Citizen Boris
Zu den schönsten Gewissheiten von Deutschen eines gewissen Alters gehört der 7. Juli 1985, der Sonntag, an dem Boris Becker in Wimbledon gegen den Südafrikaner Kevin Curren die All England Championships im Tennis gewann. In nichts waren wir uns so einig wie in Becker, der rotblond, tölpelhaft und ahnungslos die gesamte Elite an die Wand spielte, ein 17-jähriger Hüne aus der Provinz, der trotz seiner Wuchtigkeit mit einer merkwürdigen Anmut den Ball schlug. Der sich am Netz auf den Rasen warf, Selbstgespräche führte, den Aufschlag ins Feld donnerte wie ein Gottesurteil und in Wimbledon unzerstörbar schien, bis er irgendwann in der zweiten Runde ausschied. Becker gewann auch in New York und in Melbourne – und nachdem er abgetreten war, da zeugte er ein Kind in der Wäschekammer eines Hotels.
Es ist klar, dass Boris Becker einer der Unantastbaren ist, welche Peinlichkeiten auch immer er begeht. Jamie Cullum ist mehr als zehn Jahre jünger als der Champion und kann dessen Anfänge kaum bewusst erlebt haben – aber für die Sendereihe „Durch die Nacht mit …“ wünschte er sich Becker, nicht umgekehrt. Der englische Pianist ist ein kleiner Wuschel von einiger Berühmtheit, er spielt keinen richtigen Jazz, sondern Bar-Musik, basierend auf Blues, etwa wie der Trompeter Till Brönner. Er weiß, dass Beckers Berühmtheit robuster ist -aber der Deutsche scherzt generös, Cullum sei der Rock’n’Roller, während er, Becker, nur ein paar Tennisturniere gewonnen habe.
Die beiden treffen sich an einem sonnigen Tag in London -und es zeigt sich, dass der daheim doch oft belächelte Boris Becker nicht nur ein Lebemann, sondern auch ein Weltbürger ist. Cullum holt ihn mit einem RollsRoyce samt Chauffeur ab – und schon am Eingang der Villa gibt sich Becker jovial, aber nicht gönnerhaft. Seine Haltung, die Gestik, die gut gelaunten Witzeleien -man denkt an Paul McCartney, der jeden Tag Paul McCartney sein muss, so wie Boris Becker eben Boris Becker zu sein hat. Er hinkt ein wenig, was gut zu dem Veteranen passt, der durch das Clubhaus jenes Vereins in Wimbledon führt, bei dem man nur Mitglied werden kann, indem man erbt oder das Turnier gewinnt. Man begreift noch einmal, dass sein Sieg auf diesem Gelände eine Mondlandung war.
Im Motorboot auf der Themse erkundigt sich Becker bei Champagner nach den Groupies in Cullums Gewerbe, doch der Jüngere redet sich umständlich heraus. Im Auto wechselt Becker ungerührt seine Hose, und um den Wagen versammelt sich eine kleine Menschenmenge. Dann speisen sie in einem Restaurant und verköstigen an der Bar einige Whisky-Sorten. Während des Essens unterbreitet Becker eine seiner typischen Lebensweisheiten: dass seine Familie seine Regierung sei und man die Weltläufte nicht ändern könne. Er konnte ja nicht einmal seinen Sohn dazu bewegen, Basketballspieler zu werden! Cullum mümmelt an seinem Burger.
Dann geht es zu einem Spielcasino, in dem Becker offenbar Stammgast ist. Er erklärt Poker und lässt Cullum gewinnen, und anschließend sagt der, das Gefühl sei „bad -in a good way“. Becker grinst genüsslich: „Good.“ In einem Jazz-Club spielt der Engländer ein wenig Schlagzeug und Piano. Derweil ist es Nacht geworden. Boris Becker überlässt seinem Bewunderer den Rolls-Royce, steht mit dem Kleiderbündel auf der Straße und ruft nach einem Taxi: „Take me home!“
Diese Nonchalance kommt wahrscheinlich nur mit einem Sieg in Wimbledon.
Arte, 5. Oktober, 0.20 Uhr