Das „Kill Team“
Wie amerikanische Soldaten in Afghanistan unbeteiligte Zivilisten ermordeten und die Leichen schändeten, ohne von ihren Vorgesetzten daran gehindert zu werden. Ein erschütterndes Dokument über die grausame Realität des Krieges.
Anfang 2009, nach sechs harten Monaten in Afghanistan, fasste eine Handvoll amerikanischer GIs einen folgenschweren Entschluss: Jetzt oder nie – die Zeit war gekommen, einen Haji (wie die GIs im Irak und in Afghanistan die Muslime nennen) ins Jenseits zu befördern.
Der Mord an einem afghanischen Zivilisten war unter den Männern der 2. Kompanie schon seit Langem ein Thema und wurde beim Mittagstisch oder in nächtlichen Gesprächsrunden kontrovers diskutiert: War es mit der Moral zu vereinbaren, „einen Wilden plattzumachen“? Und wenn ja, wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass die Tat auffliegen würde? Einige der Männer rangen noch mit ihrem Gewissen, während andere von Anfang an Feuer und Flamme waren. Kurz nach Neujahr aber, als der Winter Kandahar fest im Griff hatte, stand die Entscheidung fest: Künftig würde nicht mehr lange geredet, sondern kurzentschlossen abgedrückt werden.
Die 2. Kompanie, auch „Bravo Company“ genannt, war seit dem Sommer in Kandahar stationiert. Mit wenig Erfolg hatte man seither versucht, in einer der gefährlichsten Provinzen des Landes die Taliban aus dem Verkehr zu ziehen. Am Morgen des 15. Januar verließ das 3. Platoon das schützende Camp Ramrod und machte sich einmal mehr auf den Weg. Die wuchtigen, achtachsigen Stryker-Truppentransporter durchquerten endlose, menschenleere Wüstenstriche, bis man nach La Mohammad Kalay kam, einer abgelegenen Siedlung, die hinter Mohnfeldern lag und nur aus ein paar Lehmhütten bestand.
Um den nötigen Sicherheitsabstand zu gewährleisten, ließen die Soldaten ihre Fahrzeuge am Ortseingang zurück und gingen zu Fuß weiter. Die Siedlung galt als Zufluchtsort der Taliban, die von hier aus Angriffe auf die amerikanischen Streitkräfte starteten, doch als die GIs durch die Gassen des Ortes gingen, war von bewaffneten Taliban oder feindlichen Stellungen weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen sahen sie nur das frustrierend vertraute Bild: verarmte afghanische Bauern, die hier ohne Strom und fließendes Wasser hausten; bärtige Männer mit schlechten Zähnen und zerlumpten Kleidern; Kinder, denen der Wunsch nach Geld und Süßigkeiten ins Gesicht geschrieben stand. Es war unmöglich festzustellen, wer von den Einwohnern mit den Taliban sympathisierte – falls überhaupt. Die Aufständischen selbst hielten sich im Hintergrund, um von hier aus mit selbst gebastelten Sprengkörpern Überraschungsangriffe zu starten.
Während sich die Offiziere des 3. Platoon entfernten, um mit einem Stammesältesten zu reden, schlenderten zwei Soldaten bis ans Ende des Dorfes und suchten am Rande der Mohnfelder nach einem geeigneten Opfer. „Uns allen war eines klar“, so einer der Männer später im Verhör, „dass wir keine Zeugen gebrauchen können, wenn wir so etwas Abgefahrenes machen.“ Die Mohnpflanzen waren um diese Jahreszeit noch nicht allzu hoch. Corporal Jeremy Morlock und Private First Class Andrew Holmes sahen einen jungen Bauern, der alleine auf dem Feld arbeitete. In der Entfernung schoben einige GIs Wache, aber der Bauer war der einzige Afghane in Sichtweite. Da es also offenbar keine Zeugen gab, schien der geeignete Zeitpunkt gekommen zu sein. Sie hatten ihren Kandidaten gefunden.
Er war ein milchgesichtiger Junge, vielleicht 15 Jahre alt – nicht viel jünger als die Soldaten selbst: Morlock war 21, Holmes 19. Sein Name, so erfuhren sie später, war Gul Mudin, ein Name, der in Afghanistan weit verbreitet ist. Er trug eine Kappe und eine grüne Jacke, die offensichtlich aus dem Westen stammte. Er hatte nichts in der Hand, das als Waffe hätte interpretiert werden können, nicht mal eine Schaufel. Sein Gesichtsausdruck schien Aufgeschlossenheit zu signalisieren. „Er war“, so Morlock später, „sicher keine Bedrohung.“
Morlock und Holmes riefen ihm etwas auf Pashtuni zu, als er auf sie zuging, und bedeuteten ihm, nicht näher an sie heranzukommen. Der Junge folgte der Anweisung und blieb stehen. Die Soldaten knieten sich hinter eine flache Mauer, und Morlock warf eine Granate in die Richtung des Jungen, während sie selbst hinter dem Lehmwall in Sicherheit gingen. Als die Granate explodierte, griffen sie zu M4-Karabiner und Maschinengewehr und gaben aus kürzester Dis-tanz mehrere Schüsse auf den Jungen ab.
Mudin knickte ein und fiel mit dem Gesicht auf den Boden. Die Kappe rutschte von seinem Kopf, daneben bildete sich eine Blutlache.
Das Echo der Schüsse hallte durch das verschlafene Dorf. Normalerweise löst ein unerwartetes Gewehrfeuer bei Soldaten reflexartig eine erhöhte Alarmbereitschaft aus. In diesem Fall schienen die Kameraden allerdings nicht sonderlich beunruhigt, selbst als ihre Walkie-Talkies hektisch zu quäken begannen. Es war Morlock, der aufgeregt vermeldete, dass auf ihn gefeuert worden sei. Auf einem nahe gelegenen Hügel wandte sich Sergeant Adam Winfield an den Gefreiten Ashton Moore und erklärte ihm, dass es sich vermutlich um kein echtes Gefecht handele, sondern um eine Inszenierung: Es sei bekannt, dass einige Kameraden einen unbewaffneten Afghanen über die Klinge springen lassen und dabei natürlich nicht geschnappt werden wollten.
An dem Lehmwall waren inzwischen weitere Soldaten eingetroffen, die den Leichnam inspizierten. Morlock und Holmes, offensichtlich erregt, hockten noch immer hinter der Mauer. Als ein Sergeant sie nach dem Vorfall befragte, sagte Morlock, der Junge habe sie mit der Granate angreifen wollen. „Wir muss-ten den Burschen erschießen.“
Es war eine wenig glaubhafte Geschichte: ein einzelner Taliban, nur mit einer Granate bewaffnet, der sich am helllichten Tag mit einem ganzen US-Platoon anlegt – dazu auf einem Terrain, das keinen Schutz und keinerlei Fluchtmöglichkeiten bietet. Der ranghöchste Offizier, Captain Patrick Mitchell, hatte den Eindruck, dass an Morlocks Geschichte etwas faul sei: „Ich empfand es als seltsam, dass jemand auf uns zugeht und eine Granate wirft“, sagte er später dem militärischen Untersuchungsausschuss.
Mitchell gab allerdings keinen Befehl, Mudin zu helfen. Er hielt es für möglich, dass der Junge noch am Leben und deshalb eine potenzielle Gefahr sei. Stattdessen gab er Feldwebel Chris Sprague den Befehl, „sicherzustellen“, dass der Junge auch tot sei. Sprague griff zum Gewehr und drückte zwei Mal ab.
Während die Soldaten noch bei der Leiche standen, kam aus dem Mohnfeld ein älterer Einheimischer und beschuldigte Morlock und Holmes des Mordes. Er zeigte auf Morlock und sagte, dass er – und nicht der Junge – die Granate geworfen habe. Morlock und seine Kameraden ignorierten ihn. Um die Leiche zu identifizieren, holten die Soldaten den Stammesältesten, mit dem die Offiziere kurz zuvor gesprochen hatten. Es war ein tragischer Zufall, dass sich der Mann als Vater des ermordeten Jungen entpuppte. Der Moment, als er in der Blutlache seinen Sohn entdeckte, wurde später in der kargen Sprache des Militärs mit knappen Worten festgehalten: „Der Vater war sehr aufgebracht.“
Seine Trauer tat der aufgekratzten Stimmung unter den Soldaten keinen Abbruch. Nach der Routine-Untersuchung, die bei jedem Todesfall im Gefecht vorgeschrieben ist, schnitten sie dem Jungen die Kleider vom Leib und suchten nach Tätowierungen, die Aufschluss über eine mögliche Zugehörigkeit zu den Taliban geben könnten. Mit einem tragbaren biometrischen Scanner nahmen sie die Fingerabdrücke ab und scannten seine Iris.
Nicht zum Protokoll zählte allerdings, dass sich die GIs mit ihrem Opfer fotografieren ließen. Mit einer Zigarette in der anderen Hand, griff sich Holmes den Kopf des Jungen und zog ihn an den Haaren hoch. Neben dem blutigen, halbnackten Leichnam posierte er, als wäre es der Kadaver eines erlegten Hirsches. Morlock legte Wert darauf, ebenfalls ein Erinnerungs-Foto zu bekommen.
Niemand schien allerdings so berauscht von den eigenen Gräueltaten zu sein wie der Feldwebel Calvin Gibbs, der allseits beliebte und draufgängerische Einsatzleiter des Platoon. „Für ihn war es wie ein Tag im Büro“, sagte einer der GIs später. Gibbs „fummelte an dem Opfer herum“, bewegte seine Arme und den Mund und „tat so, als würde der Junge reden“. Dann griff er sich aus dem Erste-Hilfe-Koffer eine scharfe Schere, schnitt den kleinen Finger des Jungen ab und reichte ihn an Holmes weiter: die Trophäe für seinen ersten getöteten Afghanen.
Holmes, so berichteten seine Kameraden, habe den Finger in einem Frischhaltebeutel mitgenommen. „Er wollte ihn trocknen und für immer behalten. Er war stolz auf diesen Finger.“
Die Soldaten, die an dem Mord beteiligt waren, wurden in keiner Form diszipliniert oder gar zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: Das 3. Platoon, in seinen Aktivitäten bestätigt, machte in den nächsten vier Monaten tödliche Jagd auf Zivilisten: Mindestens drei weitere Vorfälle wurden aktenkundig. Als die Morde im Sommer 2010 endlich publik wurden, versuchte die Armee, die Taten als Aktionen einer „isolierten Einheit“ darzustellen, die ohne das Wissen von Vorgesetzten gehandelt habe. Militär-Staatsanwälte beeilten sich, fünf Soldaten mit niederen Dienstgraden des Mordes anzuklagen, während das Pentagon alle weiteren Informationen zu den Vorfällen blockierte.
Den Soldaten der „Bravo Company“ wurden Interviews untersagt, und Anwälte der Angeklagten berichteten, dass man ihren Klienten mit drakonischen Maßnahmen und Einzelhaft gedroht habe, sollten sie mit den Medien sprechen. Offiziere wurden nicht angeklagt.
Die internen Militär-Protokolle, die dem ROLLING STONE vorliegen (darunter Dutzende Verhöre mit den Soldaten der „Bravo Company“), sprechen jedoch eine andere Sprache. Die zwölf Infanteristen, die als Mitglieder eines unautorisiert agierenden „Kill Team“ porträtiert werden, handelten sehr wohl in aller Öffentlichkeit und mit Wissen der Kompanie. Der Mord an Zivilisten war keine verdeckte private Initiative, wie es das Pentagon darstellte, sondern „mehr oder minder im ganzen Platoon“ ein offenes Geheimnis, so einer der Angehörigen später im Verhör. Über inszenierte Morde wurde offen gesprochen, und zumindest ein Soldat eines anderen Bataillons nahm an der Jagd auf Zivilisten teil. „Das Platoon hatte sich diesbezüglich einen Namen gemacht“, berichtete ein Zeuge namens Justin Stoner dem militärischen Untersuchungsausschuss. „In der Inszenierung von Morden und dem anschließenden Vertuschen waren sie bestens geübt.“
Über die fragwürdigen Umstände der Todesfälle war auch der Führungsstab in Camp Ramrod von Anfang an informiert. Wie der ROLLING STONE erfuhr, hatte sich ein Onkel des erschossenen Jungen zusammen mit 20 Dorfbewohnern zur US-Basis begeben, um dort eine Untersuchung einzufordern. „Sie saßen direkt vor dem Eingang“, so Lieutenant Colonel David Abrahams, der stellvertretende Stabschef des Bataillons. Bei einem vierstündigen Gespräch mit dem Onkel erfuhr Abrahams, dass mehrere Kinder des Dorfes gesehen hatten, wie Mudin von den Soldaten des 3. Platoon erschossen worden war. Abrahams ordnete eine erneute Befragung der Soldaten an, konnte aber „keine Unregelmäßigkeiten in ihren Aussagen“ feststellen. Der Fall wurde geschlossen. „Für uns“, so Abrahams, „gab es zum damaligen Zeitpunkt keine Zweifel.“
Auch andere Offiziere hätten stutzig werden müssen. Weder Captain Matthew Quiggle, der Kommandeur des 3. Platoon, noch sein Stellvertreter First Lieutenant Roman Ligsay wurden zur Verantwortung gezogen, obwohl sie mehrfach versäumten, offensichtlich fragwürdige Todesfälle bei ihren Vorgesetzten zu melden. Mehr noch: Zum Führungsstab des Mord-Platoon zu zählen, erwies sich nicht einmal als Karrierehindernis. Ligsay wurde später zum Captain ernannt, und ein Feldwebel, der im April zum 3. Platoon stieß, wurde ebenfalls befördert, obwohl er „umgehend über die Morde in Kenntnis gesetzt wurde“, wie einer der aussagewilligen Soldaten vor dem Untersuchungsausschuss einräumte.
Es war in der Tat fast unmöglich, nichts von den Morden zu wissen, zumal die Angehörigen des 3. Platoon zahllose Foto schossen, die ihre Taten detailliert festhielten. Die Fotos, die dem ROLLING STONE vorliegen, dokumentieren eine Front-Mentalität, für die das Morden an afghanischen Zvilisten kein Grund für Gewissensbisse, sondern Anlass zum Feiern war. „Die meisten von uns“, so ein Soldat im Verhör, „hatten eine ausgeprägte Abneigung gegen Afghanen – egal ob es nun Polizisten, Angehörige der afghanischen Armee oder Privatleute waren. Für uns waren sie nur, Die Wilden‘.“ Auf einem Foto sieht man einen abgetrennten Finger, auf einem anderen einen abgehackten Kopf, auf einem Stock aufgespießt. Es gibt blutige Körperteile, von einer Explosion abgerissene Beine, verstümmelte Rümpfe. Auf einigen sieht man tote Afghanen, die auf dem Boden oder den Stryker-Transportern liegen – stets ohne Waffen.
In vielen Fällen ist nicht ersichtlich, ob es sich um Zivilisten oder Angehörige der Taliban handelt; es ist nicht auszuschließen, dass ungeklärte Todesfälle nicht unbedingt auf Übergriffe von US-Soldaten zurückzuführen sind. Es ist allerdings eine Verletzung von Armee-Richtlinien, sich mit Toten fotografieren zu lassen oder derartige Fotos zu verbreiten. Tatsächlich aber standen diese Fotos bei den Soldaten hoch im Kurs. Sie wurden auf Festplatten und Sticks untereinander ausgetauscht, zusammen mit Clips von TV-Shows, Kickbox-Kämpfen und Filmen wie „Iron Man 2“. Ein Soldat besaß eine komplette Sammlung, die er auf Anfrage gerne zur Verfügung stellte.Darunter auch Videos wie ein 30-minütiger Clip mit dem Titel „Motorcycle Kill“, in dem Soldaten, vermutlich aus einem anderen Bataillon, zwei Afghanen auf einem Motorrad erschießen. Eines der grausigsten Dokumente zeigt, wie zwei Afghanen – offensichtlich mit der Montage eines Sprengkörpers beschäftigt – bei einem Luftangriff in Stücke gerissen werden. Mit einer Wärmebild-Kamera aufgenommen, wurde das körnige Material wie ein Musikvideo aufbereitet, inklusive eines rockigen Soundtracks und der Grafik mit dem Filmtitel „Death Zone“.
Noch bevor die Öffentlichkeit von den Kriegsverbrechen erfuhr, setzte das Pentagon alles daran, die Fotos aus dem Verkehr zu ziehen – eine Operation, die auf höchster Ebene koordiniert wurde. General Stanley McChrystal und Präsident Hamid Karzai wurden angeblich schon im vergangenen Mai über die Existenz der Fotos informiert – und die Armee startete eine umfangreiche Operation, um alle sich im Umlauf befindlichen Fotos und Dateien aufzuspüren, bevor sie einen ähnlichen Skandal auslösen konnten wie seinerzeit in Abu Ghraib. In Afghanistan durchsuchten Ermittler Festplatten, konfiszierten die Computer von über einem Dutzend Soldaten und überwachten die Löschung der Daten. In Amerika durchsuchten Agenten des „Army Criminal Investigation Command“ die Wohnungen von Soldaten und ihren Angehörigen und beschlagnahmten alle existenten Kopien. Die Botschaft war eindeutig: Was in Afghanistan passiert, soll auch in Afghanistan bleiben.
Bei dem Versuch, die anstößigen Fotos zu vernichten, könnten allerdings auch Hinweise entfernt worden sein, dass die Morde an der Zivilbevölkerung nicht nur von einigen schwarzen Schafen aus dem 3. Platoon verübt wurden. Auf einem Foto sind zwei tote Afghanen am Straßenrand zu sehen, an den Händen aneinander gefesselt. Auf einem Schild um ihren Nacken steht die handgeschriebene Botschaft „Taliban are dead“. Das Schild stammt von einem Karton mit amerikanischen Lebensmitteln. Das Pentagon behauptet, diesen Spuren nachzugehen, weist aber auch darauf hin, dass man die Identität der beiden Männer nur schwerlich feststellen könne. „Um ganz ehrlich zu sein“, so ein Pressesprecher, „weiß ich nicht, wie der nächste Schritt aussehen sollte. Alles, was wir haben, ist ein Foto mit zwei offensichtlich toten Männern, die an einer Wegmarkierung festgebunden wurden. Viel mehr wissen wir nicht. Möglicherweise wurden die Männer auch von den Taliban getötet, weil sie Sympathisanten waren.“
Ein derartiges Statement legt allerdings die Vermutung nahe, dass das Pentagon sich nicht gerade dabei überschlägt, jeder verdächtigen Spur nachzugehen. Auf dem Foto ist auch ein Stryker-Transporter zu sehen – mit eindeutig identifizierbaren Kennzeichen. Einem Informanten zufolge, der mit dem ROLLING STONE nur unter Zusicherung von Anonymität sprach, seien die beiden unbewaffneten Männer tatsächlich von US-Soldaten getötet worden – allerdings von Mitgliedern eines anderen Platoon, das bislang noch nicht in den Skandal verwickelt sei. „Es waren zwei unschuldige Bauern, die dort getötet wurden. Und es war Usus, die Opfer danach zum Straßenrand zu zerren.“
Die Ermittler der US-Armee weisen darauf hin, dass die Morde letztlich auf einen Mann am Ende der militärischen Hierarchie zurückzuführen seien: Calvin Gibbs, der bereits drei Einsätze im Irak und in Afghanistan hinter sich hatte und im 3. Platoon als Einsatzleiter diente. Morlock und fünf weitere Soldaten, denen geringfügigere Verbrechen zur Last gelegt werden, haben sich schuldig erklärt, können aber für ihre belastenden Aussagen gegen Gibbs mit Strafmilderung rechnen. Gibbs, der in drei Fällen des geplanten Mordes angeklagt ist, muss mit einer lebenslänglichen Haftstrafe rechnen.
Der 26-jährige Feldwebel wird gemeinhin als ein Soziopath à la Charles Manson dargestellt, ein verrückter Killer mit „Hass auf alle Afghanen“, der bei seinen Kameraden verhasst gewesen sei. Aber dieses offizielle Porträt verschweigt die weiteren Erkenntnisse, die von den Ermittlern vor Ort gesammelt wurden: „Gibbs“, so gab der Gefreite Adam Kelly zu Protokoll, „ist in seinem Platoon ungemein geschätzt, und zwar sowohl von seinen Vorgesetzten als auch von seinen Untergebenen. Er ist einer der bes-ten Feldwebel, mit denen ich im Lauf meiner militärischen Laufbahn zusammenarbeiten durfte. Ich bin mir sicher, dass aufgrund seiner Erfahrung mehr Leute lebend und unverletzt von einem Einsatz zurückkamen, als es ohne ihn der Fall gewesen wäre.“ Ein anderer beschreibt ihn als „positiv und immer witzig. Er war einer dieser Menschen, mit denen man über alles reden kann – und die einen in jeder Situation wieder aufbauen.“
Mit seinen 1,92 Meter Körpergröße und 100 Kilo Gewicht war Gibbs in jedem Fall eine Respekt einflößende Erscheinung. Er wuchs in einer strenggläubigen Mormonen-Familie in Montana auf und verließ vorzeitig die Highschool, um bei der Army anzuheuern. Bei Einsätzen im Irak-Krieg sammelte er in kurzer Zeit eine Reihe von Auszeichnungen, aber gerade in diesem Krieg war es fast unmöglich, zwischen legitimer Selbstverteidigung und gezieltem Morden zu unterscheiden. Im Jahr 2004 soll Gibbs zusammen mit anderen Soldaten auf eine unbewaffnete Familie in Kirkuk geschossen und dabei zwei Erwachsene und ein Kind getötet haben. Der Vorfall wurde damals nicht weiter untersucht, wird inzwischen aber von der US-Army neu aufgerollt.
Bevor er im November 2009 zur „Bravo Company“ stieß, arbeitete Gibbs als Security für einen der Afghanistan-Kommandeure, einen ebenso umstrittenen wie konfrontativen Oberst namens Harry Tunnell. Tunnell, damals Kommandeur der 5. Stryker-Brigade, hatte sich öffentlich über die offizielle „Counter Insurgency“-Taktik der Army lustig gemacht. Der Versuch, die Herzen und die Unterstützung der örtlichen Bevölkerung zu gewinnen, sei wohl eher etwas für „Sozialwissenschaftler“, so Tunnell. Weiter schrieb er: „Die politische Korrektheit hat zur Konsequenz, dass bei Counter-Insurgency-Strategien nie über die offensiven Druckmittel gesprochen werden darf.“ Tunnell ermahnte seine Soldaten auch, Jagd auf „Guerilla-Killer“ zu machen. Der Feind „müsse schonungslos attackiert werden“.
Als Gibbs Tunnells Truppe verließ und zur Front geschickt wurde, nahm er sich jenes angemahnte „schonungslose Attackieren“ zu Herzen. Kaum hatte er das 3. Platoon übernommen, hisste er an seinem Zelt eine Piraten-Flagge. „Hey Bruder, komm mit zur Front“, sagte er einem Freund, „wir werden schon jemand auftreiben, den wir umbringen können.“ Eine Tätowierung auf seinem linken Schienbein zeigt gekreuzte Gewehre, die von sechs Totenschädeln eingerahmt werden. Drei Totenköpfe in Rot standen für erschossene Irakis, drei weitere in Blau für getötete Gegner in Afghanistan.
Zu dem Zeitpunkt, als Gibbs zur Front stieß, war die Moral auf einem Tiefpunkt angelangt. Nur vier Monate zuvor war die Brigade nach Afghanistan verlegt worden – und der Optimismus war grenzenlos gewesen: Mit den gepanzerten achtachsigen Fahrzeugen sei es nun erheblich einfacher und sicherer, die Infanterie zu transportieren, was wiederum Einsätze gegen die Taliban erheblich effizienter machen würde. Doch schon im Dezember hatten sich die Hoffnungen in Luft aufgelöst. Die Taliban hatten mit ihren Sprengsätzen immer größere Löcher in die Straßen gesprengt und sie so für die schweren Fahrzeuge unpassierbar gemacht. Obendrein musste die Brigade schmerzhafte Verluste beklagen: Ein Bataillon hatte in der kurzen Zeit mehr Männer verloren als jedes andere Bataillon während des gesamten Krieges. Gibbs wurde als Truppführer auch nur geholt, weil sein Vorgänger bei einer Explosion beide Beine verloren hatte.
Die Soldaten waren gelangweilt, traumatisiert und verbittert. Sie waren nach Afghanistan geschickt worden, um mit einer neuen Mission die Taliban aufzuspüren – doch der Feind schien wie vom Erdboden verschluckt. „Um ehrlich zu sein“, gestand ein Soldat später, „konnte ich zwischen zivilen Einheimischen und den Kämpfern überhaupt keinen Unterschied ausmachen.“ In den ersten sechs Monaten entgingen die Taliban praktisch jeder Patrouille, die vom 3. Platoon durchgeführt wurde. Die Frustration hatte sich derart aufgestaut, dass ein Soldat – nachdem ein Aufständischer vom Hubschrauber aus erschossen worden war – zu der Leiche lief und mit dem Jagdmesser auf sie einstach. Ein anderer Soldat berichtet, Gibbs habe neben der Leiche gestanden, eine Schere herausgeholt und demonstrativ mit ihr gespielt. „Ich frage mich, ob man damit seine Finger abschneiden kann“, habe Gibbs mit Bezug auf die Schere gesagt.
Statt sich mit der psychologischen Situation der Soldaten auseinanderzusetzen, hielten es die Pentagon-Oberen für angebrachter, die Brigade den Medien als Paradebeispiel für die militärischen Fortschritte in Afghanistan vorzuführen. Einen Monat nach dem Hubschrauber-Vorfall – und vier Wochen vor Beginn der Mordserie – traf Admiral Mike Mullen, der Vorsitzende der Joint Chief of Staff (Vereinigter Generalstab), zu einem Besuch ein. Er erinnerte die Mitglieder der 5. Stryker-Brigade daran, dass die Counter-Insurgency-Taktik nur dann erfolgreich sein könne, wenn man die Herzen und Köpfe der Bevölkerung gewinne, indem man sie beschütze. „Wenn wir Zivilisten töten“, warnte er, „werden wir strategisch verlieren.“
Gibbs hatte andere Vorstellungen, wie man die Moral des 3. Platoon wieder auf Vordermann bringen könne. Kurz nach seiner Ankunft erklärte er seinen Soldaten, dass sie nicht passiv auf einen Anschlag der Taliban warten müssten, sondern präventiv gegen Einwohner von Städten vorgehen könnten, die als Taliban-Sympathisanten bekannt seien. „Gibbs“, so Morlock, „sprach mit uns allen über diese Vorgehensweise – und erinnerte uns daran, dass diese Afghanen doch nichts als Wilde seien. Und dass wir gerade einen Truppführer verloren hätten, weil ihm diese Wilden mit Sprengsätzen die Beine weggeblasen hätten.“ Einen Afghanen zu töten – egal wen – war eine Möglichkeit, sich für diesen Verlust zu rächen.
Die Idee setzte sich fest. Ob sie nun ihren täglichen Aufgaben nachgingen, einen Joint rauchten oder „Warhammer“ auf der Video-Konsole spielten: Die Soldaten der 2. Kompanie redeten andauernd über mögliche Morde an Afghanen. Ein Szenario, halb „im Scherz“ entwickelt, sah vor, mit dem Stryker-Transporter in ein Dorf zu fahren, Süßigkeiten hinauszuwerfen – und die Kinder, die dem Transporter nachlaufen würden, einfach zu erschießen. Ein ähnliches Szenario bestand darin, die Süßigkeiten nur nach vorne und hinten zu werfen und die Kinder dann zu überrollen. Einem dritten Plan zufolge wollte man auf einen Sprengstoff-Anschlag der Taliban warten, um so eine Entschuldigung zu haben, auch auf Zivilisten schießen zu können. Auf diese Art, so die Soldaten, „könnte man im Umfeld der Explosion auf jeden schießen, ohne nachher Ärger zu bekommen“.
In einem Telefonat sagte Morlock, der in einem Militärgefängnis im Bundesstaat Washington einsitzt: „Unsere Einsätze fanden immer in üblen Gegenden statt, und wir konnten nichts daran ändern. Ich denke, dass wir deshalb das Heft selbst in die Hand nahmen.“
Nach dem Mord an dem Jungen in La Mohammad Kalay war die Stimmung im 3. Platoon schlagartig besser. „Sie klatschten sich ab“, so ein Soldat, „und gratulierten sich dazu, den Burschen erledigt zu haben.“ Sie steckten den Körper in einen Leichensack und luden ihn auf den Stryker, um damit zum Camp zu fahren. Dort angekommen, erzählten sie selbst Soldaten, die sie kaum kannten, umgehend von dem Vorfall.
Ein paar Stunden später, als sie zu einer Routine-Untersuchung mussten, weihten Holmes und Morlock Alyssa Reilly in ihr Geheimnis ein, eine blonde, hellhäutige Ärztin, die bei den Männern im Camp hoch im Kurs stand. Abends, als sie noch auf einen Besuch vorbeikam, spielte man zusammen Karten. Als es um den Spieleinsatz ging, meinten Holmes und Morlock, dass sie um einen Finger spielen würden. Sie warfen den Finger, den Gibbs von der Leiche geschnitten hatte, auf die Karten. „Ich fand es ekelig“, so Reilly zu den Ermittlern.
Besonders Morlock – der offensichtlich in keiner Weise befürchtete, für den Mord belangt zu werden – konnte nicht an sich halten, den Kameraden von allen Details zu erzählen. Noch am selben Abend hatten sich einige Soldaten in einen Stryker zurückgezogen, um ungestört einen Gute-Nacht-Joint zu rauchen – im Camp eine weit verbreitete Routine. Das Haschisch, das von den Dolmetschern organisiert wurde, war ein fester Bestandteil im Tagesablauf. Man rauchte eigentlich ununterbrochen: in den Fahrzeugen, in den Baracken, selbst auf den portablen Toiletten. Nun, im panzerartigen Inneren des Strykers, umgeben von Kabeln, Periskopen und Wärmebild-Computern, ließ Morlock den Joint kreisen und erzählte die Einzelheiten: wie er penibel darauf geachtet habe, den Abreißknopf und den Sicherheitssplint der Granate nicht auf dem Boden liegen zu lassen (um so zu vermeiden, dass der Sprengkörper später als US-Granate identifiziert werden würde), und wie er auch die letzten Spuren der weißen Sprengladung bei Mudins Leiche verwischt habe.
Bevor die US-Army in Personalnot geriet, wäre Morlock eines der Problemkinder gewesen, auf die man dankend verzichtet hätte. Er wuchs – gleich in der Nähe von Sarah Palin – in Wasilla/Alaska auf; seine Schwester war mit Palin-Tochter Bristol befreundet, mit Palin-Sohn Track spielte Morlock Hockey. Zu dieser Zeit hatte er stets Ärger am Hals – wegen Trunkenheit und Schlägereien, Fahrens ohne Führerschein, Fahrerflucht nach einem schweren Unfall. Selbst nach seinem Eintritt in die Armee sollte sich an seinem Verhalten wenig ändern. 2009, einen Monat vor seinem Einsatz in Afghanistan, wurde er wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angezeigt, nachdem er seine Frau mit einer Zigarette verbrannt hatte. Nach seiner Ankunft in Afghanistan warf er sämtliche dort verfügbaren Drogen ein: Opium, Haschisch, Ambien, Amitriptyline, Flexeril, Phenergan, Kodein und Trazodone.
Die Nachricht von dem Mord verbreitete sich schnell, auch im Familien- und Freundeskreis. Soldaten mailten Fotos an ihre Freunde in den USA und sprachen beim Heimaturlaub über den Vorfall. Am 14. Februar, drei Monate vor dem Beginn der Ermittlungen, schickte Private First Class Adam Winfield eine Facebook-Nachricht an seinen Vater in Cape Coral/Florida. Winfield, 21 Jahre alt und ein hagerer Bücherwurm, war sauer, weil ihn Gibbs diszipliniert hatte. „Es gibt Leute in meinem Platoon, die sogar für einen Mord nicht belangt werden“, schrieb er seinem Vater. „Jeder weiß ziemlich genau, dass es (der erste Mord) inszeniert war … und alle schauen sie weg.“ Winfield fügte hinzu, dass das Opfer „ein völlig unschuldiger Junge“ gewesen sei, der auf dem Feld gearbeitet habe.
Winfield hielt auch im Folgenden seinen Vater via Facebook auf dem Laufenden. „Adam schrieb mir, dass die Gruppe einen anderen Zivilisten abknallen wollte“, so Chris Winfield, selbst ein Kriegs-Veteran, gegenüber Ermittlern. „Sie wollten ihn töten und ihm dann eine AK-47 in die Hand drücken, damit er wie ein Feind aussah.“ Winfield Senior war alarmiert und rief in der Lewis-McChord-Kaserne in Washington an, wo Morlock anfangs stationiert war. Er erzählte dem wachhabenden Feldwebel von den Vorfällen. Laut Winfield habe der Feldwebel allerdings wenig Interesse gezeigt und konstatiert, dass „solche Sachen nun mal passieren“. Man „werde den Vorfall untersuchen, sobald Adam wieder zu Hause“ sei. Tragischerweise wurden von den Kommandierenden in der Kaserne keine weiteren Schritte eingeleitet.
In Afghanistan hatte Winfield inzwischen Zweifel, ob er den Vorfall wirklich melden sollte. Er hielt die Morde für inakzeptabel, aber er hatte sich endlich einen Platz im „Kreis des Vertrauens“ erarbeitet, den Gibbs etabliert hatte. Gibbs hatte Winfield zunächst als Weichling eingestuft, der „zu schwach“ sei, um ins sogenannte Kill Team aufgenommen zu werden. Winfield bedrängte daraufhin seinen Vater, nicht erneut die Army zu kontaktieren, da er sonst um sein Leben fürchten müsse. Gibbs habe ihn gewarnt, dass er – wenn er nicht den Mund halte – „in einem Leichensack nach Hause fahren“ würde. Sein Vater stimmte zu, den Vorfall unter Verschluss zu halten.
Da sie nach dem ersten Mord in keiner Weise belangt worden waren, gingen die Männer des 3. Platoon inzwischen davon aus, weiterhin ungestraft morden zu können – vor allem, wenn es ihnen gelingen würde, dem Opfer anschließend eine unregistrierte Waffe in die Hand drücken zu können. Die Existenz einer Waffe war praktisch die Garantie, dass der Schusswechsel als Selbstverteidigung eingestuft würde – sogar nach den verschärften Vorgaben, die im Rahmen der Counter-Insurgency-Richtlinien umgesetzt worden waren. Eine untergeschobene, unregistrierte Waffe war faktisch eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte für die Soldaten, und im Chaos des Krieges waren diese Waffen problemlos aufzutreiben.
Die US-Army führt penibel Buch über jede Waffe und jeden Schuss Munition, den sie an die Soldaten aushändigt. Jede gezündete Granate wird registriert, jedes entleerte Magazin. Gibbs machte sich also daran, auf den unterschiedlichsten Kanälen Waffen aus der Grauzone zu besorgen. Er freundete sich mit Mitgliedern der afghanischen Nationalpolizei an und versuchte, ihnen raketengetriebene Granaten im Tausch gegen Pornohefte abzuluchsen. Er beschwatzte andere Truppenteile, ihm unter der Hand Munition zu besorgen. Er ließ beschädigte und ausrangierte Sprengkörper mitgehen – bis er ein kunterbuntes Arsenal zusammengewürfelter Waffen hatte: von alten Splittergranaten bis zu Landminen, die notdürftig mit Klebeband zusammengehalten wurden.
Sein liebstes Stück aber war eine einsatzfähige AK-47 mit zwei Magazinen, die er aus einem Polizeiwagen gefischt hatte, der in der Nähe der US-Basis in die Luft gesprengt worden war. Gibbs versteckte die AK-47 und die Magazine in einem Metallbehälter auf einem der Transporter. Ein Unteroffizier namens Emmitt Quintal stieß zufällig darauf und fragte sich, wofür die Waffen bestimmt seien. Seiner Aussage zufolge erklärte ihm Oberfeldwebel David Bram, dass „wir damit letztlich unseren Arsch retten, sollte etwas passieren“. Und tatsächlich: Zwei Wochen nach dem Mord an Gul Mudin passierte es.
Es war die Nacht des 27. Januar, und das Platoon war auf dem Weg zurück zum Camp. Plötzlich registrierten die Wärmebild-Kameras am Straßenrand Signaturen menschlicher Wärme – ein potenziell alarmierendes Indiz, da die Taliban mit ihren Sprengsätzen gerne im Schutz der Nacht operierten. Die Patrouille hielt in knapp 100 Metern Entfernung an, und einige Soldaten und ein Dolmetscher stiegen aus. Sie sahen, dass ein Mann zusammengekrümmt am Boden lag. Als sie näherkamen, stand der Mann auf und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Auf die Soldaten erweckte das den Eindruck, dass ihm entweder kalt sei – oder dass er darunter eine Selbstmord-Bombenweste trug.
Die Soldaten richteten ihre Scheinwerfer auf ihn und riefen ihm auf Pashtuni zu, sein Hemd nach oben zu ziehen. Aber der Mann, offensichtlich geblendet, lief im gleißenden Scheinwerferlicht nur hin und her und reagierte nicht auf ihre Anweisungen. „Er verhielt sich seltsam“, so einer der Soldaten später. Einige Minuten lang stolperte der Mann ziellos durch die Gegend, während die Soldaten Warnschüsse in seine Richtung abgaben.
Dann, ohne auf die Warnungen zu hören, kam der Mann auf sie zu. „Feuer“, schrie einer. Gibbs eröffnete das Feuer, mindestens fünf weitere Soldaten schlossen sich an. Innerhalb weniger Sekunden gaben sie rund 40 Schüsse ab.
Die Leiche des Mannes lag auf dem Boden. Wie sich herausstellte, war er völlig unbewaffnet. Späteren Ermittlungen zufolge muss er taub oder auch geistig verwirrt gewesen sein. Oberhalb seines Bartes war ein großer Teil seines Schädels durch die Kugeln zerfetzt worden. Gefreiter Michael Wagnon griff sich einen Teil des Schädels und nahm ihn als Souvenir mit.
Innerhalb von zwei Wochen hatte das Team den zweiten Zivilisten erschossen, und erneut hatten sie sich an der Leiche zu schaffen gemacht. Doch statt den Vorfall aufzuklären, suchten die Vorgesetzten zunächst nach einer Rechtfertigung. Als Leutnant Roman Ligsay über Funk Hauptmann Matthew Quiggle, den Kommandierenden des Platoon, über den Vorfall in Kenntnis setzte, war der außer sich vor Wut. „Er war davon überzeugt, dass wir grundlos einen Zivilisten erschossen hätten“, so Unteroffizier Quintal.
Quiggle gab Ligsay die Anweisung, so lange zu suchen, bis sie eine Waffe gefunden hätten. „Leutnant Ligsay war ziemlich panisch“, so Quintal. „Er war davon überzeugt, seinen Job zu verlieren.“ Eine Stunde lang schwärmte das Platoon aus und suchte im Schein ihrer Taschenlampen nach Waffen, konnte aber nichts finden.
Oberfeldwebel Bram forderte Quintal daraufhin auf, ihm das AK-47-Magazin zu bringen, das Gibbs im Transporter versteckt hatte. Der Gefreite Justin Stoner holte es. Ein paar Minuten später war in der Dunkelheit eine Stimme zu hören. „Sir“, rief Bram, „ich glaube, ich habe etwas gefunden.“ Leutnant Ligsay ging zu Bram und inspizierte das schwarze Magazin auf dem Boden. Als er kurz darauf die Suche abblies, atmeten die Angehörigen des 3. Platoon erleichtert auf: Natürlich wussten die Männer des „Kill Team“, dass die Aktion fingiert war, aber die Existenz einer Waffe machte aus der Schießerei einen Akt der Selbstverteidigung. „Der Vorfall war inszeniert, um den Eindruck zu erwecken, dass der Mann eine Waffe hatte“, so Stoner zu den Ermittlern. „Wir veranstalteten die verrückte Suchaktion nur, um die Erschießung des Mannes zu rechtfertigen. Tatsächlich war es nur ein tauber, geistig verwirrter alter Mann, den wir letztlich exekutiert haben.“
Den Regularien der US-Army folgend, gilt der Tod dennoch als selbstverschuldet. Da der Mann die Warnungen missachtete und sich auf die Soldaten zubewegte, wurde niemand zur Rechenschaft gezogen – auch wenn der militärischen Führung inzwischen wohl bewusst ist, dass die Schüsse von Männern abgefeuert wurden, die keinen Hehl daraus machten, unbewaffnete Zivilisten erschießen zu wollen.
Innerhalb des folgenden Monats sollte Gibbs einen weiteren Zivilisten umbringen. Es passierte im Rahmen der „Operation Kodak“ – einer Routine-Mission, bei der die männlichen Bewohner des Dorfes Kari Kheyl fotografiert und registriert werden sollten. An diesem 22. Februar verstaute Gibbs die gestohlene AK-47 in seinem Sturmgepäck. Während sich das Platoon durch das Dorf bewegte, ging er zur Hütte von Marach Agha, den er für einen Taliban-Sympathisanten hielt, und forderte ihn auf, vor die Tür zu treten. Gibbs feuerte mit der AK-47 einige Schüsse in die Hauswand und warf dann die Waffe vor Aghas Füße. Dann erschoss er den Mann mit seiner M4. Morlock und Wagnon gaben ebenfalls Schüsse ab. Nachdem der Überfall zu seiner Zufriedenheit inszeniert war, meldete Gibbs den Vorfall per Funk.
Feldwebel Sprague meldete sich als Erster. Gibbs gab an, dass er um eine Hausecke gekommen sei und einen Mann gesehen habe, der mit der AK-47 auf ihn schoss. Das Gewehr habe dann aber offensichtlich Ladehemmungen gehabt. Als Sprague die Kalashnikov in die Hand nahm, schien sie allerdings voll funktionstüchtig. Kurz darauf, als Sprague durch eine staubige Gasse ging, geriet er selbst unter Beschuss und drückte instinktiv auf den Abzug des Maschinengewehrs – und „es funktionierte einwandfrei“.
Sprague informierte Leutnant Ligsay über die Ungereimtheiten. Als die Leiche identifiziert wurde, berichteten Angehörige, dass Agha ein tief religiöser Mann gewesen sei, der nie in seinem Leben ein Gewehr in die Hand genommen habe. „Er wusste nicht mal, wie man eine AK-47 bedient“, sagten sie Ligsay. Doch einmal mehr wurde keine Untersuchung eingeleitet. Gibbs kam ungeschoren davon.
Nachdem ihre Vorgesetzten nun schon mehrfach weggeschaut hatten, verfes-tigte sich im „Kill Team“ der Eindruck, letztlich unaufgreifbar zu sein. Um auch Angehörige anderer Einheiten zu animieren, auf Zivilisten zu schießen, hatte Gibbs eine seiner illegalen Granaten Unteroffizier Robert Stevens gegeben, einem Freund aus einem anderen Bataillon. „Sie lag plötzlich auf meinem Schreibtisch“, so Stevens, der im medizinischen Team arbeitete. „Als ich die Kiste öffnete, sah ich den Granaten-Behälter und eine schmutzige grüne Socke.“ In der Annahme, dass die Socke ein Scherz sein müsse, warf er sie weg. Später, als er Gibbs traf, erwähnte er, die Granate erhalten zu haben.
„Und, die andere Sache auch?“, fragte Gibbs.
„Was, die Socke?“, so Stevens.
„Nein, was in der Socke war“, antwortete Gibbs.
Es stellte sich heraus, dass Gibbs in der Socke einen abgeschnittenen menschlichen Finger versteckt hatte.
Stevens ließ sich nicht lange bitten. Als sich sein Konvoi am 10. März auf dem Highway 1 befand, der wichtigsten Route, die Kandahar mit dem Norden verbindet, öffnete er die Haube des Strykers und warf die Granate. Obwohl sie einige Sekunden später als erwartet zündete, hinterließ sie Spuren am Transporter. Stevens begann umgehend, auf die Hütten am Straßenrand zu feuern und forderte seine Kollegen auf, es ihm nachzutun. „Beweg deinen Arsch hoch, Morgan“, schrie er. „Mach schon, schieß!“
Es gab keine Opfer zu beklagen, aber Stevens wurde mit zwei Medaillen ausgezeichnet. Später räumte er ein, den Vorfall aus zwei Motiven geplant zu haben: um die illegale Granate loszuwerden – und um seinen Kameraden den „Combat Infantryman Badge“ zukommen zu lassen. 14 Soldaten wurden tatsächlich ausgezeichnet (die Auszeichnung allerdings später widerrufen).
Stevens Taktik erwies sich indes als ein neues Modell, um Zivilisten ungestraft angreifen zu können. Gibbs kam zu der Erkenntnis, dass man sich potenziellen Zielen nicht nur zu Fuß nähern, sondern den Stryker als eine Schießscharte benutzen konnte und dadurch obendrein mobiler und – dank der Panzerplatten – auch geschützter war. In einer perversen Umkehrung der ursprünglichen Absicht erwiesen sich die Fahrzeuge, die im Kampf gegen die Taliban wenig effizient waren, nun als idealer Ausgangspunkt, um jene Bevölkerungsgruppen anzugreifen, die man eigentlich schützen sollte.
Am 18. März, bei einer Fahrt zum Flughafen von Kandahar, fuhr das Platoon durch einen dicht besiedelten Teil der Stadt. Den Aussagen eines Soldaten zufolge öffnete Gibbs die Haube des Strykers und warf eine Granate hinaus. Als Bombensplitter den Stryker trafen, schrie Gibbs: „RPG, RPG“ („Rocket-Propelled Grenade“ x{2212} Panzerfaust). Feldwebel Darren Jones, der zuvor mit Gibbs über inszenierte Angriffe gesprochen hatte, eröffnete umgehend das Feuer auf die Zivilisten, die in panischer Angst zu flüchten versuchten. Gibbs griff zu seiner M4 und schoss ebenfalls.
Ob die Salve Menschenleben forderte, ist nicht bekannt. Leutnant Ligsay, der sich im gleichen Stryker befand, ging davon aus, dass es sich tatsächlich um einen Angriff handele – und gab den Befehl zum Weiterfahren. Das Platoon kehrte auch nicht an den Ort zurück, um einen Report über mögliche Opfer anzufertigen – mit der Folge, dass eine Anklage nicht erhoben werden konnte.
Einige Wochen später, Ende März oder Anfang April, feuerten Angehörige des 3. Platoon an einem Tag gleich zwei Mal auf Zivilisten. Fünf Soldaten waren auf einer Patrouille durch ein Beeren-Feld im Zhari-Destrikt, als sie auf drei unbewaffnete Männer stießen. Laut Stevens befahl Gibbs seinen Leuten zu feuern, obwohl die Männer sich nicht bewegten und keine Gefahr darstellten. Alle fünf Soldaten schossen, aber die Männer konnten unverletzt flüchten. Gibbs war alles andere als begeistert. „Er machte uns klar, dass wir an unserer Treffsicherheit arbeiten müssten“, so Stevens, „weil offensichtlich niemand verletzt wurde.“
Am gleichen Abend bestiegen Mitglieder des 3. Platoon einen Kontrollturm, wiederum im Zhari-Destrikt, von dem aus man ein landwirtschaftlich genutztes Gelände überschauen konnte. Man hatte den Soldaten im Vorfeld gesagt, dass dort ein älterer Bauer arbeiten werde, dem man explizit die Erlaubnis dazu erteilt habe. Nichtsdestotrotz schossen zwei Soldaten auf den Mann, als handele es sich um einen bewaffneten Taliban. Wiederum trafen sie nicht, doch der verantwortliche Offizier war außer sich. „Der Bauer war nie ein Problem“, gab er später zu Protokoll. „Er war 60 oder 70 Jahre alt.“
An einem Morgen im Frühjahr rief Gibbs Morlock zu sich und zeigte ihm etwas, das wie eine kleine metallische Ananas aussah. „Schau her, Mann“, sagte er, „ich habe eine russische Granate aufgetrieben.“ Er erklärte, dass die Granate für den nächsten Anschlag ideal sei, da die Taliban bekanntlich überwiegend mit russischen Waffen ausgestattet waren. Morlock war von dem Vorschlag angetan. Noch am Abend zuvor hatte er im Schlafraum herumgetönt, dass er unbedingt einen weiteren Haji töten wolle. Einer der Anwesenden hielt es für leeres Geschwätz. „Ich dachte mir nichts dabei“, sagte er später den Ermittlern. „Soldaten erzählen viel, wenn der Tag lang ist.“
Am Morgen des 2. Mai war das Platoon auf einer Patrouille in Qualaday, nur ein paar Kilometer vom Camp entfernt. Die Einsatzleiter betraten das Haus eines Mannes, der zuvor bereits wegen Besitzes von Sprengstoff verhaftet worden war. Der Rest des Platoon streifte durchs Dorf, ohne die prüfenden Augen der Vorgesetzten befürchten zu müssen.
Anwesende Soldaten hörten, wie Morlock Winfield im Umgang mit Granaten instruierte: Bei der Explosion müsse er unbedingt flach auf dem Boden liegen. Dann entfernten sich beide, von Gibbs begleitet. In einem Gebäude, in dem sich zahlreiche Kinder aufhielten, griffen sie sich einen Mann mit einem weißen Bart und führten ihn hinaus. „Er schien völlig friedlich“, so Winfield. „Er machte keinerlei Anzeichen von Feindseligkeit.“
Gibbs drehte sich zu seinen beiden Soldaten um. „Wollt ihr denKerl nun abmurksen oder nicht?“, fragte er. Morlock und Winfield stimmten zu, dass die Gelegenheit perfekt sei.
Gibbs führte den Afghanen eine nahe gelegene Böschung hinunter und zwang ihn auf die Knie. Dann beorderte er Morlock und Winfield hinter den Rand der Böschung, die gerade einmal gut drei Meter entfernt war. „Um ehrlich zu sein“, erzählte Morlock später, „hatten wir eine Heidenangst, selbst in Stücke gerissen zu werden, weil wir so verdammt nah dran waren.“
Als alle in Position waren, ging Gibbs hinter einer kleinen Mauer in Deckung und warf die Granate in Richtung des Afghanen. „Alles klar, Jungs“, schrie er, „macht ihn fertig. Knallt ihn ab, knallt ihn ab!“
Als die Granate explodierte, eröffneten Morlock und Winfield das Feuer. Morlock schoss einige Salven mit seiner M4, Winfield, der ein moderneres SAW-Maschinengewehr hatte, ließ den Finger zwischen drei und fünf Sekunden am Drücker.
Gibbs schrie in Morlocks Richtung, sofort den nächsten Schritt des Planes umzusetzen: „Raff dich auf und steck ihm die Granate unter.“
Der Mann lag reglos am Boden. Einer seiner Füße war von der Explosion weggerissen worden, von dem anderen Bein existierte nur noch der Oberschenkel. Morlock lief hinüber und legte die russische Ananas-Granate neben die Hand des toten Afghanen. Gibbs trat hinzu, stellte sich direkt über die Leiche und schoss zwei Mal in den Kopf des Mannes, dessen Kiefer dabei völlig zersplitterte.
Später, nachdem es am Tatort wieder still geworden war – die Soldaten hatten die hysterisch schreiende Frau des Mannes und seine Kinder weggedrängt, Morlock hatte seine Version des Vorgangs per Funk durchgegeben -, packte Gibbs eine chirurgische Schere aus und schnitt den linken kleinen Finger des Mannes ab. Dann streifte er sich einen OP-Handschuh über, fasste in den Mund des Mannes, zog einen Zahn heraus und gab ihn Winfield. Winfield schaute sich den Zahn eine Weile an und warf ihn dann achtlos weg.
Diesmal ließen sich die Dorfbewohner aber nicht so leicht beruhigen. Es stellte sich heraus, dass der Tote ein friedliebender Geistlicher namens Mullah Allah Dad war. Zwei Tage später, bei einer Gemeinderatsversammlung, an der auch Hauptmann Quiggle teilnahm, kam es zu einem Aufruhr. Der Rat-Älteste steigerte sich in einen wütenden Angriff auf das 3. Platoon. „Er sagte uns auf den Kopf zu, dass wir dem Mann die Granate untergeschoben hätten, um ihn dann zu ermorden“, gab Leutnant Stefan Moye zu Protokoll, der Quiggle begleitet hatte. Statt aber eine Untersuchung einzuleiten, schickte Quiggle am nächsten Tag Moye nach Qualaday, um dort die Wogen zu glätten. Mit Gibbs in seinem Gefolge stieß Moye auf zwei ältere Dorfbewohner, die bestätigten, Mullah Allah Dad mit einer Granate gesehen zu haben. Erleichtert bat Moye sie darum, die Nachricht im Dorf zu verbreiten. „Das sind genau die Vorfälle, die die Taliban gerne ausnutzen, um Einheimische im Kampf gegen uns zu rekrutieren“, sagte er.
Nachdem seine Mission erfolgreich abgeschlossen war, kehrte Moye mit dem Gefühl ins Camp zurück, dass nun alles wieder seinen geregelten Weg gehen würde. „Von dem Tag an“, sagte er, „lief alles wieder normal.“
Die Lage wäre wohl „normal“ gewesen und die Morde hätten sich fortgesetzt, wenn nicht etwas passiert wäre, was als ein banaler Zoff zwischen Bettnachbarn begann. Um Mitternacht des Tages, an dem Moye von der turbulenten Gemeinderatsversammlung zurückkehrte, be-trat der Gefreite Stoner das Hauptquartier der Kompanie, um eine Beschwerde einzureichen. Stoner, der auf dem Highway 1 dabei geholfen hatte, das AK-47-Magazin dem ermordeten Afghanen unterzuschieben, machte die Aussage, es nicht mehr ertragen zu können, dass andere Soldaten der Einheit sein Zimmer als „Haschisch-Qualmbude“ missbrauchten. Da er Angst hatte, dass der Geruch entdeckt werde und er womöglich aus der Army entlassen würde, habe er sie aufgefordert, sich für ihre Hasch-Runden einen anderen Ort zu suchen. Die gescholtenen Kameraden hätten daraufhin zwar die Batterie aus dem Rauchmelder entfernt, sich ansonsten aber über seinen Wunsch hinweggesetzt. „Sie haben das Zimmer derart zugequalmt, dass es dort unablässig stank“, sagte Stoner. „Ich hatte Angst um meinen Job.“
Er wolle nicht als Denunziant auftreten und schon gar nicht seine Kameraden in irgend etwas reinreiten, sagte er dem diensthabenden Unteroffizier. Doch dann, inzwischen sichtlich aufgebracht, erwähnte er, dass „er und ein paar andere Jungs auf dem Highway 1 einen Einheimischen exekutiert“ hätten. Dem Unteroffizier schien die Schilderung nicht gerade glaubwürdig, und er verzichtete darauf, seine Vorgesetzten zu informieren. „Ich hatte den Eindruck, dass der Junge einfach gereizt war und jemanden brauchte, mit dem er darüber sprechen konnte“, gab er später zu Protokoll. Er versicherte Stoner, dass man das Haschisch-Problem diskret lösen und seine Identität nicht publik machen würde.
Diskretion war allerdings nicht unbedingt eine Stärke dieser Truppe. Am nächsten Tag wussten alle Beteiligten, dass Stoner sie angeschwärzt hatte. „Alle kriegten den Koller“, so Quintal. Gibbs, der mit Haschisch nichts am Hut hatte, trommelte die Mitglieder des „Kill Team“ zu einem Meeting in seinem Zimmer zusammen. „Wir müssen für die Situation mit Stoner eine Lösung finden“, sagte er angeblich. „Ratten gehören ausgeräuchert.“
Am 6. Mai betraten Gibbs und sechs weitere Soldaten Stoners Zimmer, schlossen die Tür ab und nahmen ihn sich vor. Sie griffen ihn am Hals, zerrten ihn auf den Boden und warfen sich auf ihn. Sie traten hart zu, achteten aber darauf, dass am Kopf keine sichtbaren Spuren entstanden. „Ich bin seit vier Jahren in der Army“, rief Morlock und trat Stoner in den Magen. „Wie kannst du es wagen, so etwas mit mir zu machen?“ Bevor sie das Zimmer verließen, traten sie Stoner noch einmal in die Genitalien und spuckten in sein Gesicht.
Ein paar Stunden später kamen Gibbs und Morlock zurück. Stoner saß auf seinem Bett, noch immer benommen von den Schlägen. Morlock erklärte ihm, dass sich der Vorfall nicht wiederholen würde, sollte Stoner den Mund halten, und zwar „von dieser verdammten Sekunde an“. Sollte sich Stoner erneut als Kameradenschwein erweisen, so Gibbs, würde er ihn auf der nächsten Patrouille umbringen. „Nichts leichter als das“, sagte er – und malte ihm aus, wie er anschließend seine Leiche in den Hesco-Barrikaden verstecken würde, jenen Bollwerken, die zum Schutz um die US-Camps aufgestellt werden.
Gibbs griff in seine Tasche und holte einen Stofflappen hervor. Er faltete ihn auf, holte zwei abgeschnittene Finger mit losen Hautfetzen heraus und warf sie Stoner vor die Füße. Wenn Stoner nicht so enden wolle „wie dieser Bursche“, so Morlock, solle er „besser seinen gottverdammten Mund halten“. Er habe „schließlich genug Übung“, was das Töten anging.
Stoner hatte nicht den leisesten Zweifel, dass Morlock seine Drohung wahrmachen würde. „Ich bin mir sicher, dass er mich umgebracht hätte, wenn er die Gelegenheit gehabt hätte.“
Für das Kill Team aber sollte die Prügelei der Anfang vom Ende sein. Als eine Ärztin Stoner am nächsten Tag untersuchte, sah sie auf dem ganzen Körper Blutergüsse. Und sie sah auch ein Riesen-Tattoo auf seinem Rücken. Neben einem grinsenden Totenkopf und zwei Sensenmännern stand dort in altertümlichen Lettern: „What if I’m not the hero, what if I’m the bad guy.“
Stoner wurde zu einem Gespräch mit den internen Ermittlern geschickt. Als er dort von dem Prügel-Vorfall erzählte, erwähnte er auch, wie Gibbs ihm die zwei abgeschnittenen Finger vor die Füße geworfen hatte. Die Ermittler wollten wissen, wie Gibbs an die Finger gekommen sei. Stoner erklärte, dass das Platoon eine Menge unschuldiger Zivilisten umgebracht habe.
An diesem Punkt wurden die Ermittler hellhörig und forderten Stoner auf, mit seiner Geschichte von vorne zu beginnen. Wann genau hatte das Platoon Zivilisten getötet? Stück für Stück rückte Stoner mit der Wahrheit raus und nannte Namen, Orte und Zeiten.
Andere Mitglieder des Platoon wurden einbestellt und befragt. Viele bestätigten Stoners Version, ja lieferten sogar weitere Einzelheiten. Morlock erwies sich als besonders gesprächig und hatte auch keine Einwände, das Gespräch mit einer Kamera aufzeichnen zu lassen. Entspannt und nonchalant beschreibt er auf dem Video, wie die Morde im Detail abliefen.
Morlocks Geständnis löste eine hektische Suche nach Indizien aus. Ein Spezialisten-Team wurde zum Camp Ramrod geschickt und untersuchte umgehend die Hesco-Barrikaden, die sich in der Nähe von Gibbs‘ Baracke befanden. Und genau an dem Platz, den ihnen Morlock beschrieben hatte, fanden sie eine leere Wasserflasche mit Stoffresten und zwei abgetrennten Fingern. Doch als die Ermittler die Fingerabdrücke verglichen, erlebten sie eine Überraschung: Die Abdrücke stimmten nicht mit denen überein, die sie inzwischen in ihre Datenbank aufgenommen hatten. Entweder waren ihre Unterlagen fehlerhaft – was durchaus möglich war -, oder aber es gab noch mehr Tote als bislang bekannt.
Am 23. März wurde Morlock zu 24 Jahren Haft verurteilt, nachdem er sich bereit erklärt hatte, gegen Gibbs auszusagen. „Die Army will Gibbs“, sagte einer der Verteidiger. „Sie wollen ihn einbuchten und dann zur Tagesordnung übergehen.“ Gibbs betont weiterhin, dass alle drei Fälle, an denen er beteiligt war, „legitime Kampfeinsätze“ gewesen seien. Drei andere Untergebene – Winfield, Holmes und Wagnon – beteuern ebenfalls ihre Unschuld.
Von den anderen Mitgliedern der „Bravo Company“ sind fünf Soldaten für geringfügigere Vergehen verurteilt worden: Drogenmissbrauch, das Einstechen auf eine Leiche, die Strafaktion gegen den Gefreiten Stoner. Zwei weitere Soldaten müssen sich noch wegen ähnlicher Vergehen verantworten. Unteroffizier Stevens wurde bereits im Dezember zu neun Monaten verurteilt, nachdem auch er sich bereit erklärt hatte, gegen Gibbs auszusagen. Er wurde zudem degradiert, durfte aber – trotz Protestes der Militär-Staatsanwälte – in der Army bleiben.
Offiziere oder andere Vorgesetzte wurden bislang nicht angeklagt. Im letzten Oktober begann die Army mit einer internen Untersuchung, die von Brigade-General Stephen Twitty geleitet wurde. Die entscheidende Frage war: Waren Offiziere für die Vorgänge mitverantwortlich? Die Ergebnisse der Untersuchung, die im Februar beendet wurde, blieben allerdings unter Verschluss. Und die Army verweigert jegliche Auskünfte darüber, ob Verantwortliche für das 3. Platoon diszipliniert wurden oder nicht. Aber selbst wenn diese Vorgesetzten nicht konspirativ an den Taten beteiligt waren, so ignorierten sie doch mehrfach eindeutige Warnsignale und unternahmen nichts gegen den tödlichen Rassismus, der sich in ihrer Einheit breitgemacht hatte.
Die Ressentiments gegen Afghanen saßen so tief, dass Morlock bei seinem Video-Verhör auch nicht ansatzweise Reue für seine Taten zeigte. „Keiner von uns im Platoon, auch die Vorgesetzten nicht, geben einen Dreck auf diese Leute.“ Er lehnte sich zurück und gähnte, als wolle er die Einschätzung seiner Vorgesetzten zu den Einheimischen illustrieren: „Es passiert immer mal Scheiße. Aber dann kriegt man vom Unteroffizier einen Klaps auf den Rücken und hört:, Guter Job. Fuck ‚em.'“
Der Autor dieser Geschichte, Mark Boal, wurde für das Drehbuch des Anti-Kriegsfilms „The Hurt Locker“ mit dem Oscar ausgezeichnet. Der Filmproduzent, Journalist und Autor gilt als Experte der Irak- und Afghanistan-Kriege. Boal lebt in New York.