Das schwarze Album
Am 5. Dezember vor 40 Jahren erschien das Stones-Album "Beggars Banquet". Eine Foto-Ausstellung in London erinnert an die Entstehungsgeschichte.
Psychedelia hatten die Popwelt im Vorjahr beherrscht. Kaleidoskopische Klänge, kunterbunte Klamotten. Es gab kein Entrinnen, nirgends. Selbst Engelbert Humperdinck, gescheitelter Schmalzier, trat mit schockfarbengeblümter Krawatte vor sein ältliches Publikum. „Im Rückblick“, urteilt Keith Richards, „war es Kindergarten. Eine Mode, meh r nicht.“ Von der freilich auch die Stones nicht unbeeindruckt blieben. Vor allem Brian Jones blühte noch einmal auf. Kein Instrument war ihm zu exotisch, kein Fummel zu extravagant. „Brian liebte es, selbstverloren zu experimentieren, stundenlang“, so Bill Wyman, „und oft genug kam etwas Brauchbares dabei heraus.“
Wohl wahr, denn ein paar große Momente zeitigte der Stones-Flirt mit schillernden Sounds schon, vom Sitar-getriebenen „Paint It Black“ im Frühjahr 1966 bis zum Space-Abenteuer „2000 Light Years From Home“ Ende 1967. Keine gelben Unterseeboote, kein Marmeladenhimmel, kein Pillepalle. Dem Stones-Eskapismus ins Psychedelische wohnte das Psychotische inne, das Wahnhafte: „Have You Seen Your Mother, Baby, Standing In The Shadow?“
Im Sommer 1968 war Schluss mit Surrealismus, nur Nachzügler und Provinzler machten noch auf Phasing und Regenbogen-Lyrik. Die Stones waren ins andere Extrem verfallen. Die Musik auf ihrer gerade fertiggestellten LP „Beggars Banquet“ war schwärzlich und schlammbraun, eine schlierige, unheilvolle Melange aus Folk und Blues, aus konvulsiv zuckenden elektrischen und mehrspurigmarodierenden akustischen Gitarren. Es ging um Revolution, Krieg und Kreuzigung, um Schuld und Sühne, um läufige Minderjährige und malochende Fabrikarbeiterinnen, um verlorene Söhne und ersterbende Hottnung, um Straßenkämpfer und das Salz der Erde. Jimmy Miller hatte erstmals Studio-Regie geführt, auf Dichte und Druck setzend, weit jenseits jeder Pop-Gefälligkeit. Und Brian war im Laufe der Sessions vollends aus dem Band-Rahmen gerutscht, eine periphere Figur nur noch, mehr geduldet als gelitten. „Brian spielte auf ein paar Tracks“, erinnerte sich Jagger später, „nicht auf allen. Er war dazu nicht in der Lage. He was too fucked up in ms mind to blay, it bissed us off“.
Elvis Costello Guter Rat für die nächste Generation: Ein Gespräch mit dem neuen Teenstar Nick Jonas. Seite 14 Lucinda Williams Destruktive Affären waren für sie Gift. Mit dem Album Little Honey ist sie nun wieder obenauf. Seite 21 Paul McCartney Unter dem Namen The Fireman geht der Ex-Beatle seinem Faible für Experimente nach. Seite 31
Keith Richards übernahm beinahe sämtliche Rhythmus- und Lead-Parts. „Bnan verlor jedes Interesse an der Gitarre“, so Keith, „er rührte sie kaum noch an, seine Paranoia trieb immer seltsamere Blüten. Also blieb es an mir hängen, die Gitarren-Spuren zu belegen. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht, ich habe es einfach gemacht.“Jones selbst nahm zu seiner mählichen Entfremdung von der Band, die er immerhin einst gegründet und getauft hatte, erst 1969 Stellung, nachdem er ausgestiegen war, nur Monate vor seinem Tod. „Die Musik der Stones entspricht nicht mehr meinem Geschmack“, verlautbarteer, „their music has progressed at a tangent to my own musical tastes.“
Es stand also nicht alles zum besten im Stones-Camp, als sich Fotograf Michael Joseph am i8.Juni 1968 mit den Bandmitgliedern traf. Zwei Tage waren anberaumt worden für die Cover-Shootings von „Beggars Banquet“, zwei Tage, an die sich Joseph „erinnert als ob es gestern gewesen wäre“. Warum die Decca-Oberen ihn, den aufstrebenden Werbefotografen. verpflichteten, weiß er indes bis heute nicht. „Ich nehme an, dass ihnen meine Arbeit für ,White Horse‘-Whisky imponiert hat“, mutmaßt er, „im übrigen hat es mir sicher nicht geschadet, dem Image der Stones zu entsprechen .Ich hatte lange Haare, trug stets eine Sonnenbrille, kaufte meine Kleidung in der Carnaby Street und war gerade ein Jahr älter als Mick“.
Jedenfalls akzeptierten ihn die Stones, nachdem er sein Bettler-Bankett-Konzept erläutert hatte. Gemeinsam fuhr man zu den Anwesen, die Joseph ausbaldowert und bereits mit Requisiten bestückt hatte, mit mittelalterlichem Mobiliar und Kostümen. Sowie mit Tieren: drei Hunde, eine Katze, ein Schaf und eine Ziege. „Die Vierbeiner davon abzuhalten, sich an den aufgefahrenen Fressalien gütlich zu tun, war nervenaufreibender als der Umgang mit den Stones“, lacht Joseph, „am Ende parierten sie, wohl weil ich ein Megafon benutzte, sehr herrisch.“
Am ersten Tag schoss Joseph in Sarum Chase, ehedem Wohnsitz des viktorianischen Malers Frank Owen Salisbury in West Hampstead, am zweiten Tag zog die Karawane weiter nach Derbyshire zum Gemäuer von Swarkestone, erbaut 1632 und nun Kulisse für „ziemlich wilde und unvergessliche, weil ungeahnt spontane Sessions“, so Joseph. „Jumpin’Jack Flash“ hatte gerade die Charts-Spitze gestürmt, eine Nachricht, die für gehörig Euphorie sorgte. Des Herumlungerns vor der Ruine überdrüssig, inszenierten die Stones ein malerisches Cricket-Match und legten sich mit Spaziergängern an. „Mick was very confrontational“, erzählt Michael Joseph, Keith sei dagegen umgänglich gewesen, Bill habe alles ironisch genommen, Charlie eher stoisch. Brian sei ihm verschlossen vorgekommen, nervös und fahrig. Kein Wunder, denn am Vortag des Shootings war er verhaftet worden wegen Cannabis-Besitzes, doch diesmal drohte dem Wiederholungstäter eine Gefängnisstrafe. Was dessen letzter musikalischen Glanzleistung für die Stones, der klagenden Bottleneck in „No Expectations“, eine unfreiwillig reale Dimension verlieh: „Never in my sweet short life have I felt like this before“.
Die Fotos waren im Kasten, die LP-Veröffentlichung war für den 20. Juli vorgesehen, drei Tage später bereits sollten die Dreharbeiten für „Performance‘ beginnen, Jaggers Schauspiel-Debüt. Doch es kam anders.
Decca weigerte sich, „Beggars Banquet“ zum vereinbarten Termin herauszubringen. Nicht etwa wegen „Street Fighting Man“, das in Amerika auf den Index kommen sollte. Auch nicht wegen „Sympathy For The Devil“, das die Anglikanische Kirche zu Protest-Predigten veranlassen würde. Nein, Stein des Anstoßes war das Cover-Design. Nicht die Innenseite mit Josephs Bankett-Foto in Sepia-Tönen, von Jagger handkoloriert, sondern das Front-Cover: ein Klosett mit Graffiti. Das sei vulgär und geschmacklos, so Deccas Verdikt. „Absurd und lachhaft“, fand Mick Jagger in einem Interview das Veto seiner Plattennrma, „das Foto einer explodierenden Atombombe war ihnen genehm für ein Album-Cover, aber ein paar Wandkritzeleien in einer Toilette halten sie für obszön‘.“
Gegenseitige Schuldzuweisungen folgten, der Ton zwischen Band und Label wurde schärfer. Riesige Billboards in London, Manchester und Birmingham, die den August über „Beggars Banquet“ bewerben sollten, verpufften sinnlos. „Keine Ahnung, wann die Platte herauskommen wird“, beschied Keith Richards Mitte September einen Reporter, „vielleicht gar nicht, solange Decca uns wie ungezogene Kinder behandelt.“ Kaum jemand hatte den Cover-Entwurf gesehen und doch geisterte er als Politikum durch Feuilletons und Leitartikel. DerOktober verstrich, ohne dass eine Seite nachgab. Am 9.November fand eine letzte Krisensitzung in den Decca-Büros statt, bei der man sich nach stundenlangem Tauziehen auf einen Kompromiss verständigte, der „ein fauler sein musste“, wie Jagger hernach jedem mitteilte, der es hören wollte. John Peel zum Beispiel, in dessen Sendung vom 17. November Jagger die Decca-Bosse verantwortlich machte für den „ärgerlichen Zeitverlust“.
Als „Beggars Banquet“ am 5.Dezember endlich in die Läden kam, mehr als vier Monate später als geplant und zwei Wochen nach „The Beatles“, dem „White Album“ der Antipoden, war das „Plagiate-Geschrei groß. Denn das Stones-Cover war ebenfalls weiß, trug nur die Aufschrift R.S.V.P., die Abkürzung für „Repondez, s’il vous plait“, eine Floskel der Einladungs-Etikette aus einer längst verflossenen Epoche, als das Französische noch Weltsprache war. „Es macht mich wütend“, so Jimmy Miller damals, „dass im Musikbetrieb noch immer Heuchler und Dummköpfe das Sagen haben.“
Michael joseph blieb von den Querelen verschont, verfolgte sie nur aus der Ferne. Das fürstliche Honorar von 500 Pfund plus Spesen strich er dankend ein, die Negative verschwanden in einer Schublade. Erfreut nahm er zur Kenntnis, dass seine Fotos später die Hit-Compilation „Hot Rocks“ zierten, doch sollte es 40 Jahre dauern, bis er sie wieder hervorkramte.
Die großformatigen Zeugen zweier denkwürdiger Tage sind bis zum 5. Dezember in der Londoner Blink Gallery zu bewundern.