Zwei Mann im Doppelbett

Antony Hegarty und Boy George sind die größten Gay-Popstars ihrer Generationen. In London brachten wir sie für ihr erstes gemeinsames Interview zusammen.

Die sonnenbraune Glatze ist von einer Flechte aus Tattoos überzogen, Rose, Kreuz und Peace-Zeichen, und trotz brütender Sonne kommt der kleine, stämmige Mann ganz in Schwarz. Nachdem er am Londoner Trafalgar Square aus dem Taxi gestiegen ist, fingert Boy George gleich die Zigarette aus der Tasche und fragt mit rasselnder Raucher-Soulstimme: „Wo ist Antony?“

Es war nicht leicht, das Gipfeltreffen zu arrangieren, denn wie alle zünftigen Kulturschaffenden sind sie viel unterwegs: Boy George, eigentlich George Alan O’Dowd, 49, Plattenmillionär mit der Band Culture Club, schwuler Boulevardstar, Ex-Knacki, DJ. Und Antony Hegarty, 39, Sänger der New Yorker Gruppe Antony & The Johnsons, bildender Künstler und Paradiesvogel, trotz (oder wegen) der mysteriösen Aura als Mann-Frau-Zwitterwesen einer der Pop-Shooting-Stars der Nullerjahre. Die zwei kennen sich seit Jahren, haben zwei Duette aufgenommen. Ihr erstes gemeinsames Interview wird an diesem Tag aber nur möglich, weil Antony auf PR-Reise für sein neues Album „Swanlights“ zwischen New York und Hamburg einen kurzen Tag in London verbringt. Und George nach Israel und Ibiza kurz zu Hause die Blumen gießen wollte, bevor es nach Rom geht.

„Drama!“ brüllt er zur Begrüßung, als Antony schüchtern die Hotelzimmertür öffnet, „warum rufst du nie an?“ Fotos sind leider verboten, weil Georges einzig befugte Make-up-Frau keine Zeit hat. Und obwohl die zwei sofort wie beste Männerfreunde zu quatschen beginnen, sind sie ein herzzerreißendes Gegensatzpaar: Antony, im Schneidersitz auf dem Bett, der bei seinen gewissenhaften Ausführungen befangen am schwarzen Pulliärmel herumpopelt. Und Boy George, der polternde Launebär, der sich oft ziemlich im Zaum halten muss, um den sensiblen Freund nicht zu unterbrechen.

Boy George: Antony, du hast also ein neues Album, ein neues Buch, einen neuen Film … (lacht)

Antony: Nein, keinen Film …

George: Schade, dass ich die Platte nicht vorher hören konnte, sonst hätte ich dich dazu befragen können.

Antony: Du hast doch auch eine neue Platte! Wo ist mein Exemplar, bitteschön?

George: Es gibt noch keine! Wir handeln gerade die Vertriebsdeals aus. Wahrscheinlich kommt das Album zuerst in Argentinien raus, wie aufregend.

Antony, Boy George, wie und wo haben Sie sich kennengelernt?

Antony: George, an das allererste Treffen erinnerst du dich sicher nicht mehr: in der Squeezebox in New York, zusammen mit Michael.

Michael?

Antony: Michael Cavadias, ein gemeinsamer Freund von uns.

George: Unser erstes richtiges Treffen fand aber in London statt.

Antony: Ja, das war zur Zeit des Leigh-Projekts. George spielte im Londoner Westend in „Taboo“, dem Musical über seine Freundschaft mit Leigh Bowery (einem legendären Gay-Künstler und Modedesigner, d. Red.). Als die Show nach New York kommen sollte, lud der Drehbuchautor mich zum Lese-Casting ein. Ich sollte Georges Zweitbesetzung werden.

George: Du wärst viel besser gewesen als ich!

Antony: Aber du warst bei der Lesung gar nicht dabei! Ich habe es dann auch nicht gemacht, weil ich lieber mit der Band auf Tour gehen wollte.

George: Rausgemogelt hat er sich! Wie auch immer, damals habe ich seine Musik kennengelernt, nachdem Michael mir CDs von ihm gegeben hatte.

Antony: Und plötzlich hatte ich sonderbare Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Das warst du, du hast „Twilight“ gesungen …

George: (singt) „Twilight …“

Antony: Dann bin ich nach London gekommen, und endlich haben wir uns kennengelernt.

George: Das war 2003, da hast du gleich in meinem Gästezimmer übernachtet. Ich wusste schon so viel über ihn, dass es mir so vorkam, als wären wir schon bestens vertraut miteinander. Unser erstes Treffen war mehr so: Hallo, du schon wieder, alles klar?

Antony: So ging’s mir auch!

George: Verwandte Geister! Aus demselben Holz geschnitzt!

Es gibt ja Gemeinsamkeiten: Ihre Väter stammen beide aus Irland, beide sind working class.

Antony: Allerdings ist George in London aufgewachsen und ich in der englischen Provinz (in West Sussex), das macht schon wieder einen gewaltigen Unterschied. Trotzdem haben Sie recht: Wenn sich Kinder aus der ersten englischen Generation einer irischstämmigen Familie treffen, gibt es schnell gewisse Vibes.

George: Auf jeden Fall, es gibt die irische Herzenshaltung. In einer Familie mit diesen Wurzeln, mit einem Namen wie O’Dowd … Hegarty ist auch ein ziemlich irischer Name, oder?

Antony: Ja – und dann sind wir auch noch beide Sänger! Mit großen Augen! Es gibt ja diese Vorstellung vom irischen spirit, dem Drang, die eigene Lebenserfahrung intuitiv in Form von Liedern auszudrücken.

George: Emotional zu sein, melancholisch, dramatisch …

Antony: Wie in der jüdischen Kultur. Man bleibt sein Leben lang Eigentum der Familie!

George: Ich erinnere mich gut, wie ich mit Culture Club zum ersten Mal in Dublin gespielt habe. Das war erst bei der Reunion, vor 15 Jahren. Jedenfalls kam es nach der Show zu einem Menschenauflauf an der Hintertür der Halle, rund 500 Menschen drängelten sich da, und einer der Ordner rief: „Bitte nur Leute, die mit George verwandt sind!“ – und alle rissen die Arme hoch und riefen: „Jaaaa, hier!“

Welche Rolle hat der Katholizismus in Ihrer Erziehung gespielt?

George: Keine große. In meiner Familie wurde das heruntergespielt: Während meiner gesamten Jugend waren wir vielleicht vier, fünf Mal in der Kirche. Ich war aber auch schon als Teenager vom ganzen religiösen Inventar fasziniert: Ich hatte immer einen Jesus und ein Kreuz an der Wand, sogar als ich in London in besetzten Häusern lebte. Obwohl ich mich zum Atheismus bekannte.

Antony: Du hast dich ja schon mit 18, 19 dem Multikulturalismus zugewandt. Wie kam das?

George: Solidarität mit den Außenseitern! Außerdem fühlte ich mich immer schon zu Sachen hingezogen, die eigentlich gegen mich standen: Reggae, Katholizismus. Reggae ist ja tendenziell schwulenfeindlich. Als ich in London zum ersten Mal mit Dreadlocks und Rasta-Hut über die Straße lief, gab es sehr, nun ja, interessante Reaktionen … (lacht)

Antony: Es würde mich interessieren, wie das heute aufgenommen werden würde. Wahrscheinlich noch kontroverser. In den frühen 80ern war die Reggae-Szene lockerer und offener, in den 90ern wurde sie radikaler.

Antony, wie war das bei Ihnen mit der Religion?

Antony: Anders als George wurde ich standesgemäß katholisch erzogen. Ich musste jede Woche in die Kirche und auf eine katholische Schule, bis ich mich aus den Zwängen herauskämpfte. Als ich (mit 19) nach Amerika zog, kam ich dann vom Weg ab. Und suchte mir meine eigenen Lösungen.

George: Zurzeit bin ich ganz verrückt nach Gott! Also mehr nach dem Wort, dem Prinzip. Kürzlich hatte ich bei einem Konzert mein „Gott“-T-Shirt an, und Jimmy Somerville fragte mich: „Seit wann bist du religiös?“ Und ich meinte nur: „Nein, nein, nein, das ist doch nicht wörtlich gemeint …!“

Antony: Die Welt des Spirituellen ist für meine Arbeit sehr wichtig. Falls ich ausnahmsweise kurz über meine Arbeit sprechen darf …

George: Unbedingt, bitte!

Antony: Ein Großteil der Musik, die ich für meine letzten zwei Alben gemacht habe, drehte sich thematisch um Ökologie, die Umwelt und mein Verhältnis zu ihr. Es hat sicher damit zu tun, dass ich Transgender bin und deshalb sehr aufmerksam nach Anzeichen dafür suche, wie sich dieses Prinzip in bestimmten Kulturen spiegelt, vor allem bei Naturvölkern. Die Cherokees zum Beispiel sagen: Während die Christen glauben, sie wären aus dem Garten Eden vertrieben worden, glauben wir, dass wir in ihn hineingeboren wurden. Ich finde diese erdverbundenen, feminineren Glaubenssysteme viel überzeugender. Mich da hineinzudenken und mein persönliches Verhältnis zum Rest der Welt zu reflektieren, hat mich enorm weitergebracht.

George: Ich bin auch gerade auf dem Naturtrip! Ich wohne in Hampstead Heath, mit diesem wundervollen Park direkt vor meinem Fenster! Mittlerweile gehe ich da jeden Morgen raus, horche an den Bäumen, schaue mich um, entrümple meinen Kopf.

Antony, Sie haben gesagt, dass auch Boy George ihr Verhältnis zur Umwelt beeinflusst hat: weil sein Anblick Ihnen das Gefühl gab, erstmals einen geistesverwandten Menschen zu sehen.

Antony: Als ich zwölf war, kaufte ich mir die erste Culture-Club-LP. Wie alt warst du da, George?

George: 21, 22.

Antony: Du warst also selbst noch ein Kind! Wirklich unglaublich: wie jung du warst, als du das Leben von Hunderttausenden von Jugendlichen völlig umgekrempelt hast. Das Foto von dir, mit den Rastazöpfen und dem Hut, war ein gewaltiges Zeichen der Hoffnung für viele, viele Kids, die überall auf der Welt isoliert in ihren Zimmern saßen. Diesen Jungen zu sehen, so wunderschön, so feminin, so soulful – natürliche Weiblichkeit, absolut nichts Übertriebenes. Du hattest ja nicht mal Make-up im Gesicht, nur ein bisschen Mascara.

George: (flüstert) Wenn er wüsste …

Antony: Aber ich erinnere mich doch, dass man sogar die Pickel sehen konnte! Bei der ersten Version der Platte zumindest, bei der zweiten hatten sie die rausretouchiert.

George: Das Image war reiner Instinkt. Ich hinterfragte mich damals nicht.

Antony: Das ist ja das Schlimme an Bands wie Kiss oder Poison: Das Feminine ist bei ihnen reiner Federschmuck, eine Art männlicher Potenzbeweis: Schaut her, unsere Kraft ist so gewaltig, wir können auch Frauen sein! George war das Gegenbild. Der Song hieß „Do You Really Want To Hurt Me“ – es ging um Verletztlichkeit. In deiner Verletzlichkeit warst du unbezwingbar! Das hat mich extrem geprägt.

George: Ich bin selbst sehr empfänglich für diese Art von Emotionalität. Ich weiß noch, wie ich Antony zum ersten Mal live sah, in Joe’s Pub in New York. Ich saß zwischen Laurie Anderson und Lou Reed, und irgendwann schaute ich zu ihm rüber, und er hatte eine Träne im Auge! Ich habe das oft so erklärt: Antony hat uns auf eine Eisbahn geführt, und wir sind alle ins Schlittern gekommen. Eine Eisbahn der Gefühle!

Kann man das vergleichen: die späten 70er in London, die New Romantics, und die Gay-Kultur der 90er in New York?

George: Das ging für mich viel früher los – ich sah Bowie 1972, mit 13, in der Ziggy-Stardust-Phase. Das war für mich der Urknall, mit dem alles begann und alles endete, was davor gewesen war. Er war auch der Erste, der in einem Interview zugab, dass er bisexuell ist. Ich glaube ja, dass wir das alle sind, aber wie auch immer: Ob vorgetäuscht oder nicht, es war mutig.

Antony: Stimmt, aber in den 80ern, in einem „Smash Hits“-Interview, hat er es wieder zurückgenommen!

George: Aber man kann es nicht zurücknehmen! (lacht)

Antony: Hat er aber. In einem Interview mit Tina Turner.

George: Dann ist sie also schuld …

Antony: Aber schon zur Zeit des ersten Interviews war das doch eher Wichtigtuerei, so etwas in einem Interview zu sagen. Eine Art „Fuck you“, keine Geste der Ergebung.

George: Quentin Crisp (legendärer schwuler Exzentriker aus London) war natürlich auch wichtig. Ich weiß noch, wie ich bei meinen Eltern zu Hause saß und der Film über ihn im Fernsehen lief, „The Naked Civil Servant“ …

Antony: Meinem Gefühl nach war Quentin für Punk viel wichtiger als Bowie. Weil er sich eben getraut hatte, komplett gegen die Instinkte und Manieren der Popkultur zu handeln. Und sich auch einer konkreten, körperlichen Gefährdung auszusetzen, auf den Straßen. Nichts gegen Bowie, aber dieses Risiko ist er nicht eingegangen.

Wenn man die lustigen Songs von Culture Club mit der eher ätherischen Musik von Antony & The Johnsons vergleicht, könnte man glauben, Sie kämen von völlig verschiedenen Ausgangspunkten.

George: Schauen Sie meine Plattensammlung an, dann glauben Sie das nicht mehr. Ich habe viel von Nina Simone!

Antony: Wenn man als Kriterium nimmt, ob ein Sänger das Risiko auf sich nimmt, die eigene Verletzlichkeit zum Leitmotiv und zur Energiequelle seiner Kunst zu machen, ob sein Gesang von den typisch amerikanischen Einflüssen geprägt ist, von Soul, Blues und Jazz – dann gibt es viele Parallelen zwischen uns. Stimmlich hat George eine größere Spannweite als ich, er kommt aus der alten Schule der Sänger, die alle Ressourcen des Körpers zur Klangerzeugung nutzen. Ich singe eher verhalten. Als wir für das „Help“-Charity-Projekt zusammen „Happy X-Mas (War Is Over)“ von John Lennon aufnahmen, wäre George im Studio fast durchgedreht. Er schrie mich an: „Sing lauter! Sing lauter!“

Bei Werbeagenturen sind Sie dafür heute beliebter, als Boy George es je war.

Antony: Ich habe einen einzigen Kaffee-Spot gemacht! Sonst nichts!

George: Ich bin tatsächlich noch nie gefragt worden, etwas für die Werbung zu machen. Beziehungsweise: Bei mir waren es nur deprimierende, uncoole Sachen. Die habe ich alle abgelehnt. Antony hat so ein Glück!

Antony: Dafür bist du ein weltberühmter Superstar, und ich bin nur ein Subkultur-Typ.

George: Moment mal! Egal, wo ich hinkomme, fragen die Leute mich nach dir! Ich lege die Platte auf, die du mit Hercules & Love Affair gemacht hast, und der Saal dreht durch, an den seltsamsten Orten! In Dubai!

Antony: Aber die meisten dieser Leute kennen mich doch gar nicht!

George: Doch, tun sie! Schwule auf der ganzen Welt wissen, wer du bist!

Antony: (quengelnd) Ja, Schwule! Aber das ist etwas anderes!

Fühlen Sie sich unverstanden? Würden Sie sich wünschen, das Publikum würde mehr bemerken, worum es Ihnen geht?

Antony: Wenn ich Musik mache, denke ich nicht daran, wie ich Leute in meine Vision hineinziehen kann. Ich will, im abstrakten Sinn, einen Ort zu finden, den ich bespielen kann. Den alle beobachten können, an dem ich dem Publikum begegnen kann. Im Konzert geht es ja darum, sich für eine bestimmte Zeit vom alltäglichen Sinn für Zeit und Raum zu verabschieden und zu träumen. Aber auch wenn da Tausende von Menschen sind: Ich bin in solchen Momenten als Künstler darauf zurückgeworfen, wie intensiv meine persönliche Beziehung zu dem Material ist, das ich singe und spiele.

George: Dem Publikum wird heute mehr und mehr suggeriert, dass es mitbestimmen kann, wie die Kunst aussehen soll. Da mache ich nicht mit. Ich könnte einen Haufen sehr offensichtliche Dinge tun. Tu ich aber nicht.

George, Antony, wenn Sie beide einen Abend lang zusammen ausgehen würden …

George: … dann würden wir zu Hause bleiben!

Antony: Und eine sehr lesbische Teeparty feiern.

George: Ich würde Nina Simone auflegen, „Mississippi Goddam“, und er müsste dazu tanzen! Oder wir würden picknicken gehen. Ich würde ihm meinen Lieblingsbaum in Hampstead Heath zeigen. Darauf müssten wir uns einigen können.

„Swanlights“ von Antony & The Johnsons erscheint am 8.10. bei Rough Trade. Boy George ist ab 26.11. mit der „Nokia Night Of The Proms“ auf Deutschlandtour. Termine unter www.notp.com.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates