Britains bester Buchladen
Londons Camden Town war stets Hort der Gegenkultur - und der COMPENDIUM Bookstore Mekka des literarischen Undergrounds
Ist man an Wochenenden in London ein wenig zu spät dran, wird man wenigstens nicht in der U-Bahn zerquetscht und kann über ausgestorbene Bürgersteige spurten. Es sei denn, man muß nach Camden Town. Zu dem Straßenmarkt rennt freitags, samstags und sonntags alles, was jung ist und Tourist und nichts zu tun hat Dabei war Camden Town vor 25 Jahren nur einer von vielen armen, versifften Vororten.
Und weil auch arme, versiffte Vororte schön sein können und vor allem billig, ziehen sie meist junge Künstler an. Musiker und Idealisten. Bis dann einer darüber ein Buch verfaßt und alles berühmt macht Eines schreibt oder viele verkauft. So geschehen seit ’68, als Nicholas Rochibrd und Diana Gravill in Camden High Street No. 240 einen Laden als Zentrum für alternative Publikationen eröffneten: Compendium. Die Hippie-Intellektuellen aus dem Dunstkreis der Anti-Universität Londons waren es, die in den Norden der Stadt zogen, um Geld zu sparen und mit den Leuten herumzuhängen. Denn die griechisch-irische Gegend hatte immer schon einen bohemehaften Touch. Es gab einen Kanal, der sich entlang verwilderter Stuckvillen, Trauerweiden und Hausboote hinzog. Es gab Arbeiterrestaurants, wo man für wenig Geld Fish & Chips bekam. Es gab verqualmte Pubs mit authentischer Bodenständigkeit Es gab Platz und, vor allem, als man in den Sechzigern Studentenwohnheime hochzog und Bulldozer ganze Straßen für neue Sozialwohnungen planierten, das Gefühl, daß die Welt plötzlich in Bewegung geriet In der Chalk Farm Road hatte jemand die Idee, in einem Theater namens Roundhouse neue Bands zu buchen und das ganze „Implosion“ zu nennen. Es wurde zum Anlaufpunkt für die Vorstadtjugend, die in Barbarella-Stiefeln und Mary Quant-Röckchen zu The Doors, Jefferson Airplane oder Jimmy Hendrix pilgerte. Die Abbey Road lieh einem Musikstudio ihren Namen. „Dingwalls Nightclub“ hatte damals bereits seine Pforten geöflhet, Händler stellten „Antikes“ in die Sonne, und heute sind Gegend und Markt ein Touristenmagnet erster Güte.
„Du kannt Dir gar nicht vorstellen, wie düster die 50er Jahre in England waren“, sagt Chris Rendei; der seit langem für Compendium arbeitet, ein schwerer Mann mit Vollbart, der sich nur ungern preisgeben will. „Düster und trostlos. Es waren die Beatles, die damals alles befreit hatten – und Drogen.“ Nun verpesten Räucherstäbchen die Luft, als wir bei herrlichem Wetter zum Pub gehen. Beidseitig quellen die Massen über den Bürgersteig auf die Straße und treiben zur Schleuse in Richtung Camden Lock.
„Vielleicht ist es kein Zufall, daß Compendium gerade in Camden gegründet worden ist Hier hat es stets eine literarische Tradition gegeben. Viele Schriftsteller haben hier gelebt.“ Chris deutet ins Ungewisse. „Heute wohnen sie alle in Gloucester Crescent, irgendwo da drüben_“
Wir biegen nach links ab und lassen Jeansläden, Doc Martins und T-Shirts endlich hinter uns. „Nur einen Schritt weiter stößt man auf keine Menschenseele“, meint Chris. So gehört auch der Pub, den wir betreten, fest zur Ikonographie des Ortes: „The Good Mixer“. „Hier sind früher die Bands einen heben gegangen“, grummelt Chris. „Aber heute kommen sie nicht mehr. Wegen der vielen Gaffen“
Um diese Zeit aber sind wir im Pub die einzigen. Und das, obwohl der Stadtteil gerade in den letzten Jahren ein kleines Comeback hatte. Nachdem es eine Zeit lang so ausgesehen hatte, als ob er denselben Weg wie Carnaby Street gehen und eher die Rituale der Pop-Kultur ab deren Inhalte verkaufen würde, kam mit der Re-Aktualisierung der 60er Jahre Anfang der Neunziger auch eine neuerliche Aufbruchsstimmung. Die Gegend mauserte sich erneut zum siebten Himmel für Indie-Bands, Szenegänger und Leute, die ganz konkret mit Bands wie Blur, Suede, Menswear, Elastica usw. assoziiert werden. In einem kürzlich erschienenen Artikel feierte der „Melody Maker“ Camden Town gar als „das für 1995, was Seattle für 1992 war“ – und fand nicht weniger als zehn Songs, in denen der Stadtteil mit der Postleitzahl NWI erwähnt wird.
Die Aufwertung durch den Zeitgeist hat Compendium nicht nötig gehabt Auch vor der neuen Camden-Renaissance hatte das Stadtmagazin „Time Out“ den Buchladen schon als den besten des Landes bezeichnet Ein typischer Schlauch, seit dem Umzug auf der Höhe von 234 Camden High Street zu finden, nur wenige Meter rechts vor der Kanalbrücke, auf deren breiten Pfosten bekifite Sonnenanbeter lungern. Ein großer Laden, länger als breit, vollgestopft bis unter die Decke. In dem Chaos steckt jedoch System, da das Innere in mehrere Sektionen unterteilt ist, über die Spezialisten wachen wie über ein eigenes kleines Reich.
„Es ist eigentlich gar nicht mal die Literatursektion, die heute das meiste Geld bringt“, erklärt Chris, „sondern die Abteilung mit Sachen über New Age, Psychologie, Persönlichkeitsentwicklung usw. Gerade da hat Compendium einen großen Einfluß gehabt Und die Philosophie-Sektion“, ergänzt er voller Überzeugung, „ist die beste der Welt“ Trotzdem hat die Literaturabteilung noch immer das publikumswirksamste Profil im ganzen Geschäft Um das zu verstehen, muß man wieder zurückgehen in jene Zeit, in der der Buchladen entstanden ist Großbritannien in den Sechzigern war eine konservative Gesellschaft im Wandel, in der der Alltag der meisten Menschen weit von dem entfernt war, was Retro-Rocker heute an dieser Zeit so glorifizieren. Vieles von dem, was heute selbstverständlich ist, mußte gegen teilweise beträchtlichen Widerstand erkämpft werden. Auf publizistischer Ebene äußerte sich der Widerstand in den berühmten Gerichtsverhandlungen, durch die die Veröffendichung vereinzelter Werke wie Lawrence‘ „Lady Chatterleys Lover“ oder Selbys „Last Exit To Brooklyn“ wegen angeblicher Obszönitäten verhindert werden sollte. Eine Haltung übrigens, die beiderseitig für klare gesellschaftliche Fronten sorgte und den heute fast bedeutungslosen Begriff Gegenkultur mit definitorischer Bedeutung versah.
„Es waren damals nur einige Hundert Leute, die etwas anderes wollten“, sagt Chris. „Natürlich kannten die sich alle. Viel ist damals übers Theater gelaufen. Aber die Rockstars haben dann die ganze Sache ins Rollen gebracht Paul McCartney hat einen Großteil der Londoner Avantgarde gesponsort Er war übrigens regelmäßiger Kunde bei uns.“
Vor allem war es die sprachliche und die kulturelle Verbindung mit Amerika und dem schwarzen Blues des Südens, der dazu beitrug, daß sich die Beatles in Liverpool formierten und nicht in Paris oder Rom. In diesem Zusammenhang lag die Leistung von Compendium darin, eine neue, kritische Leserschaft vor allem mit den Werken transkontinentaler Schriftsteller vertraut gemacht zu haben, die damals anderswo nicht zu erhalten waren. Der Publikumserfolg von Burroughs oder Pynchon mochte erst später kommen – in der jungen Camdener Szene fielen ihre Werke sofort auf fruchtbaren Boden.
Compendium wurde zu einem Knotenpunkt im Netzwerk des sich formierenden Untergrundes. Es war der Ort, wo man die Zeitschrift „Oz“ erhalten konnte, radikale Pamphlete, absurde Comics oder eben all die Buchet; die niemand sonst verkaufen wollte bzw. verkaufen durfte. Über die Jahre konnte man immer seinem Ziel treubleiben, jede Art von Gedrucktem der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die merkte das rasch. Seit den späten sechziger Jahren reisten sie an aus dem ganzen Land. „Sie kamen per Autostop von Edinburgh“, heißt es in einer vor zwei Jahren erschienenen Broschüre zum 25. Jubiläum des Geschäftes, „fuhren in psychedelischen Minibussen vor, Akademiker und Freaks, Buchhändler und Acid-Opfer“
1972 platzte der alte Laden aus allen Nähten, man zog in seine heutigen Räumlichkeiten um. Der neue Platz kam der Expansion der einzelnen Sektionen zugute: So war Compendium der erste britische Buchladen mit einer eigenständigen Abteilung für Frauenliteratur; die Sektionen für Lyrik oder Politik haben auf ihre Weise ebenfalls Standards gesetzt Nicht nur die Bücher, sondern auch die regelmäßig abgehaltenen Lesungen lockten neue Scharen in den Londoner Norden. William Burroughs signierte hier seine Werke, Allen Ginsberg tat es, und die Leute standen Schlange, als Nick Cave kam oder Mickey Hart von den Dead, der hier sein Buch übers Trommeln vorstellte. Schließlich begann man, das Angebot der Abteilungen zu katalogisieren und per Mail-Order zu verschicken, so daß von Compendium heute die Fäden in alle Welt hinausgehen. „Bücher kommen eben niemals aus der Mode“, schließt Chris weise.