Zwei Minuten zur S-Bahn
April 1999 Der elektronische Zauber der Gruft-Romantik: Über den erstaunlichen Erfolg eines kleinbürgerlichen Synthesizer-Duos aus dem Problemstadtteil Hamburg-Wilhelmsburg.
Wer aus Wilhelmsburg herauskommt, der ist fürs Leben gestählt. Wilhelmsburg ist ein Stadtteil von Hamburg, eine Insel, an der sich die Elbe teilt. An der Spitze der Insel steht ein kleiner Leuchtturm, so als würde die Vereinigung von Nord- und Ostsee an der Spitze Dänemarks im Kleinen nachgestellt. Ansonsten hat Wilhelmsburg einen alten und einen neuen Teil und ein Beton-Ghetto, das in den 70er-Jahren im Rahmen des sogenannten sozialen Wohungsbaus gemauert wurde und das idyllisch „Kirchdorf-Süd“ heißt, eine Hochhaus gewordene Perversität aus dem Geist der Baugesellschaft „Saga“: zwölfgeschossige Bunkertürme, in deren Wohnhöhlen sich oft genug jene Dramen ereignen, die man später in „Explosiv“ sehen kann.
Wer hier eintritt, muss alle Hoffnung fahren lassen. Der Bürgermeister schaut nur ungern in Hamburg-Wilhelmsburg vorbei, dessen alter Kern von Kebab-Buden und Kriminalität geprägt ist. Wer es sich leisten kann, der zieht weg – aber es kann sich niemand leisten. Ein einziges Mal interessierte sich der Rest von Hamburg für Wilhelmsburg: Als 1962 eine Sturmflut das gottverlassene Gebiet überschwemmte und der ehrgeizige Innensenator Helmut Schmidt alle Macht an sich riss, Feuer- und Bundeswehr befehligte und dafür später Bundeskanzler wurde. Noch heute halten die alten Wilhelmsburger gern Fotos von der Katastrophe hoch oder zeigen auf Striche an ihren Häusern, die den damaligen Wasserstand markieren. Hier kam die Flut, wollen sie sagen, und heute meinen sie mit demselben Begriff die Ausländer- und Asylantenflut. Das darf man sagen in Wilhelmsburg, wo immer die SPD gewinnt.
Die Flut kam auch für Peter Heppner, der fast sein ganzes Leben in Wilhelmsburg verbracht hat und den deshalb nichts mehr erschrecken kann. Mit seiner Band Wolfsheim, recht eigentlich bloß ein Duo, krebste er jahrelang mäßig erfolgreich herum. Wolfsheim sind das Flaggschiff des Hamburger Labels Strange Ways, auf dem in unregelmäßigen Abständen obskures Zeug zwischen Gruft und Elektronik veröffentlicht wird. Da passt Heppner mit Partner ins Programm: Sie sind gleich Gruft und Elektronik in einem, wollen aber von Schubladen selbstverständlich nichts wissen.
Im Jahr 1999 begab es sich, dass Wolfsheim mit ihrer von langer Hand vorbereiteten Platte „Spectators“ Platz 2 der deutschen Album-Charts belegten; nur Cher hielt sie von der Spitze fern. Der Triumph war absehbar, weil immer weniger Leute immer dieselben Platten kaufen, und die Wolfsheim-Gemeinde ist zuverlässig. Allein Wilhelmsburg hat mehr Platten von Wolfsheim gekauft als Kölle von BAP. Außerdem erntet Heppner nun, was er mit Joachim Witt und der Apokalypse-Hymne „Die Flut“ gesät hatte: Weltenende, Alarm, Ausnahmezustand. Wilhelmsburg, so much to answer for.
Heppners Musik ist so einfach und clever, dass man es im Kopf nicht aushält. Er ist in den Achtzigern aufgewachsen, er liebte Bauhaus, Depeche Mode, Joy Division und The Cure. Als The Cure das lustig swingende „Love Cats“ herausbrachten, galt ihm das als Verrat. „So war das damals. Ich fand das so furchtbar, danach habe ich keine Cure-Platte mehr gekauft. Die Grenze zum Kommerz war da für uns überschritten.“
Jetzt haben Wolfsheim die Grenze zum Kommerz derart eklatant überschritten, dass sich alle alten Fans von ihnen abwenden müssten. Doch die elektronische Romantik aus Heppners Maschinen begeistert die jugendliche Seele allzu sehr. Heppner singt wie ein juveniler Gott – ob deutsch oder englisch, in dieser synthetischen Welt zwischen „WOM“-Wave-Regal und „Zillo“-Gemütlichkeit fühlt man sich warm und wohl. Die Poesie mag holpern wie in einer Blumfeld-Parodie oder in der „Licher Pilsener“-Reklame („Hier kannst du endlich mal du selber sein/ Im Neon-Sonnenschein fang dir deine Wünsche ein“) – die Emphase des reinen Herzens hebt alles auf im Trost. Oder ist es etwa nicht tröstlich, wenn Heppner „Heroin, She Said“ sich an die armen Opfer von Wilhelmsburg erinnert, an seine gescheiterten Freunde? Und dazu sagt: „Ich komme aus Wilhelmsburg. Da nehmen die Leute gar keinen Umweg über Arbeit oder irgendwas. Da geht es gleich in die Drogen. Es gibt nichts anderes.“ Da fällt einem für einen Moment nichts Schlaues mehr ein.
Die einen krepieren, die anderen machen Lieder draus. Peter Heppner wohnt heute in Harburg-Heimfeld, ein bisschen weiter südlich und aus dem Gröbsten raus. Für einen Popstar ist auch das ein bemerkenswert unglamouröser Wohnort, „zwei Minuten zur S-Bahn“.
Aber Heppner ist ein harter Hund. Ein schmächtiger, unscheinbarer Mann mit nass zurückgekämmtem Haar und wachsamem Blick. Die Diskussion um faschistoide Tendenzen in der deutschen Rockmusik hat ihn kürzlich sehr geärgert, weil auch Wolfsheim am Anfang ihrer Karriere Ärger hatten mit dem Gebrauch der Vokabel „Führer“. War natürlich anders gemeint. Und Heppner findet, man müsse solche Worte aussprechen dürfen. Der Faschismusverdacht weise auf den zurück, der ihn anstellt. Und die Ausgrenzung der PDS sei der eigentliche Rückfall in finstere Zeiten. Heppner ist nicht glücklich mit der Demokratie. Das verbindet ihn mit dem Hamburger Kollegen Witt, der ebenfalls diffus „die Politik“ ablehnt und mehr Ehrlichkeit, mehr Mut anmahnt. Künstler halt! Andererseits findet Heppner, der Witt habe mit seinem Album „Bayreuth Eins“ manches ungeschickt, ja missverständlich angerichtet: „So hätte ich es nicht gemacht.“ In Witts krauser Symbolik sei einiges „unglücklich“. Das berühmte Video zur „Flut“ hingegen sei falsch interpretiert worden. „Ja, da wird eine Selektion gezeigt, natürlich. Aber was denn für eine? Die Journalisten haben daraus Nazis abgeleitet. Die haben nicht hingeschaut, kann ich nur sagen.“ Heppner wird böse. Die lange Missachtung der Kritik, die Anbindung an das wenig ruhmträchtige „Zillo“-Milieu hat ihn empfindlich gemacht.
Doch Heppner ist stur. Angebote von überall hat er ausgeschlagen, er wird bei Strange Ways bleiben. „Als die Single in den Charts einstieg, kamen die Anrufe. Aber die haben nicht mal einen Vorschlag gemacht, die haben nur gesagt: ‚Wir machen einen Hit daraus.‘ Keine Idee. Dabei war ‚Once In A Lifetime‘ schon ein Hit. Das haben wir auch mit einem Indie geschafft.“ Der Vertrieb Indigo, Sitz in Hamburg-Wilhelmsburg, feiert den Höhepunkt seiner Geschichte. Schöner kann es gar nicht mehr werden. Und das Label Strange Ways, das bereits Witts „Flut“ mit Gewinn an die Industrie losgeschlagen hat, residiert noch immer in einer Etage in einem Hinterhof im Hamburger Schanzenviertel. Es sieht so aus, als seien ein paar von Lenins Träumen wahr geworden: Zwei Männer drucken Geld mit Synthesizern. Und sie heißen nicht Bohlen und Anders.
Die Welt, sie ist ein Wilhelmsburg ohne Ausgang.