Zwille sein zahmes Milljöh
Bitte einmal die Augen schließen und an die Siebziger denken: Gegenkultur, Alternativkultur, Subkultur – wie auch immer. Plötzlich stimmt die Polizei ihr dreigestrichenes LALÜ an, und es wimmelt im Kopf von Ablegern der Freak Brothers. Was da mit seismischem Zeichenstift zu Papier gebracht wurde, rekonstruiert sich im Wiederaufstand der Bilder wie von selbst. Gerhard Seyfrieds Cartoon-Ikonen der Kreuzberger Szene eroberten mit der Selbstverständlichkeit von Seitenzahlen die alternative Presse- und Buchwelt Es ist schon sonderbar: Wann immer Seyfried ein neues Opus Iconoclass(t)icus auf den Markt bringt, hängen ihm seine Leser mit alten Bildern an den Rockzipfeln und halten ihn zurück. Nun scheint Seyfried mit „Let the Bad Times Roll“ an alte Zeichen- und Bildwitz-Gewohnheiten anknüpfen zu wollen, wenn er die Szenen aus dem spacigen Nirgendwo zuriickverlegt in das ja gar nicht so spaßige Berlin, sozusagen in Zwilles Milljöh – die Welt seiner Hauptfigur seit den 70er Jahren.
Doch es bleibt zu bezweifeln, daß die Leser nun zufriedener sind. Als 1978 das Kultbuch „Wo soll das alles enden“ rauskam, prangte auf dem Titel ein anarchischer Guevara-Zwüle im Outfit des durchgeknallten Magiers: Joint und Bombe in den Händen. „Let the Bad Times Roll“ hingegen zeigt einen Zwille-Mutanten des Fatalismus, der auf dem Banjo klimpert und den alltäglichen Hiobsbotschaften im Erfahrungshorizont von Arbeitslosen und Losern seltsam entrückt scheint.
Die Irritationen des Zeichenstift-Seismikers sind ebenso gründlich wie vielsagend. Seyfrieds Entwicklung vom Underground-Cartoonisten zum etablierten Albenzeichner in Techno-Color geschah vor dem Hintergrund des fortschreitenden Zerfalls bzw. der Beseitigung seiner authentischen Szene. Kreuzberg, die ehemalige Hauptstadt der Alternativrepublik, ist im siebten Jahr der Wende endgültig aufgesogen von der Rekapitalisierung der Berliner Mitte. Damit kamen Seyfried die Rahmen abhanden, die er ja für die Legitimation seiner Cartoons und Comics brauchte. Die Szene war immer ein Stück agiler und eine gehörige Portion pfiffiger als der Staats- und tschakotragende Apparat. Dieses Selbstverständnis aber hat sich nun aufgelöst und läßt Bilder zurück, die der früheren Detail-Epik entsagen. Der Seyfried des Erzählcomics hat zweimal Genialisches produziert: das freche „Invasion aus dem Alltag“ und das Ernüchterungsepos zum Mauerfall – „Flucht aus Berlin“. Erstetes erschien, als Kreuzberg noch halbwegs Zusammenhalt zeigte. Letzteres tobte sich aus gegenüber den über die Mauer Hereingefallenen.
Der allerneueste Zwille allerdings ist gefeit vor solchen Exzessen. Er kümmert sich distanziert um alltägliche Widernisse wie Handy-Wahn, Raserei und sonstige kleine Störungen des Nischendaseins zwischen Straßenmusik und Kiffen. Das ehemals spontane Linksalternative vielleicht ein Grund für Zwilles Fatalismus – ist verkommen zu grünbürokratischem Karrierismus. Doch vielleicht sammelt Seyfried nur Kräfte, um neue Bilder und Sprüche zu setzen gegen den Irrwitz der Zeit: die ferngelenkte Dauer-Power-Trauer ob einer zerplatzten Märchenprinzessin. Schröder verkündet, daß ihm Marianne Strauß und Diana in Träumen erschienen sind, und seine Wahl ist gesichert, und Wie soll das alles enden? Not with a bang, but a whimper. Also: Let the Bad Times Roll!