Kluges vom Sandmännchen
Mit dem zehnten Sammelband „Das Erwachen“ liegt Neil Gaimans anspielungsreiche Graphic-Novel-Reihe „Sandman“ nun endlich vollständig in deutscher Sprache vor.
Rund ein Drittel unseres Lebens verbringen wir schlafend und träumend. An der Deutung der unbewussten Phantasmagorien beißen sich die Psychoanalytiker seit jeher die Zähne aus, während man Kindern Geschichten vom Sandmann erzählt, der sie in einen sanften Schlummer lullt.
Der 1960 in England geborene, inzwischen in den USA lebende Comic- und Romanautor Neil Gaiman hat sich mit seiner Graphic-Novel-Reihe „Sandman“, die nach dem Erscheinen des zehnten Sammelbandes „Das Erwachen“ (Panini, 24,95 Euro) erstmals komplett in deutscher Übersetzung vorliegt, äußerst kreativ mit dem naiven Kinderglauben auseinandergesetzt. Durch seine vielfach ausgezeichnete Saga über Morpheus, den Herrn der Träume, ziehen sich nicht nur Gastauftritte diverser Helden und Schurken des DC-Universums, auch Christopher Marlowe, Geoffrey Chaucer, William Shakespeare oder Mark Twain geben sich die Ehre.
Der Anspielungsreichtum der 75 Hefte umfassenden Reihe, die es sogar auf die Bestsellerliste der „New York Times“ schaffte, verleitete Norman Mailer dazu, von einem „Comic für Intellektuelle“ zu sprechen. Doch dieses vermeintliche Lob käme einer Einschränkung gleich, die „Sandman“ nicht verdient. Gaimans Opus magnum gehört vielmehr zum Mainstream – zum besten, klügsten und unterhaltsamsten Mainstream, der sich denken lässt!
Obwohl Gaiman Mythen und religiöse Legenden in das Geschehen integriert, obwohl er Historie, Popkultur und Zeitgeschichte mit seinem Plot verknüpft, obschon ihm eine originelle Paraphrase von Shakespeares „Sommernachtstraum“ aus der Feder fließt und die anfangs noch lineare Erzählweise bald Platz macht für experimentellere Spielarten der Traumlogik, bleibt „Sandman“ an der Oberfläche unprätentiös, ungemein spannend und vielseitig.
Alles beginnt damit, dass Morpheus in menschliche Gefangenschaft kommt, woraufhin sein Reich aus den Fugen gerät. Wir begleiten ihn in die Hölle, durch die Jahrhunderte, auf einen Kongress der Serienmörder und zu beklemmenden Begegnungen mit seiner Schwester Death.
Der ewig blasse, schwarz gekleidete Protagonist ähnelt nicht dem „candy-colored clown they call the sandman“, wie wir ihn aus der Popmusik kennen. Roy Orbisons Evergreen „In Dreams“, der in David Lynchs „Blue Velvet“ einst eine so verstörende Funktion einnahm, wird zwar auch in Gaimans jenseitigem Zyklus zitiert – wie auch Songs von den Everly Brothers, Frankie Goes To Hollywood, The Mamas and the Papas und vielen mehr -, er illustriert jedoch allein die mannigfaltigen Vorstellungen, die sich die Menschen von einem gottgleichen Traumkönig machen. Jener ist bei Gaiman, der zu Beginn des Jahres der Dresden-Dolls-Sängerin Amanda Palmer die Ehe versprach, ein einsamer, grüblerischer Reisender, der nach seiner Bestimmung sucht und sich nach Freundschaft, den Grenzen seiner Macht und nicht zuletzt nach dem Schicksal der Sterblichen sehnt.
Mit Hilfe so bekannter Zeichner wie Dave McKean, Jon J. Muth oder Mike Dringenberg geht „Sandman“ weit über die Genrekonventionen tumber Horror-, Superhelden- oder Fantasyproduktionen hinaus. Der Comic reflektiert die Kunst des Erzählens selbst und bringt es dabei zu ungeahnter Meisterschaft.