Die Welt ist eine Scheibe
Ein ganzes Land auf DVD? Das gibt es nur fürs Navigationsgerät. Die folgenden Filme sind jedoch wesentlich unterhaltsamer. Folgen Sie dem Text bis zum Ende. Danach bitte Umblättern.
Das Mainstream-Kinopublikum und snobistische Filmkritiker haben sicher nicht viel gemeinsam, aber eines eben doch: Den britischen Film nehmen sie nur im Ausnahmefall zur Kenntnis. Für den Kommerz ist nämlich Hollywood zuständig, für die Kunst sind es die Franzosen. Engländer können nur Krimis. Ein Vorurteil. Engländer können auch Science Fiction, Komödien und Thriller, aber am besten sind sie sicher immer dann, wenn sie sich auf lokale Themen konzentrieren. Etwa auf das nordenglische Bergarbeiterkaff und seine tragikomische Blaskapelle, die in „„Brassed Off“ (Kinowelt) mutig der Zechenschließung entgegenträtet. Genauso unterhaltsam: Jene Semi-Adonisse aus der niedergegangenen Stahlstadt Sheffield, die in „Ganz oder gar nicht“ (2Oth Century Fox) ihr Glück als Stripperkollektiv á la Chippendales versuchen.
Viel Working-Class-Witz und herzlicher Realismus auch in „Billy Elliot – I Will Dance“ (Universal): Billy weiß zwar, was er kann und will, nur sind angehende Balletttänzer im Kohlenkumpelmilieu eben doch ein wenig exotisch. Viel aushalten muss auch das soziale Umfeld jenes Fußballfans aus „Fever Pitch“ (Ufa), dessen Leben sich im Wesentlichen um drei Dinge dreht: Punktverhältnis, Torverhältnis, Tabellenstand. Angelehnt an Nick Hornbys Romanvorlage ist der Film von David Evans, in der US-Version mit Drew Barrymore hingegen wird Baseball gespielt. Shocking. Amerikaner waren es auch, die Nick Hornbys Großtat „„High Fidelity“ (Complete Media Service) von London nach Chicago verlegten. Ein Schönheitsfehler in einem ansonsten recht sehenswerten Film – der hier als „Made in Hollywood“ streng genommen gar nicht auftauchen dürfte. Bei einem etwaigen Remake sollte jedenfalls Ray Davies‘ Rat befolgt werden: „Return To Waterloo“ (Edel). Ein hübsches Kurzfilmchen übrigens, das anstelle von Dialogen Musik setzt. Die spielt auch in „The Family Way“ (Optimum Home Entertainment) eine Rolle, geschrieben von Paul McCartney und die passende Untermalung zu Roy Boultings Sittengemälde des englischen Kleinbürgertums. Großbürgerlich indes David Hemmings, der im Swinging London des Jahres 1966 Zeuge eines Mordes wird. Oder auch nicht. „„Blow Up“ (Warner) ist jedenfalls ein Klassiker des englischen Kinos, gedreht vom Italiener Michelangelo Antonioni.
Womit wir dann doch bei einer britischen Domäne gelandet sind, dem Krimi. Miss Marple hatte zwar die bessere Musik, doch Sherlock Holmes war stets mondäner gekleidet: Der Mann war kultiviert, trug seidene Morgenmäntel und war auch sonst ein echter Gentleman. Wer gleich zwei britische Ikonen in einem Film erleben möchte, der sollte den Erwerb von „Sherlock Holmes‘ größter Fall“ (Ascot Home Entertainment) ernsthaft in Erwägung ziehen. Der Meisterdetektiv ist hier nämlich keinem Geringeren als Jack The Ripper auf den Fersen. Mord und Totschlag auch bei „Sleuth“ (Paramount): Sir Laurence Olivier mimt einen zynischen Literaten, der seinem Working-Class-Nebenbuhler, gespielt von Michael Caine, die Würde nehmen will – ein grandioses Kino-Kammerspiel mit überraschendem Ausgang.
Apropos Michael Caine: Der stand als proletarischer Anti-Bond Harry Palmer dreimal vor der Kamera, bester Film der Reihe ist „„Finale in Berlin“ (Cine Plus Home Entertainment). Was Stunts und Effekte angeht, ist sicher jeder James-Bond-Film aufwändiger, dafür überzeugt Geheimagent Caine mit britischem Understatement und jeder Menge Sarkasmus. Noch mehr Agenten, aber diesmal mit prächtigem Trash-Einschlag: „Mit Schirm, Charme und Melone“ (Kinowelt). Wer obskure Comic-Plots im Swinging-London-Ambiente schätzt, ist mit dem englischen TV-Klassiker gut beraten. Demnächst auf DVD: Alle 26 Folgen der ersten Staffel. Und noch ein Abstecher ins TV-Fach. London swingte so gar nicht, sondern bestand aus ranzigen Holzhütten, als „„Catweazle“ (Koch Media) vor den normannischen Eroberern flüchtete – und im Jahr 1969 landete. Die 13 Folgen der ersten Staffel sind noch immer extrem sehenswert, „Kinderprogramm“ hin oder her. Was auch für unsere gekneteten Lieblinge „Wallace & Gromit“ gilt, deren „Drei unglaubliche Abenteuer“ (Concorde) an Charme kaum zu überbieten sind. Bekanntlich eher uncharmant, aber von brachialer Komik: Die leider streng limitierte „„Monty Pythons Flying Circus Box“ (Sony Pictures). Mein Luftkissenfahrzeug ist voller Aale, wenn Sie mich versteh’n, knick-knack. Alles drin, alles drauf, alles schön absurd und ein weltweit verstandenes Synonym für englischen Humor. Die legitimen Nachfolger heißen Matt Lucas und David Walliams, nachprüfbar durch das Acht-DVD-Set „Little Britain: „Great Box“ (Polyband). Britische Komik der böseren Art, die garantiert keine Rücksicht auf Minderheiten nimmt oder den sogenannten guten Geschmack.
Den wähnten empfindsame Naturen auch verletzt, als Mick Jagger einst in „„Performance“ (Warner) den dekadenten Rockstar gab, der einem Killer auf der Flucht Unterschlupf gewährt. Sex, Drogen, Gewalt und Rock’n’Roll. Tolle Mischung. Die auch 26 Jahre später in Danny Boyles „„Trainspotting“ (Universal) den Ton angab. Wer jemals die Drogenentzugsszene gesehen hat und halbwegs bei Verstand ist, der wird für den Rest seines Lebens bei Wurstbrot und Bier bleiben. Erwähnenswert: der klasse Soundtrack mit Blur, New Order und Primal Scream. Ein schräge Geschichte mit ebensolcher Musik erzählt auch „„The Committee“ (Cargo): Mit 55 Minuten eher ein Kurzfilm, entschädigen der coole Soundtrack von Arthur Brown und Pink Floyd sowie der Hauptdarsteller Paul Jones. Der sang einst bei Manfred Mann, wechselte dann aber ins Schauspielfach. Und spielte auch in „Privilege“ (New Yorker Video) die Hauptrolle: einen manipulativen Popstar, der hemmungslos das Führerprinzip auslebt.
Teil einer Jugendbewegung ist auch Jimmy, der in „„Quadrophenia“ (Universal) dem tristen Vorstadtalltag mit dem gepimpten Motorroller davondüst und in Brighton fettige Rocker prügelt. Was als langfristiger Lebensentwurf dann aber doch nicht so recht trägt. Ganz neue Erfahrungen sammelt auch das reiche Chelsea Girl Polly, das sich in „Up The Junction“ (Paramount) quasi aus Langeweile im sozialen Brennpunkt Battersea einnistet. Sozialkritisches Kino, jede Menge Mod-Roller und ein Soundtrack von Manfred Mann. Wer’s beschaulicher mag, für den gibt’s immer noch die gute alte Miss Marple. 16.50 Uhr ab Paddington. Seien Sie bitte pünktlich.