Obama: Das ROLLING STONE-Interview

Der Herausgeber des US-ROLLING STONE Jann S. Wenner traf Präsident Obama zum persönlichen Gespräch. Hier gibt es das vollständige Interview in deutscher Sprache. Übersetzung: Bernd Gockel.

Was war für Sie die größte Überraschung in diesen zwei Jahren? Und welchen Rat würden Sie diesbezüglich einem Nachfolger geben?
Was ich nicht in letzter Konsequenz erwartet habe, ist ein Punkt, den ich vorhin schon mal angesprochen habe: Wenn ein Problem lösbar ist, landet es gar nicht erst auf meinem Schreibtisch. Wenn es eine offensichtliche Lösung gibt, kommt es gar nicht erst bei mir an – jemand hat das Problem nämlich längst abgehakt. Die Themen, die auf meinem Schreibtisch landen, sind dann unweigerlich komplex und kompliziert, und oft genug gibt es keine richtige oder falsche Lösung, sondern nur ein Abwägen von Argumenten. Man muss eine Balance, einen Ausgleich suchen zwischen zwei Positionen, die beide ihre nachvollziehbare Berechtigung haben.
Aber ich bin stolz darauf, dass diese Regierung ihren moralischen Kompass nicht aus den Augen verloren hat, auch wenn wir mit schwierigen Entscheidungen konfrontiert wurden. Das heißt nicht, dass uns keine Fehler unterlaufen wären, aber ich bin davon überzeugt, dass wir in diesen zwei Jahren das Land in eine eindeutig bessere Richtung bewegt haben.

Welche Musik hören Sie in letzter Zeit? Was haben Sie entdeckt, was bedeutet Ihnen etwas?
Auf meinem iPod sind inzwischen rund 2000 Songs, und sie bedeuten mir viel. Vermutlich sind die Favoriten meiner Jugend noch immer stärker vertreten als neue Sachen. Es gibt eine Menge Stevie Wonder, eine Menge Bob Dylan, eine Menge Rolling Stones, viel R&B, Miles Davis und John Coltrane. Das sind die Standards. Dann gibt es auch viel klassische Musik. Ich bin zwar nicht der große Opern-Kenner, der auch in die Oper geht, aber in diesen Tagen ist eine Maria Callas genau das, was ich brauche.
Durch Reggie (Love, der persönliche Assistent des Präsidenten) hat sich mein Rap-Geschmack deutlich verbessert. War es früher hauptsächlich Jay-Z, so höre ich inzwischen auch Nas und Lil Wayne und andere Sachen, ohne aber in diesem Segment ein Experte zu sein. Malia und Sasha kommen nun in ein Alter, wo sie mich mit hippen Sachen bekanntmachen. Musik ist jedenfalls noch immer eine Quelle der Freude für mich, und es gibt in diesen schwierigen Zeiten auch Momente, wo sie so etwas wie ein Trost ist.

Sie haben Bob Dylan im Weißen Haus empfangen. Wie lief das ab?
Genau das liebe ich an Bob Dylan: Er verhielt sich genau so, wie man es von ihm erwartet. Er erschien nicht zur Probe – während andere Musiker für ihren Auftritt am Abend immer fließig proben. Er wollte auch kein Foto mit mir – während sich die Musiker sonst darum prügeln, sich vor der Show mit mir und Michelle ablichten zu lassen. Er kam rein und spielte „The Times They Are A-Changin‘“ – in einer wundervollen Version. Der Bursche hat sein Repertoire einfach so im Griff, dass er sich auf eine Bühne stellt und ein völlig neues Arrangement aus dem Hut zaubert, das den Song ganz anders klingen lässt. Am Ende der Nummer steigt er von der Bühne, kommt zur ersten Reihe, schüttelt meine Hand, grüßt, grinst ein bisschen und verschwindet wieder. Und das war’s! Das war unsere ganze Begegnung mit ihm. Und ich dachte mir: Das ist eigentlich genau das, was man sich von Bob Dylan wünscht. Man möchte gar nicht, dass er den ganzen Schmuh mit dir macht. Man wünscht sich, dass er der ganzen Geschichte etwas skeptisch gegenübersteht. Jedenfalls, es war ein echtes Vergnügen.
Paul McCartney empfangen zu dürfen war ebenso unglaublich. Was für ein charmanter, kultivierter Mensch! Als er für Michelle „Michelle“ sang, musste ich unwillkürlich daran denken, wie Michelle als kleines Mädchen in der South Side von Chicago aufwuchs, als Kind einer Arbeiterfamilie. Und nun steht hier einer der Beatles und singt für sie im Weißen Haus. Er war einfach unvorstellbar.

Hatten Sie Tränen in den Augen?
Wenn es sich um Michelle und die Kinder dreht, werde ich manchmal weich.

(Auf einen Hinweis seines Assistenten beendet Obama das Interview und verlässt das Oval Office, kommt aber wenig später zurück, um einen abschließenden Gedanken anzufügen. Während er spricht, ist er sichtlich engagiert und unterstreicht seine Gedanken, indem er mit dem Finger mehrfach Löcher in die Luft stößt.)

Eine abschließende Bemerkung möchte ich noch machen. Für Demokraten und fortschrittlich Gesinnte gibt es keine Entschuldigung, bei der anstehenden Wahl die Hände in den Schoß zu legen. Man mag uns dafür kritisieren, dass wir einige Ziele nicht erreicht haben, dass wir sie nicht schnell genug erreicht haben, dass wir in der Gesetzgebung Kompromisse eingehen mussten. Aber wir haben jetzt die Wahl zwischen einer Republikanischen Partei, die noch weiter rechts steht als George Bush und die die gleiche Politik fortsetzen möchte, die uns diese Desaster beschert hat – und einer Regierung, die ihre Schönheitsfehler haben mag, die aber trotzdem die erfolgreichste Regierung in einer ganzen Generation ist, was die Umsetzung einer progressiven Agenda angeht. Sich nun damit abzufinden, dass es an der demokratischen Basis keine Begeisterung gibt, dass es Leute gibt, die nur auf ihrem Hintern sitzen und jammern, ist einfach unverantwortlich.
Jeder da draußen muss sich Gedanken machen, was bei dieser Wahl auf dem Spiel steht. Und ob er in den nächsten zwei oder sechs oder zehn Jahren Themen wie den Klimawandel vorantreiben will oder die Notwendigkeit, der Mittelschicht, die in den letzten zehn Jahren fünf Prozent ihres Einkommens eingebüßt hat, wieder das Gefühl von Gerechtigkeit und Optimismus zu vermitteln. Wer ein Land möchte, das die persönlichen Rechte und Freiheit respektiert, sollte bei dieser Wahl auch dafür kämpfen. Denn jetzt, nachdem es der Supreme Court abgesegnet hat, haben wir eine Situation, in der private Gruppen unbegrenzte Summen in den Wahlkampf stecken können, ohne über die Herkunft des Geldes Auskunft geben zu müssen. Mit der Folge, dass wir im Verhältnis 8:1 weniger Spendengelder erhalten. Welchen Wahlbezirk man sich auch anschaut: Überall sind es private Institutionen, die mehr Geld in den Wahlkampf pumpen als die etablierten Parteien und ihre Kandidaten – und zwar in einem Verhältnis, das mal 4:1 oder 6:1 oder 8:1 oder gar 10:1 beträgt.
Wir müssen die Leute dazu bewegen, sich in diesem Wahlkampf zu engagieren. Die Leute müssen ihre Lethargie abschütteln und sich zusammenreißen. Einen wirklichen Wandel in diesem Land zu schaffen ist nicht einfach – das habe ich bereits im Wahlkampf vorhergesagt. Es war schwierig, und wir haben einige Beulen abbekommen, die das beweisen. Aber wenn Leute nun ihre Sachen packen und sich nach Hause trollen wollen, dann zeigt das nur, dass es ihnen nie wirklich ernst war.
Wem es ernst ist, der muss nun aufstehen und sich engagieren.

Interview: Jann S. Wenner Übersetzung: Bernd Gockel Der Original-Text findet sich hier in voller Länger auf www.rollingstone.com.

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