurde – was die Sache allerdings etwas absurd macht.

In Deutschland baute man den Record Store Day gleich zur Woche aus, und obwohl die Außenwirkung noch nicht die amerikanischen Verhältnisse erreicht hat: Es wird viel los sein an den sechs Tagen. (Das Programm finden Sie ab Seite 62.)

Die ganz finsteren Zeiten für Plattenläden scheinen hierzulande tatsächlich vorüber zu sein. Es hat sich eine gewisse Ruhe breitgemacht, wenn auch auf deutlich gesunkenem Umsatzniveau. „Momentan ist die Lage stabil“, sagt Jörg Hottas, fügt aber hinzu, dass es 2011 deutlich weniger Läden als zu Beginn des Jahrtausends gebe: „Vermutlich hat sich die Zahl halbiert.“ So genau ist das nicht zu sagen, weil AMM nur für 75 Händler steht. Dazu kommen noch einige Läden, die dem Verband nicht angehören, sowie unüberschaubar viele Second-Hand-Händler oder Kaufhäuser mit Plattenabteilungen.

Fest steht, dass die sogenannte Umsatzkrise der Musikindustrie ungefähr in den ersten Jahren dieses Jahrtausends auch die unabhängigen Plattenhändler mit voller Wucht traf. Die Ursachen wurden endlos analysiert, von illegalen Downloads bis hin zu verändertem Freizeitverhalten einer einst kauflustigeren Jugend. Aber ausradiert wurden nicht nur die sogenannten Kleinen, sondern auch die XL-Händler, und das global. In Deutschland erwischte es die Kette World Of Music (kurz WOM). In England und den USA mussten Plattensupermärkte wie Tower Records, Virgin Records oder Our Price aufgeben. Auch das britische Traditionsunternehmen His Master’s Voice (HMV) steht kurz vor dem Exitus.

Wobei respektvoll noch einmal festgehalten werden muss, dass viele dieser großen Läden sehr viel besser waren als ihr Ruf. Die Hamburger WOM-Filiale zum Beispiel war erstklassig sortiert, bot alles von exotischer Weltmusik bis hin zu bizarrem Außenseiter-Pop. Nahezu legendär war die Tower-Records-Filiale am Sunset Boulevard in Hollywood. Bevorzugt kurz vor Mitternacht blätterten sich dort illustre Kunden wie Rick Rubin, Morrissey, Trent Reznor, Elton John, Robbie Williams oder Justin Timberlake gern, mit riesigen Sonnenbrillen getarnt, durch die Neuigkeiten-Stapel. Auf dem Parkplatz gaben Duran Duran ein Reunion-Konzert, und Mariah Carey sorgte bei einer Signier-Session für Massenaufläufe.

Wie sehr viele dieser großen Läden nach ihrem Ende doch vielen Menschen fehlten, lassen die vielen trauernden Blogger erahnen, die Tower Records nachweinten. Stellvertretend für sie steht wohl Colin Hanks, Schauspieler und ältester Sohn von Tom Hanks, der einen Dokumentarfilm über Tower Records plant und behauptet: „Kulturell betrachtet hatte Tower Records einen monumentalen Einfluss auf Millionen Menschen weltweit!“

Sicher: Darüber, dass alle, die sich ein bisschen mehr für Musik interessieren, Plattenläden irgendwie toll finden, herrscht vermutlich Einigkeit. Die magische Frage aber lautet: Wann waren all diese Menschen zuletzt in einem Plattenladen? Und: Wann haben sie in so einem Etablissement tatsächlich Geld gelassen?

Den angeblich ältesten Plattenladen der Welt gibt es zumindest noch: Spiller Records, 1894 in Cardiff gegründet, hat bislang alle kommenden und gehenden Moden und Formate überstanden. Schließlich prägten Schallplatten, Plattenspieler und -läden über weite Strecken des 20. Jahrhunderts die Verbreitung populärer Musik. Das Ende der großen Tonträger-Ära kündigte sich zu Beginn dieses Jahrtausends an, als die Bedeutung des Internets immer mehr wuchs und sich die Erkenntnis durchsetzte, dass die meiste Musik mit wenigen Klicks im weltweiten Netz zu haben ist. Illegal, aber umsonst.

Auch bei Michelle Records haben sich die Umsätze seit 2000 nahezu halbiert. Der Tiefpunkt: 2007. Viele Plattenhändler überstanden diese turbulenten Jahre nicht, aber bei Michelle haben sie immer weitergemacht. Der Laden liegt mitten im Zentrum von Hamburg, nur einen Steinwurf entfernt von den belebten Einkaufsmeilen, aber dann doch so gut in einer Nebenstraße versteckt, dass man ihn suchen muss, wenn man noch nie da war. „1B-Lage“ nennt Co-Chef Christof Jessen das, eine Adresse, die unattraktiv genug ist für eine eher moderate Miete. Also die perfekte Position für alle kleinen Plattenläden.

Ende August steht der Hamburger Musiker Bernd Begemann mit Begleitband bei Michelle Records, fordert das Publikum vor Beginn seines Schaufensterkonzerts auf, die bloße Existenz dieses Ladens mit viel Applaus zu feiern, und ruft: „Hoffentlich gibt es euch noch in einem Jahr!“ Nach der Show sitzt er im schweißnassen Hemd an der Verkaufstheke, signiert CDs und sagt: „Ich bin jedem dankbar, der meine Platten ins Programm nimmt. Die Verkaufsfläche hier ist überschaubar, das Repertoire aber erstaunlich weit gefächert. Es reicht von HipHop bis Heavy Metal, von Krautrock bis Folk-Pop.“

Es gibt Vinyl- und CD-Neuheiten, Second-Hand-Platten und Importe, Glasschaukästen mit kostbaren CD-Boxen und ein Regal mit Fachzeitschriften. Es ist einer dieser herrlichen Orte, an denen man stöbernd die Zeit vergisst, um letztlich etwas zu kaufen, das man gar nicht gesucht hat. „Wir signalisieren schon, dass wir ansprechbereit sind und gerne weiterhelfen“, sagt Christof Jessen.

Das Problem ist nur, dass viele potenzielle Kunden gar nichts von der Existenz dieses Ladens wissen. Um ein interessiertes Publikum in den Laden zu lotsen, wurden hier einst die sogenannten Schaufensterkonzerte eingeführt. Da quetschen sich Künstler auf die denkbar kleine Bühne, und der Laden wird zum Club. Manche Newcomer finden so ein neues Publikum, und einige etabliertere Größen haben Spaß an der einzigartigen Situation. Die Ehre eines Schaufensterkonzerts gaben sich schon Könner wie die Go-Betweens, Calexico, die Jayhawks, Peaches, Kante oder Die Sterne.

„Ein Laden wie Michelle Records repräsentiert die eigentliche Kultur einer Stadt wie Hamburg“, sagt Bernd Begemann mit strengem Blick. Das Geschäft gibt es seit 1977, der großen Zeit des Punkrock und einer goldenen Ära des Tonträgerhandels. Platten wurden in Deutschland bis Anfang der 70er-Jahre überwiegend in Kaufhäusern und Elektrofachgeschäften angeboten. Singles kosteten sechs, Langspielplatten um die 20 D-Mark. Bewegung kam in den deutschen Plattenhandel, als Anfang der 70er-Jahre die Preisbindung aufgehoben wurde. Das war der Startschuss für junge Unternehmen wie 2001 und die Elektrokaufhäuser von Saturn, die schnell erfolgreich waren mit günstiger Musik. In Hamburg eröffneten damals die ersten Govi-Geschäfte, die es bundesweit auf 23 Filialen brachten, bis sie 1979 von der Plattenfirma WEA übernommen wurden.

Govi versorgte Menschen mit Musik, die Magazine wie „Sounds“ lasen, mit Platten, die man im Sortiment von Karstadt oder Hertie selten entdeckte: Prog-Rock, Free Jazz, Punk, New Wave, Soul, HipHop und Artverwandtes. Entsprechend cool und jung war das Publikum. Michelle Records gehörte zwar anfangs zur Govi-Kette, wurde aber schnell ausgegliedert. Klaus Peters führte damals die Geschäfte. „Wir waren Tabellenführer wie St. Pauli in der zweiten Liga“, erinnert sich der schlaksige Hamburger wehmütig.

Damals, in den Siebzigern und Achtzigern, vor einer gefühlten Ewigkeit, waren Schallplattenläden noch wichtig. In der guten alten analogen Zeit, vor Spotify, iTunes und YouTube, erschienen erfolgreiche Plattenläden noch wie Königreiche. Mit ihren Umsätzen, Tipps und Einkäufen konnte man Trends setzen und Karrieren anschieben. Nebenbei diktierten Plattenläden die deutschen Charts, denn die wurden bestimmt durch Meldungen der Händler – und was die nominierten, prüfte letztlich keiner. Das hatten natürlich längst auch die großen Plattenfirmen registriert. „Plattenfirmenmanager gingen bei uns ein und aus. Deshalb hatten wir auch eine bevorzugte Position: Konzerte im Laden und Autogrammstunden.“ Bestseller-Rocker wie Slayer oder Iron Maiden tanzten auf Wunsch schon mal an. „Wir wurden von den Plattenfirmen regelrecht eingekleidet. Von der Metallica-Lederjacke bis zur Black-Crowes-Unterhose. Ich hatte Tausende T-Shirts mit Band-Logos im Schrank“, sagt Peters, der mit Musik heute nichts mehr zu tun hat.

„Mal fragte mich ein Vertreter, was ich am Wochenende vorhätte. Willst du mit nach Modena kommen? Da spielen Pavarotti & Friends.“ Pavarotti? Egal! Also ging es ab nach Bologna ins Luxushotel, von dort aus mit der Limousine nach Modena zum Konzert. Plätze in der ersten Reihe. Danach Party mit Eros Ramazzotti und Stevie Wonder am Buffet.

„Kein Witz! So war das!“ Es sei nie eine Gegenleistung gefordert worden, sagt Peters – aber man habe sich „schon verpflichtet“ gefühlt. „Bei den Meldungen für die Charts konnte man eintragen, was man wollte. Wir hätten angeben können, Pavarotti & Friends sei unsere Nummer eins – obwohl wir die nicht mal im Programm hatten. Das hat keiner kontrolliert.“ Verrückte Zeiten seien das gewesen.

Auch ganz handfeste Folgekarrieren begannen mitunter im Plattenverkauf: Der Hamburger Musikfan Bernd Dopp zum Beispiel bekam – nachdem er die Bewerbung fürs Politologiestudium zu spät abgeschickt hatte – seinen ersten Job als Aushilfe im Govi-Laden. „Man mußte einen Fragebogen ausfüllen. So nach dem Motto:, Nenne fünf Alben von Barclay James Harvest!'“, erinnert sich Dopp. „Das fiel mir sehr schwer, denn die Band entsprach so gar nicht meinem Geschmack. Ich habe mich dann mit der Nennung von Best Ofs und Live-Alben gerettet.“

Einige Jahre später war er dann schon Chef der Musikabteilung beim Elektromarkt „Schauland“, die bald den Ruf eines der bestsortierten Läden Norddeutschlands hatte. „Die DJs standen freitags bei uns vor der Tür, um die coolsten Veröffentlichungen fürs Wochenende einzukaufen. So wurden auch einige Plattenfirmen auf mich aufmerksam.“ Ziemlich aufmerksam sogar: Heute ist Bernd Dopp Geschäftsführer von Warner Music Central & Eastern Europe.

Bei Paul Löfflers Laden Plattenrille im Hamburger Univiertel rufen Plattenfirmen nur an, wenn sie Hilfe bei Konzepten für eine Wiederveröffentlichung brauchen oder einen musikvernarrten wichtigen Künstler, der in der Stadt weilt, bei Laune halten müssen. Bossa-Meister Sérgio Mendes kam mal vorbei und, Potzblitz, Boris Becker mit Verona Feldbusch (ein Video davon kann man auf der Homepage der Plattenrille sehen). Gut versteckt in einem Hinterhof zwischen Fotostudio und Druckerei, bietet der vermutlich größte Second-Hand-Laden Deutschlands gut 50.000 Platten zum endlosen Stöbern, dazu ein gut 200.000 Alben umfassendes Lager, in das Löffler auf Nachfrage hin immer mal wieder geheimnisvoll verschwindet, um dann meist mit verblüffenden Fundstücken zurückzukehren.

Für Sammler ist die Plattenrille ein himmlischer Ort, sie bietet, aufwendig sortiert, alle nur denkbaren Genres. Von ostdeutschen Klassik-Labels über knisternde alte Blues-Platten bis hin zu Techno-Maxis. Es ist die Sorte Laden, in der der Chef grübelnd dreinblickt, wenn er nach einer obskuren, von Claus Ogerman arrangierten Soft-Jazz-Platte gefragt wird, dann in sein Lager abtaucht, wenige Minuten später mit einem zufriedenen Grinsen das Michael-Franks-Album „Sleeping Gypsy“ auf den Tresen legt, schweigend die nicht ausgepreiste Platte taxiert – deutsche Pressung, Top-Zustand – und dann zehn Euro vorschlägt. Löffler ist so musikbesessen, dass er zu wohl jedem Tonträger in seinem Reich eine Geschichte parat hat. Als Universal vor einigen Jahren eine Box mit einer Ogerman-Werkschau vorbereitete, konsultierten sie auch Paul Löffler von der Plattenrille.

Löffler startete den Laden 1981, nachdem sein Elan, ein Jurastudium zu beenden, verpufft war. Angeboten wird bei ihm vor allem Stoff aus der Vergangenheit. Hauptsächlich Vinyl, am Tresen steht sogar eine Plattenreinigungsmaschine. Wer hier hinkommt, ist in der Regel Stammkunde und kann sich vermutlich an jeder hitzig geführten Debatte darüber beteiligen, welche „Kind Of Blue“-Pressung die beste Dynamik bietet: die Erstauflage des Miles-Davis-Klassikers von 1958 oder die japanische Nachpressung aus den Siebzigern.

Mindestens so wichtig wie die Tonträger sind in allen nennenswerten Plattenläden die Fachsimpeleien und eine Art von Beratung, die iTunes und Co. nicht bieten. Paul Löffler erinnert sich an eine Frau, die neulich etwas niedergeschlagen und ziellos in seinen Platten blätterte. Er sprach sie an und erfuhr, dass sie Musik zum Schmerzstillen suchte. Nach diversen Vorschlägen einigte man sich auf „Cry To Me“ von Betty Harris – „die Traurigkeitsballade schlechthin!“, so Löffler. Einige Tage später war die Frau wieder da, mit einer Flasche Wein, um sich zu bedanken: „Sie hatte die Platte die ganze Nacht gehört!“

Kommunikation sei die Art, wie Plattenläden ihre Kunden binden, sagt Paul Löffler. Er fügt auch hinzu, dass es seinem Laden allen Krisen zum Trotz immer noch gut gehe. Anstrengend sei nur die Zeit der Wiedervereinigung gewesen. Natürlich brachte der Fall der Mauer den westdeutschen Händlern erst mal einen Boom, als viele Sammler aus den neuen Bundesländern ausschwärmten, um all die Platten zu kaufen, von denen sie bislang nur gerüchteweise gehört hatten. Was aber auch zu unangenehmen Zwischenfällen führte: „Es gab mehrere Beispiele, bei denen ostdeutsche Sammler teure Platten günstiger wollten, mit der Begründung, dass wir im Westen den Ostdeutschen gegenüber etwas gutzumachen hätten“, erinnert Löffler sich. Dass es seinen Laden in absehbarer Zeit nicht mehr geben könnte, kann er sich nicht vorstellen: „Von Krisen merke ich nichts!“ Nur wer Neuigkeiten sucht, ist in der Plattenrille falsch. „Wer hier nach der neuen Metallica oder so fragt, den schicke ich zu Michelle“, sagt Löffler.

Weltweit gibt es noch einige dieser gallischen Vinyldörfer. Das ganz große Sterben scheint überstanden. Der vielleicht berühmteste aller Plattenläden, der Londoner Rough Trade Shop in Notting Hill, floriert derart, dass die Betreiber 2007 in der hippen Brick-Lane-Gegend noch einen zweiten, enorm großen Laden – Rough Trade East – aufmachten. Auch der wohl größte Laden des Planeten, das unfassbare Tower-Records-Hochhaus in Tokios Hipster-Viertel Shibuya, läuft nach wie vor, nur der Name ist ein Relikt alter Zeiten. Dazu kommen weltbekannte Läden wie Other Music in New York oder die Amoeba-Filialen in San Francisco und Los Angeles. Sogar eine Stadt wie Stockholm bietet mit der Sankt Eriksgatan eine ganze Straße, in der sich ein Plattenladen an den nächsten reiht.

„Das ist nicht nur ein Phänomen alter Leute. Eine junge Generation entdeckt, gelangweilt von der MP3-Berieselung, die Freude, bewusst ein Album zu hören, bevorzugt auf Vinyl. Das ist toll“, sagt Nigel House, Chef von Rough Trade.

Auch Christof Jessen sieht diese Generation und die Zukunft von Michelle Records mit behutsamem Optimismus. „Wirtschaftlich ist das hier gerade so tragbar, in den vergangenen zwei Jahren ging es sogar ein ganz wenig nach oben“, sagt er. Er sitzt vor der Tür des Ladens, als ein potenzieller Kunde herauskommt und fragt, was es mit den Bonus-Songs einer neuen Auflage von Carole Kings „Tapestry“-Album auf sich habe. Jessen entschuldigt sich, geht rein und hilft, der Kunde kauft und bedankt sich erfreut für den Beistand.

Die Idee einer Plattenladenwoche findet Jessen gut. Michelle Records arrangiert dafür sogar eine eigene Reihe von Schaufensterkonzerten, jeden Tag eines, dazu Veranstaltungen wie Diskussionsrunden mit Grillen. „Natürlich ist das alles sehr anstrengend. Aber in einem Plattenladen zu arbeiten ist immer noch ein sehr toller Beruf“, sagt Jessen. Und grinst.

Eine Woche voller Musik

Die Läden, die sich an der Plattenladenwoche beteiligen, bieten ein großes Programm. Die Termine im Überblick.

warm-up

Musikladen

Königs Wusterhausen 7.10, 17:00 Uhr: Autogrammstunde mit Eric Fish (Subway To Sally)

Michelle Records

Hamburg

7.10., 18:30 Uhr: Plattenladen-Filmfest mit „Sound It Out“

aktiv Musicpoint

Bochum

9.10., 14:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Michael Kern

aktiv musik Plattenkiste

Bad Neuenahr

05.10., 18:30 Uhr:

Filmvorführung & Workshop:

Love, Peace & Beatbox

Bongartz – Musik in allen Formaten

Erlangen

7.10., 17:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Bauchklang

MO, 1O. 1O. 2O11

Blitz Records

Kiel

10:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Berge

TonKost

Göttingen

18:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Nicole Jukic Trio

Michelle Records

Hamburg

17:00 Uhr: Mimi Müller-Westernhagen (Foto unten)

Smile Records

Buchholz

Samy Deluxe (Uhrzeit tbc, Foto)

DI, 11. 1O. 2O11

TonKost

Göttingen

18:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit L’uke

MI, 12. 1O. 2O11

TonKost

Göttingen

17:30 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Lucile Chaubard

CD-Forum

Münster

19:00 Uhr: Live- und-Unplugged-Instore-Gig mit Home To Paris

Rimpo Tonträger

Tübingen

16:00 Uhr: Live-Akustik-Instore-Gig mit Tiemo Hauer

Bongartz – Musik in allen Formaten

Erlangen

17:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Imaginary Cities

DO, 13. 1O. 2O11

Dussmann – das Kulturkaufhaus

Berlin

19:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Tim Bendzko

Ohrwurm CDs

Hannover

18:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Kuersche

TonKost

Göttingen

17:30 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Gino Dominioni

CD-Forum

Münster

19:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Micky Romero vs. Tom Vieth

FR, 14. 1O. 2O11

VOPO Records

Berlin

17:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Rolf Zacher

City Music

Berlin

Live-Auftritt & Autogrammstunde mit Jennifer Rostock (Uhrzeit tbc)

Hot Shot Records

Hannover

16:30 Uhr: Live-Auftritt & Autogrammstunde mit Kuersche

TonKost

Göttingen

17:30 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Kai Tossing

CD-Forum

Münster

19:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Johnny Ketzel & seine Schließer

SA, 15. 1O. 2O11

Blitz Records

Kiel

14:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Emelie

Blitz Records

Kiel

15:00 Uhr: Live-Auftritt & Autogrammstunde mit Lions of Nebraska

Hot Shot Records

Hannover

14:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Der Schulz

TonKost

Göttingen

16:00 Uhr: Live-Auftritt mit Karin Bender & The Reason

CD-Forum

Münster

12:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Nikola Materne

CD-Forum

Münster

18:30 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Box in the Attic

CD-Lounge

Georg Kruse

Darmstadt

Instore-Konzert mit Vanessa Novak (Uhrzeit tbc)

CD Lounge

Georg Kruse

Darmstadt

Instore-Konzert mit Claudia Rudek (Uhrzeit tbc)

Plattenlädle

Reutlingen

14:00 Uhr: Instore-Konzert mit Maximilian Mengwasser

Discy

Landsberg

Live-Auftritt und Autogrammstunde mit The Moonband (Foto)

Bongartz – Musik in allen Formaten

Erlangen

14:00 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit Dobré

Zugabe

Bongartz – Musik in allen Formaten

Erlangen

16.10 Uhr: Live-Auftritt und Autogrammstunde mit The Moonband

Aktuelle Updates auf www.plattenladenwoche.de

Special Editions für die Woche

Wie beim anglo-amerikanischen Record Store Day gibt es auch im Rahmen der deutschen Plattenladenwoche eine Reihe exklusiver Editionen, die zum Start am 10.10. nur in den teilnehmenden Läden (siehe www.plattenladenwoche.de/plattenlaeden) erhältlich sein werden. Dazu zählen unter anderem eine Picture-LP-Version des Soloalbums von Thees Uhlmann sowie eine 7inch mit der englischen Version seiner Single „Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf“. Songwriter Tim Neuhaus präsentiert zusammen mit An Horse eine Split-10inch, und Udo Lindenberg hat für eine Superduper-Edition seine „MTV Unplugged – Live aus dem Hotel Atlantic“-CD handsigniert. Digitale Medien sind allerdings die Ausnahme beim Reigen der Plattenladenwoche-Ausgaben: Einige Labels haben sogar ganze Vinyl-Reihen extra für die Woche in Auftrag gegeben. So kommen von den Metal-Freunden Nuclear Blast exklusive LPs, Picture Discs und Singles von Graveyard, Hypocrisy, Sonata Arctica und Gotthard und von SPV Vinyl-Premieren von Eric Burdon, Freedom Call, Blackmore’s Night, Fury In The Slaughterhouse, Saga und sogar Max Raabe (auch wenn man ihn mal gerne auf Schellack hören würde). Natürlich werden alle die-se Editionen limitiert sein – wo und in welcher Menge sie auftauchen, ist Goldgräber-Glückssache. Noch mehr unter www.plattenladenwoche.de/limited-editions.

CASPER

Vopo Records, Berlin

Im Durchschnitt kaufe ich drei Alben im Monat. Weil es mir grundsätzlich lieber ist, weniger zu kaufen und mich intensiver damit zu befassen, als absurde Mengen anzuschaffen und dann von allem nur so eine Halbahnung zu haben. Am liebsten kaufe ich Vinyl, aber leider steht mein kompletter Plattenspielerkram seit dem Umzug immer noch bei Mutti rum, deshalb und weil ich so viel unterwegs bin, aktuell hauptsächlich iTunes. Was Downloads bei mir bewirkt haben, sind Impulskäufe. Wenn ich im Bus sitze und drei Zeitschriften durchblättere, die alle über ein Album berichten, das ich nicht kenne, kommt es vor, dass ich mir das schnell per iTunes lade, um „mitreden“ zu können. Oft ist da totaler Rotz bei, manchmal aber auch echt gute Alben.

Wenn es die Zeit erlaubt, kaufe ich aber am liebsten im Stammladen, wo der Verkäufer meinen Geschmack kennt. Die großen Ketten und Konzerne gehen auf die Schnelle auch mal, aber supporten sollte man immer diejenigen, die einen Plattenladen aus Ideologie und Liebe zur Sache betreiben. Deshalb auch Vopo Records: In Berlin hab ich es noch nicht geschafft, mir einen „Stammladen“ zuzulegen, da ich, seit ich hier wohne mehr oder weniger durchgehend arbeite. Aber Vopo ist einer dieser Läden, bei dem die Betreiber für das leben, was sie tun. Also jeder sofort dorthin, einen Kaffee trinken und vier Millionen Alben kaufen!

RICK MCPHAIL (TOCOTRONIC)

Zardoz, Hamburg

Ich bin im US-Staat Maine aufgewachsen. Bei uns in der Nähe gab es ein Einkaufscenter mit einem Plattenladen. Da habe ich große Teile meiner Jugend verbracht. Es gab ein Kino, und bevor wir da hingegangen sind, hat meine Mutter uns am Plattenladen abgeliefert. Damals spielte der Preis eine große Rolle. Vor allem habe ich den ganzen Nice-Price-Kram gekauft. Noch heute habe ich säckeweise Fünf-Dollar-Kassetten zu Hause, Genesis, Duran Duran und so. Aber auch Melvins, Mudhoney und solche Sachen habe ich vor allem auf Kaufkassetten, die ich immer noch ab und zu höre.

Heute kaufe ich eigentlich nur Vinyl. Es gibt ein paar Läden, die ich gerne unterstütze, wie zum Beispiel Zardoz. Der Laden ist direkt bei mir um die Ecke, und ich kenne die Mitarbeiter. Meistens gehe ich gezielt rein und weiß genau, was ich kaufen will. Oder ich gehe in die Classic-Rock-Abteilung – es gibt ja immer Sachen, die man noch nicht hat oder die man wieder nachkaufen muss. Nicht selten denke ich aber: Warum kaufst du jetzt all diese Platten? Das schafft man doch im Leben nicht mehr, die alle zu hören.

MARKUS ACHER (THE NOTWIST)

Optimal, München

Das Optimal in München und die Leute, die da arbeiten, kenne ich schon seit Ewigkeiten. Da bin ich früher aus Weilheim schon immer hingefahren. Und seit ich in München wohne, bin ich mindestens einmal die Woche da. Das ist der wichtigste Plattenladen in München für aktuelles Vinyl und außerdem eine Informationsbörse für Musiker, Journalisten, DJs – irgendwen trifft man immer.

Der Geschäftsführer Christos Davidopoulos fungiert im besten Sinne als Schaltstelle und Informationsvermittler der Szene. Nachdem eine bestimmte Käuferschicht weggefallen ist und nur noch die Intensivkäufer geblieben sind, haben sich Optimal und viele andere gute Läden auf die neuen Zeiten eingestellt, indem sie sich spezialisieren und immer mehr in die Nischen gehen. Diese klassischen Tugenden guter Plattenläden werden meiner Meinung nach immer wichtiger.

Was mich betrifft, so kaufe ich in den letzten Jahren eher noch mehr als früher, weil das Bestellen dazugekommen ist. Man findet viel mehr und hat einen schnelleren Zugang auch zu seltenen Sachen.

Wenn ich auf Tour bin, ist der örtliche Plattenladen eigentlich immer meine erste Adresse. Was heute alles wiederveröffentlicht wird … Von afrikanischen Sachen über komische Avantgarde-Musik aus Russland bis hin zu persischem Funk. Da muss ich extrem aufpassen, dass ich nicht zu viel kaufe. Schon jetzt hab ich im Studio und zu Hause Tausende von Platten stehen, die im Großen und Ganzen grob thematisch nach Genres sortiert sind, aber leider insgesamt zu chaotisch …. Irgendwann muss ich das alles mal sortieren.

WOLFGANG NIEDECKEN (BAP)

Black Diamond Records, köln

Meine allererste Platte habe ich mit einem Freund getauscht. Er überließ mir die deutsche Ausgabe der Beatles-Single „From Me To You“ mit „Thank You Girl“ auf der anderen Seite, weil er auch noch die englische Pressung besaß. Das war der Urknall, von dem Moment an war Musik für mich interessant. Danach kaufte ich meine Beatles-Platten bei Edith Hackländer am Karolingerring. An den Kauf von „Revolver“ zum Beispiel kann ich mich bis heute gut erinnern: Ich übernahm Babysitter-Jobs und sparte so lange, bis ich die 18 Mark 50 zusammenhatte.

Heute kaufe ich überwiegend CDs, meine alten Platten gehen Stück für Stück in den Besitz meiner Söhne über. Vor Tourneen stelle ich eine CD-Kollektion zusammen, höre über meinen Discman und lese im Booklet. Da kommt es immer wieder zu überraschenden Erkenntnissen: Bei vielen der alten Sachen habe ich noch die Texte im Kopf, die ich mir damals mit meinem Blendax-Englisch so zurechtgelegt habe. Der „local DJ“ aus „Roll Over Beethoven“ war bei mir zum Beispiel immer ein „monocle DJ“.

Mein alter Stammladen in Köln hat leider voreinigen Jahren Pleite gemacht. Aber Black Diamond Records in Köln ist einer dieser Plattenläden, in denen mir das Herz aufgeht. Ob der Plattenladen klassischer Prägung Zukunft hat? Nun: Black Diamond Records wird demnächst vom Vater an den Sohn übergeben.

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