Marianne Faithfull: As Years Go By
Jagger stellte ihr nach, Bob Dylan betete sie an. In ihren Memoiren vor kurzem auch in Deutschland veröffentlicht, läßt Marianne Faithfull nicht nur die "Roaring Sixties" Revue passieren, sondern auch einige Herren reichlich alt aussehen...
Als Marianne Faithfull ihn im März 1964 zum ersten Mal auf einer Party traf, hätte sie ihn fast übersehen. Erst als sich Mick Jagger mit seiner Freundin Chrissie Shrimpton fetzte, und erst als dem Modepüppchen aus Chelsea im Eifer des Gefechts die falschen Wimpern abfielen, nahm sie Notiz.
Beim zweiten Treffen wurde sie von Jagger bereits angebaggert. „Mick versuchte mich dazu zu bringen, auf seinem Schoß zu sitzen. Was für ein dreister kleiner Flegel, dachte ich, so unreif.“
Marianne Faithfull war 17 Jahre alt und soeben vom Stones-Manager Andrew Loog Oldham entdeckt worden. Der sah in der Ex-Klosterschülerin „einen Engel mit großen Titten“, den man nach Herzenslust vermarkten könne, und hatte Jagger und Richards zum Erfolg verdonnert: „Ich will einen Song mit hohen Mauern und weiten Fenstern. Keinen Sex!“ Mit der ersten gemeinsamen Komposition der Glimmer Twins landete die Unschuld vom Lande ihren bis heute größten Hit. „As Tears Go By“ begründete nicht nur die Karriere von Jagger und Richards als Songwriter-Team; diese „kommerzielle Phantasie“ sollte Faithfulls Image bis ins hohe Rock’n’Roll-Alter bestimmen.
Beim dritten Aufeinandertreffen der Schönen mit dem Biest war Jagger total betrunken. „Er versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erregen, aber ich ignorierte ihn wie üblich und tat so, als sähe ich nicht, wie er mir zublinzelte und lange, bedeutungsvolle Blicke zuwarf.“ In einem „aufgesetzt tuntigen Tonfall“ machte er die Tochter der Baroness Erisso aus dem österreichisch-ungarischen Adelsgeschlecht der Sacher-Masochs schließlich an – um ihr dann, als er sich einen Korb holte, sein Sektglas in den Ausschnitt zu kippen. Nicht gerade die feine englische Art.
Daß die beiden trotzdem ein Paar wurden, kann Marianne Faithfull im Rückblick selbst kaum verstehen. „Mit 19 hätte ich eine Menge vernünftigere Dinge tun können, als Mick Jaggers Geliebte zu werden“, resümiert sie in ihrer kürzlich auch auf deutsch erschienenen Autobiographie, die sie mit dem britischen Rock-Journalisten David Dalton verfaßte. 44 Personen, darunter der Beatnik-Dichter Allen Ginsberg, die früheren Stones-Manager Andrew Loog Oldham und Allen Klein, Anita Pallenberg (erst langjährige Freundin von Brian Jones und dann von Keith Richards) dankt sie nach 47 Jahren und 367 Seiten – nur Jagger nicht. Zu tief sind offensichtlich noch immer die Narben, die der Stones-Boß ihr einst, in diesen ach so legendären sechziger Jahren, zugefügt hat Aufgewachsen in einem Elternhaus, das man wohl kaum als behütet bezeichnen kann, erzogen von einer Mutter, die zwanghaft „Illusionen von Noblesse“ nährte und nach der Scheidung von Mariannes Vater, einem monomanischen Exzentriker vom Britischen Geheimdienst, versuchte, in einem ärmlichen Reihenhaus in Reading eine Prinzessin aufzuziehen, wurde Marianne Faithfull flügge, als der Existentialismus schwer in Mode war. Sie schminkte sich die Lippen weiß wie Juliette Greco und wollte „Gauloises rauchen, pechschwarzen Kaffee trinken, mit verruchten Frauen und tragischen jungen Männern über das Absurde und Make-up reden“. In Clubs wie dem „Marquee“ oder „Ronnie Scott’s“ sah sie sich Zoot Money, John Mayall oder Nina Simone an – „ein neugieriger, rebellischer Teenager auf der Suche nach dem Verbotenen.“ Und, so hoffte sie, „vielleicht gibt es ja noch etwas Aufregenderes, als von einem verrauchten Jazzclub zum anderen zu latschen. Ich war wild entschlossen, zur Stelle zu sein, wenn es passieren würde.“
„Es“ sollte sich als die explodierende Szene der Roaring Sixties herausstellen, das Swinging London, die Jugend- und Protestbewegung der Nachkriegsgeneration, nicht zuletzt die Mutation der Rolling Stones von einer Keller-Combo zur größten Rock’n’Roll-Band der Welt.
Durch ihren Freund und späteren Mann, einen Nihilisten, der eine Galerie betrieb, Charlie Parker und Mozart hörte, sich mit seinen Ami-Freunden Heroin spritzte (das es damals in England praktisch auf Krankenschein gab), und bei dessen Eltern Paul McCartney zur Untermiete wohnte, hatte sie Fotografen, Popstars, junge Aristokraten und talentierte Nichtstuer kennengelernt, die die Londoner Szene „mehr oder weniger“ aus Langeweile „erfanden“. Nachdem sie mit „As Tears Go By“ selbst ins Rampenlicht gerückt und mit den Hollies und Kinks, mit Gene Pitney und Roy Orbison durch die Provinz getingelt war, „mietete sich Gott höchstpersönlich im Savoy Hotel ein. Bob Dylan kam nach London“. Und Faithfull klopfte voll banger Erwartung an seine Hoteltür.
Im amüsantesten Kapitel ihrer offenherzigen Memoiren schildert sie die Begegnung mit Dylan: „Zu dem Zeitpunkt war Dylan nichts Geringeres ab der allerhipste Mensch auf Erden. Der Zeitgeist durchfloß ihn wie elektrischer Strom. Er war mein existentialistischer Held, der krächzende Rimbaud des Rock, und ihn wollte ich mehr als jedes andere lebende Wesen kennenlernen. Ich war nicht einfach nur ein Fan – ich betete ihn an.
In dem Raum hinter der blauen Tür tummelten sich Hipster, Huren, Popstars, Kellner im Schwalbenschwanz, Folkmusiker, Manager, Blondinen, Beatniks und die Fleet-Street-Journaille. Es war wie im Film… mit Untertiteln. Du liebe Güte, es war sogar eine Filmcrew da. Als ich durch das Zimmer ging, folgten mir in einem stummen Kameraschwenk ein Dutzend Köpfe. Ich fand eine Ecke und versuchte zu verschwinden.
Während Bob redete, trank, auf seinen Gitarren herumklimperte und so tat, als passiere hier gar nichts, saßen wir auf dem Boden. Er ging aus dem Zimmer, kam wieder herein, setzte sich, hackte auf einer Schreibmaschine herum, telefonierte, ja, beantwortete sogar die dämlichsten Fragen, wenn er der Meinung war, daß dieses oder jenes Aufmerksamkeit verdiente. Ansonsten hätten wir auch unsichtbar sein können.
Ich war schon allein deshalb verwundert, weil ich überhaupt dort war. Ich hing also wirklich hier mit all diesen Besessenen und Elite-Bohemiens herum. Gleichzeitig versuchte ich, so schnell wie möglich zu kapieren, was in dem Raum ablief. Worüber redeten sie wohl im Allerheiligsten? Über das Wetter! Wahrhaftig, das war das Tischgespräch der Götter.
Sie waren gerade aus Nordengland zurückgekommen. ‚Und zwei Tage lang strömte der Regen vom Himmel.‘ So wie Dylan es sagte, klang es beinahe biblisch. Dylan war so mysteriös, daß alles eine andere Bedeutung anzunehmen schien. Wenn er um etwas bat, mit dem er seinen Kaffee umrühren konnte, überlegten die Leute erst einmal: ‚Meinte er einen Löffel?‘
Ich war von diesem coolen Typen auf Methedrin vollkommen überwältigt und wollte nicht die erste sein, die eine falsche Bewegung machte. Er stand schließlich auch in dem Ruf, bisweilen unglaublich fies zu sein. Mein Mund war trocken, mein Verstand setzte aus. Was, wenn ich etwas wirklich Dummes sagte? Die Pforten des Paradieses würden mir für immer und ewig verschlossen sein. Ich blieb also einfach sitzen und versuchte, schön auszusehen.
Jeden Tag, den ich dorthin pilgerte, hockte Dylan an der Schreibmaschine und hämmerte darauf herum. Er tippte entsetzlich schnell. Eine Zeitlang hatte er eine Rolle hartes englisches Toilettenpapier eingespannt. Es habe genau die rechte Breite für Liedtexte, behauptete er. Bob beugte sich über die große schwarze Remington, die Zigarette hing ihm aus dem Mundwinkel, das Urbild des fiebrigen genialen Künstlers im Schaffensrausch. Er brach ein Gespräch auch mittendrin ab und haute ein Lied hin, ein Gedicht, ein neues Kapitel seines Buches, einen Einakter. Das reinste Wunder! Wie machte er das bloß?!
Zumindest alles mit voller Absicht, um die Banausen, denen eine kurze Audienz gewährt worden war, zu beeindrucken und zu verwirren. Seht her, vor Euren eigenen Augen schmiert der junge Mozart eine Sonate hin!
Als es eines Nachts sehr spät geworden war und die Leute sich schließlich in den frühen Morgenstunden langsam verzogen, fand ich mich allein mit Dylan wieder, was ich bis dahin zu vermeiden getrachtet hatte, hauptsächlich weil ich fürchtete, ich würde mit der Situation nicht fertig. Er nahm in einem großen Polstersessel Platz und starrte mich so lange an, daß ich dachte, gleich löste ich mich in der verqualmten Luft des Zimmers in nichts auf.
,Willst du meine neue Platte hören?‘, fragte er. Ich kannte sie natürlich. Sie spielten ,Bringing It All Back Home‘ jeden Tag im Savoy. Er zeigte mir das Cover mit dem Foto von ihm und Sally Grossman. Ich wurde ganz flattrig.
Bisweilen sagte er etwas, ab beantworte er eine Frage. Zum Beispiel: ,Das sind Schnappschüsse aus dem Inneren meines Gehirns.‘ Oder: ,Wenn du den Ton findest, kommen die Worte einfach da heraus – es gibt mehr Dimensionen, wie beim Kubismus.‘ Die Erklärungen waren mindestens so obskur wie die Lieder.
Ich betete Bob Dylan als Dichter an. Aber es hingen eine Menge unausgesprochener Dinge in der Luft Was die Songs bedeuteten, begriff ich noch weitaus besser als alles, was sonst ablief. Bis ich dann mit einem Donnerschlag alles verstand, hatte mich nur ein Gedanke beherrscht: ,Hier bin ich im Allerheiligsten. Eine Privataudienz bei Seiner durchlauchtigen Hipheit! Bob Dylan erklärt mir seine Songs!‘ Aber ich wußte, es gab einen Preis dafür zu zahlen. So verschleiert dieses ganze wortwirbelnde Methedrin-Gequatsche war: Wir müssen annehmen, daß Anmache angesagt war.
Die sexuelle Seite des Lebens, besonders in Gegenwart des Göttlichen, ist mir noch nie leicht gefallen. Das ist meine Ur-Angst. Diese entsetzliche Furcht vor Sex plus Genie plus Ruhm plus Hipness. Ich schwebte zwischen seliger Hingabe und erbärmlicher Feigheit. Und typisch – ich entschied mich für die Feigheit.
Plötzlich war er wütend und fühlte sich zurückgewiesen. Wie konntest Du mich so zum Narren halten? Ich? Ihn zum Narren halten? Verdammt, ich wußte ja nicht mal, was hier gespielt wurde, ganz zu schweigen davon, daß ich jemanden zum Narren hielt! Aber es hatte doch ganz den Anschein, als hätte ich die Grenzen der Gastfreundschaft übertreten. Eine Pop-Gottheit hatte sich zu mir herabgeneigt, und ich hatte ihr die kalte Schulter gezeigt. Während er weiter schimpfte, saß ich wie versteinert da.
,Wie kannst du mir das antun?‘
,Ich tue dir doch gar nichts an, Bob!‘ Ich hätte die Wahrheit nie aussprechen dürfen: Ich bin schwanger und heirate nächste Woche.‘ Das haute rein. Er verwandelte sich in Rumpelstilzchen, ging zur Schreibmaschine, nahm einen Stapel Blätter, fing an, sie in immer kleinere Stücke zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen. ,Bist du jetzt zufrieden?‘, fragte er. Ich war Zeugin, wie das Genie seinen kleinen Koller kriegte. Wutentbrannt stürmte er hinaus. Ich blieb wie festgenagelt in meinem Stuhl sitzen. Einen Moment später kam er mit neuer Wut zurück und schmiß mich raus.“
Im Jahr darauf wurde Marianne adoptiert von Brian Jones und Anita Pallenberg, der sie zugute hält, die Stones mit der jeunesse dorée zusammengebracht zu haben. Mit ihren geckenhaften Outfits und dekadenten Manieren äfften sie den untergehenden Adel nach: „Wir waren jung, reich und schön, und die Zeiten – dachten wir – änderten sich.“ So wurden aus Popstars Kult-Ikonen. Und die Stones ergänzten ihren urwüchsigen Rhythm & Blues durch die Patina aristokratischer Dekadenz. Über Nacht waren sie plötzlich hip.
In Anita Pallenbergs Wohnung sah es allerdings aus wie in einer typischen 68er Kommune. Alles war ziemlich vergammelt. „Die Matratze lag auf dem Boden, im Ausguß stapelte sich das schmutzige Geschirr, die Poster fielen von den Wänden. Es war ein klassisches Künstleratelier: hohe Decken, Oberlichter, riesige Fenster und ein großer Raum mit einer Wendeltreppe zu einer Art Empore. Aus der Bude hätte man definitiv was machen können, aber während der gesamten Zeit, die Brian und Anita dort wohnten, blieb sie wie am Tag ihres Einzugs; nur ein paar Möbelstücke kamen hinzu und bizarre, mottenzerfressene ausgestopfte Tiere aus einem Film, den Anita in Deutschland gedreht hatte. Brian saß immer high auf dem Boden und erzählte, wie die Wohnung aussehen würde, wenn er sie herrichten ließe.
Anita und Brian waren wie zwei schöne Kinder, die einen heruntergekommenen Palast geerbt hatten. Sie luden jeden Tag Leute ein, warfen sich in ihre Pelze, Satin- und Samtgewänder und paradierten vor uns her. Wir hockten zu ihren Füßen und redeten über die phantastischen Dinge, die wir mit dem Königreich machen würden, wenn es denn unser wäre.
Hin und wieder kam Mick in der Courtfield Road vorbei. Immer sehr pingelig, er hatte einen absoluten Horror vor dem Boheme-Leben. Das schmutzige Geschirr im Abwaschbecken ekelte ihn so an, daß er nie lange blieb. Mick trat beinah auf wie der Besitzer. Er kam vorbei, inspizierte alles, vergewisserte sich, daß die Firma lief, rauchte einen Joint und verduftete.“
Im Anschluß an ein Stones-Konzert in Bristol landete Marainne Faithfull dann doch noch in seinem Bett. Nicht ohne ihn vorher getestet zu haben, ob er in Ordnung oder doch nur ein Idiot war: ,Wie hieß das Schwert von König Artus? Was weißt Du über den Heiligen Gral? Und wie hieß der Ritter, um dessentwillen Guinevre König Artus verlassen hat?‘
Jagger wußte die Antworten, durfte zur Belohnung mit ihr vögeln und schrieb daraufhin „Let’s Spend The Night Together“.
Alles in allem verhielt sich Jagger vorbildhaft. Er zog ihr die Schuhe aus und stellte sie zum Trocknen unter die Heizung. Er kaufte ihrem Sohn Nicholas ein Dreirad und überließ ihrer Mutter ein Häuschen. Er ersparte ihr (und sich) einen Auftritt vor Gericht, als ihm und Keith Richards wegen eines lächerlichen Drogendelikts der Prozeß gemacht wurde. „Mick war ein tadelloser Gastgeber, ständig in Bewegung, um etwas zu holen, ein lebhafter Gesprächspartner, der dauernd etwas Neues, Erstaunliches fand, in das wir uns vertiefen konnten. Und er hatte natürlich immer phantastische Schallplatten. Er war der größte Privat-Diskjockey der Welt.“ Sogar außerhalb der Saison brachte er Rosen mit.
Es half alles nichts. Marianne Faithfull machte sich außerhalb der Saison nichts aus Rosen. Sie war in Keith Richards verliebt (mit dem sie heimlich die „beste Nacht meines Lebens“ verbracht hatte), der in Anita Pallenberg verliebt war, die mit Brian Jones zusammen war.
Dem Establishment waren der ungeniert zur Schau getragene Hedonismus, die sexuelle Promiskuität, die bizarren Klamotten und die radikale Politik allerdings ein Dorn im Auge. Die Statthalter des bröckelnden Empire störten die Hippie-Idylle 1967 mit einer Reihe von Drogen-Razzien, die Jagger und Richards, später auch Brian Jones vor Gericht brachten. „Einen schrecklichen Moment lang sah es wirklich so aus, als würden wir alle vernichtet werden. Dafür, daß wir LSD nahmen und anschließend Gott sahen. Herr im Himmel!“
Als Faithfull ihren Freund im Knast besuchte, traf sie einen hilflosen, jämmerlich weinenden Jagger an. „Ich hatte keinerlei Mitgefühl für ihn. ,Gott, Mick, reiß Dich zusammen!‘, herrschte ich ihn an. ,Was sollen denn die Cops denken, wenn sie sehen, wie Du schlappmachst? Du bestätigst doch nur ihre Vorurteile. Sie halten Dich für einen Popstar-Bubi ohne Rückgrat‘.“ Und dann riet sie ihm, die Knast-Erfahrung als Song zu verbraten – „We Love You“.
Das fair play, womit sich die Briten gebrüstet hatten, stellte sich als Propaganda heraus. „Das grundsätzliche Vertrauen, das Leute normalerweise in ihr Land haben, existiert in England nicht mehr. In den Sechzigern rebellierten wir, weil wir fanden, es lohne sich, England zu verändern. Aber das trifft nun wohl nicht mehr zu.“
Doch der Warnschuß der Obrigkeit ging nach hinten los. Der Prozeß machte die Stones zu mythischen Märtyrern und ließ sie in die lichten Popularitätshöhen der Beatles aufrücken. Jagger erholte sich von dem Schock und machte weiter, als sei nichts gewesen. Keith Richards wurde dank seiner Renitenz im Zeugenstand zur Symbolfigur. Ein Volksheld mit Totenkopfring. Die Stones profitierten vom staatlichen Rohrkrepierer. „Ihr Ruf als gefahrliche, glamouröse Outlaws“ blühte auf. Faithfull, die bei der Razzia, nur mit einem Fellteppich bekleidet, im Kreis völlig bedröhnter Kerle angetroffen worden war, blieb auf der Strecke. „Nach der Razzia wurden wir alle auf die eine oder andere Weise zu den Gestalten, die wir angeblich waren. Ich endete als Drogensüchtige und Pennerin, und ich wurde es mit Inbrunst.“
Eine Urlaubsreise mit den Stones nach Tanger geriet zum Horror-Trip. Brian Jones hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Affen von Gibraltar seine Musik vorzuspielen – als die jedoch erschrocken auseinanderstoben, nahm er ihnen das persönlich übel. Am nächsten Tag brach er sich beim Versuch, Anita Pallenberg zu verprügeln, den Arm. Die illustre Reisegesellschaft rauchte Haschisch, bis sie sich nicht mehr rühren konnte und vergnügte sich mit einheimischen Nutten. Keith Richards ließ sich sogar seinen weißen Bentley runterfahren (soviel zum Thema Männer und ihre Autos), der die geschlagene Anita Pallenberg so tief beindruckte, daß sie Brian Jones endgültig die rote Karte zeigte und zu Keith überlief (soviel zum Thema Frauen und ihre Autos).
Sie küßten und sie schlugen sich. Marianne hatte nebenher Affären mit Frauen, Mick mit Männern, doch die spielten keine Rolle. Das Verwischen sexueller Grenzen gehörte in den kreativen Kreisen zum guten Ton.
Als Mick Jagger für „Performance“ vor der Kamera stand, erreichte die Kreativität ihren Höhepunkt. Jagger sollte einen verlebten Rockstar spielen, doch irgendwie war er nicht kaputt genug für diese Rolle. Faithfull schlug ihm deshalb vor, sich an Keith und Brian zu orientieren. Ein Vorschlag mit Folgen: Anita Pallenberg konnte nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden und ging mit Jagger ins Bett.
„So wie Schauspieler ihre Kostüme behalten, nahm Mick aus Performance‘ seine Persönlichkeit mit. Die Figur war auf seine Bedürfnisse hin maßgeschneidert, er mußte sie nie wieder ausziehen. Der Mann mit dem steinernen Herzen – diese Persönlichkeit tritt zum ersten Mal in Erscheinung, als Mick sich das Haar zurückstreicht und der rücksichtslose Schlägertyp wird, der für Geld alles tut. Der geldgierige Mick, ergebener Diener des Mammon.“
„Performance“ veränderte alles. Sexuell lief zwischen Mick und Marianne so gut wie nichts mehr. Darüber reden ging auch nicht, weil alle Beteiligten meistens bis oben hin zugekifft waren oder weil man „in England einfach nicht über Gefühlsdinge“ redet Weil sie zu anämisch war, verlor sie ihr Baby, das sie bereits Corrina getauft hatten. Sie führte ein Leben „wie im Harem: Luxus, Drogen und endlose Warterei, bis der Sultan sich bequemt, zu erscheinen“. Weil sie das Leben so anödete, ließ sie sich sogar von Tony Sanchez, dem Hof-Dealer der Stones, vögeln: „Mick erfuhr nicht allzu viel über diese Affäre. Wenn er es erfahren hätte, hätte er sich in seiner Verachtung für Frauen vollkommen bestätigt gefühlt“
Der sah das Leben weiterhin „als ewige Sonntagsbeilage“: „Mick wählte seine Persönlichkeit so sorgfaltig aus wie einen neuen Anzug. Wie Ronald Reagan hat er gelernt, eine komplexere Persönlichkeit zu spielen, als er selbst ist.“ Mit seinem „Talent, sich aufzublasen und zu protzen“ und Leute psychisch auszusaugen, brachte es Jagger es schnell zum Londoner Szene-König, der keine Einladung „zur Taufe eines neuen Enkelkindes eines unterbelichteten Peers“ ausließ.
Faithfull hatte gesehen, wie die Stones erst ihren Manager Andrew Loog Oldham und dann Brian Jones kaltgestellt hatten. Sie war schockiert vom Tod Brians, der im eigenen Swimmingpool ertrunken war. Sie erlebte, wie Keith nach Brians Tod sich dessen Image „des straucheinen, total bedröhnten Junkies, ständig auf der Schwelle zum Tod“, aneignete. Sie wollte nicht das nächste Opfer der Stones werden, aber sie stand oben auf der Liste.
Nach dem heuchlerischen Hyde-Park-Konzert, auf dem die Stones jede Menge Krokodilstränen für den schon vor seinem Tod abservierten Brian vergossen, flog sie mit Mick nach Australien, für die Dreharbeiten zu „Ned Kelly“. Auf dem Flug schluckte sie eine Überdosis Tuinal. Als sie sechs Tage später die Augen aufschlug, hatte Andrew Loog Oldham ein Greatest-Hits-Album aus ihren Platten zusammengestellt; das Cover zierte ein Trauerrand.
Auch sonst machte sie mit dem Musikgeschäft ihre eigenen Erfahrungen. Ihre Plattenfirma weigerte sich, den gemeinsam mit den Glimmer Twins geschriebenen Song „Sister Morphine“ zu veröffentlichen. Und heimlich belauschte sie ein Gespräch zwischen Jagger und Atlantic-Boß Ahmet Ertegun, als es um anstehende Vertragsverhandlungen ging: „Wenn wir 30 Millionen Dollar hinblättern, wollen wir in etwa die Garantie, daß das Ding nicht wegen Marianne platzt“
Um von Jagger loszukommen, konsumierte Faithfull immer mehr Drogen – Haschisch, LSD, Heroin. „Ich zerstörte mich, weil Mick mich nur so würde gehen lassen. Ich wollte lieber ein Junkie als mit ihm zusammen sein.“ Als Jagger 1971 in Südfrankreich Bianca heiratete, lebte Marianne bereits „auf der Mauer“, einer Ruine in Soho.
Faithfull trug noch immer ihre edlen Klamotten, aber die Staatstracht verschliß zusehends. Die Nachrichten vom Tod Jimi Hendrix‘, Janis Joplins oder Sharon Tates klangen nun wie News von einem anderen Stern. „Ich schien in gruseliger Übereinstimmung mit einer auseinanderbrechenden Welt zu sein. Das schreckliche Gefühl nahm überhand, daß wir es in den Sand gesetzt hatten.“
Faithfull fiel in den Abgrund. In einer Koks-Psychose zerschnitt sie sich das Gesicht Mit Eric Clapton und später mit Sid Vicious teilte sie sich den Dealer. Sie mußte bei Plattenfirmen die Klinken putzen – und wurde von Warner Brothers abgelehnt, weil sie Emmylou Harris zu ähnlich (!) sei. David Bowie ließ sie, als Nonne verkleidet, im Vorprogramm auftreten. Sie heiratete einen Punk, wohnte in besetzten Häusern und verdiente sich ihr Abendessen, indem sie von Wohnung zu Wohnung zog und den Leuten was vorsang. Produzenten gaben ihr blödsinnige Anweisungen wie: „Ich will, daß es klingt wie Lemminge, die ins Meer fallen.“ Mit „Broken English“, einem Song über Ulrike Meinhof, feierte sie 1979 ein nicht mehr für möglich gehaltenes Comeback. In New York lernte sie Willy DeVille und John Bryan kennen, der in den Neunzigern Schlagzeilen machen sollte als der Mann, der Fergies Zeh lutschte. Sie traf Prinzessin Margaret und Madonna – „die Cocktails mit Prinzessin Margaret waren ein wenig lockerer“, doch die Kinder ihrer Freunde waren tierisch beeindruckt, daß Madonna ausgerechnet Tante Marianne zu sich nach Hause lud. Sie spielte Theater, heiratete zum dritten MaL ließ sich zum dritten Mal scheiden. Ging auf Entzug und verdarb es sich so erneut mit Bob Dylan: „Auf Drogen gefielst Du mir besser, Baby.“ Von der Vatikan-Presse bekam sie es sogar schriftlich, daß sie eine Hexe sei.
Doch Faithfull war nicht klein zu kriegen. In den Sechzigern hatte sie im Auge des Hurrikans gelebt, in den Siebzigern auf der Schattenseite des Rock’n’Roll. In den Achtzigern rappelte sie sich wieder mühsam auf. Und in den Neunzigern plaudert sie nun alles aus. Über den Aufstieg der Stones und den Niedergang des britischen Empire, über Sex & Drugs & Rock’n’Roll und den ganzen anderen Scheiß. Schonungslos und brutal offen, aber nicht verbittert Nicht aus Rache, sondern weil sie wirklich was zu erzählen hat – das ist der Preis des Ruhms, den Mick Jagger heute zahlen muß. Eine hellwache Chronistin vor allem der sechziger Jahre, die weder nachtragend ist noch etwas bereut Und die auch nicht vergangenen Zeiten nachweint, sondern stolz ist, alles überlebt zu haben.
„Mein Leben“, sagt Faithfull heute, seit fünf Jahren auf einem viktorianischen Gut in Irland lebend, „hört nicht auf, mich selbst zu erstaunen.“ And the beat goes on.