Coldplay: Klasse für die Masse
Mit "A Rush Of Blood To The Head" etablierten Coldplay ein höheres Niveau im Mainstream: mit frischen Songs, überirdischen Melodien und viel Mut. Wer könnte ahnen, welch harter Kampf im vielleicht wichtigsten Pop-Album des neuen Jahrzehnts steckt?
Clocks‘ wird mir immer eine Lehre sein, meine Klappe zu halten“, erzählt Drummer Will Champion. „Als Chris mir den Hauptteil dieser Nummer zum ersten Mal vorgespielt hat, dachte ich, sie sei kompletter Müll. Dave Holmes, der mittlerweile unser Manager ist, sagte damals sogar, er fräße seinen Hut, wenn der Song je ein Radio-Hit würde. Dave und ich müssen nun also einsehen: Serviert uns die Hüte!“
Nur selten landet eine Band mit einem Album in den Charts, dessen Lieder so ohrwurmelig, so berührend und so richtungsweisend sind wie jene auf „A Rush Of Blood To The Head“ im Jahre 2002. „Clocks“ dokumentiert die Entwicklung Coldplays von der – einfach gesagt – anständigen Melancholie-Schrammelband hin zum dicken Sieger im Mainstream-Pop wie kein zweites Stück jenes Brückenpfeilers: Die neuen Stücke haben eine beneidenswerte Ruhe, viel Selbstvertrauen, sind Piano-verziert, anstatt sich von Rockhärte den Rücken sichern zu lassen, und wachsen in eine emotionale Höhe hinaus, die die einzelnen Mitglieder der Truppe um Jahrzehnte überleben wird. Zu Hunderten stehen Bands Schlange, beneiden diesen Mut, atmen die Melodien und wünschen sich nichts mehr, als beim Publikum dieselbe ehrliche Ergriffenheit auszulösen wie Coldplay.
Was auf dem fertigen Album so unbeschwert klingt, ist zuvor vom Songwriting bis in die Aufnahmen hinein zäh, widerspenstig und schlicht harte Arbeit. Bis kurz vor dem Erscheinen von „A Rush Of Blood To The Head“ steht das angesprochene „Clocks“ noch nicht mal auf dem Tracklisting. Alles beginnt mit einem anderen Stück, das wenige Monate darauf die großen Radiosender und Venues überschallen wird: „In My Place“. „Jedes unserer Alben hat einen ganz bestimmten Song als Dreh- und Angelpunkt“, sagt Sänger Chris Martin später, „auf ‚Parachutes‘ war dies ‚Yellow‘, auf‘ X&Y‘ sicher ‚Fix You‘ und bei ‚A Rush Of Blood To The Head‘ eben ‚In My Place‘.“ Doch dieser Song wird nicht bloß zur First Fat Lady dieser Platte, sondern ist auch das Element, welches die Band nach dem Debütalbum, nach jahrelangen Tourneen, erstem Amerika-Erfolg und logischer Sinnkrise weiter antreibt. „Wir haben 500 Millionen Takes gebraucht, um ‚In My Place‘ richtig aufzunehmen, und am Ende haben wir einfach alles per Computer so hineditiert, wie wir es uns vorgestellt hatten“, witzelt Chris noch heute.
„In My Place“ steigt im U.K. auf Platz zwei ein und bereitet den Weg für die internationalen Top-Platzierungen des Albums: „A Rush Of Blood To The Head“ verkauft bis heute weltweit über elf Millionen Exemplare – und das in einer Epoche, in der man dem Albumformat ein jähes Ende unterstellt.
Während der damaligen Schaffensphase jedoch fühlt sich die Band unwohl. Sie kämpft um ihr Leben: „Als wir die Aufnahmen etwa zur Hälfte im Kasten hatten, fuhren Chris und ich mit dem Zug rauf nach Liverpool“, erinnert sich Gitarrist Jon Buckland. „Wir hörten uns die bisherigen Tracks an und dachten, wir hätten das Übelste aller Zeiten aufgenommen. Zwei Songs gefielen uns, nämlich ‚Politik‘ und ‚In My Place , aber der Rest klang wie das Ende der Welt. Deswegen haben wir direkt begonnen, ‚The Scientist‘ zu schreiben.“ Diesmal ist selbst Will überzeugt. Als die anderen beiden ihm den Song vorspielen, weiß er: Dies wird einer seiner absoluten Favoriten – und nach „In My Place“ die zweite riesige Single des Albums.
Dann „Clocks“. Der „komplette Müll“, wie Will es beim ersten Hören bezeichnete. Aber der zurückhaltende Drummer hat auch schon mehrfach betont, dass man manchen Songs die Gelegenheit geben sollte zu wachsen und sich zu entwickeln, damit sie ihre ganze Schönheit preisgeben. Für „Clocks“ jedoch kommt die Rettung fast zu spät: Im Juni 2002 ist „A Rush Of Blood To The Head“ eigentlich fertig, eigentlich möchte es die Band nun der Plattenfirma übergeben und loslassen. Eigentlich. Doch zum Glück ist der Kampf, der vom öffentlichen Anspruch ausgelöste innerliche Druck der Band, noch nicht ausgestanden. Chris & Co. erhalten in buchstäblich letzter Sekunde zwei Monate Aufschub und kramen eine CD aus dem Regal, auf der „Songs for #3“ gekritzelt steht – die Demos aller Nummern, die es diesmal noch nicht auf das Album geschafft haben. Mehrere Stücke werden ausgetauscht, weil sie zu sehr nach „Parachutes“ klingen. Der große Gewinner: „Clocks“. Endgültig sind die Fußfesseln des Vorgängers gesprengt, endgültig wird „Clocks“ die dritte riesige Single des Albums und noch viel endgültiger wachsen Coldplay zur größten neuen Pop-Band des jungen 21. Jahrhunderts – zuerst für den Moment und drei Grammys, dann für alle weiteren Alben und die Musikgeschichte. Selbst die Großen wie U2 schauen sich um und fürchten seitdem um ihre Vormachtstellung: „Coldplay sind eine außergewöhnliche Band mit absolut außergewöhnlichem Talent“, schwärmt Bono und locht ein: „Für mich ist Chris Martin der wichtigste Songwriter seit Noel Gallagher, seit Ray Davies und seit Paul McCartney. Er steht auf einer Ebene mit Britanniens Besten. Wir haben immer ein Auge auf ihn gerichtet.“
Am Ende findet sogar Will seinen Frieden mit „Clocks“. Nach der ausgiebigen Welttournee zu „A Rush Of Blood To The Head“ berichtet er: „Der bisher beeindruckendste Moment meiner gesamten Karriere war der, als unser Lichttechniker zu uns kam und von seinem neuen Laser berichtete. Er sagte, wir brauchten eine Genehmigung von der Luftverkehrskontrolle, und wir dachten ‚jaja, ist klar‘. Aber dieser Laser strahlt von einem Nadelspitz-kleinen Punkt aus 25 Kilometer weit! Als Chris die Piano-Melodie von ‚Clocks‘ anschlug, setzte dieser wahnsinnige Laser ein – das sah aus wie ein Dach über der ganzen Welt.“