Zurück aus dem Exil
Serj Tankian ist ehemaliger Sänger von System of a Down und armenischer Abstammung. Jetzt trat er erstmals in der heimat seiner väter auf. wir haben ihn exklusiv begleitet. Von Torsten Groß · Fotos von Erik Weiss
Es ist spät am Abend. Wir sitzen in Serj Tankians geräumiger Suite im Hotel Marriott zu Jerewan. Zu den Füßen des sozialistischen Protzbaus erstreckt sich der Hraparak, der Platz der Republik mit seinen erleuchteten Brunnenfontänen und prunkvollen Fassaden. Es ist ein friedliches, beinahe andächtiges Bild. Tankian reicht Aprikosen, angeblich die besten der Welt, immerhin aber sehr gute. Die Aprikose wird in Armenien seit der Antike kultiviert und ist beinahe so populär wie der Granatapfel, das Symbol des kaukasischen Landes.
Doch Tankian ist nicht der Errungenschaften der armenischen Landwirtschaft wegen hier. Der Sänger der momentan auf Eis liegenden Band System Of A Down, seit einigen Jahren solo unterwegs, wird am nächsten Tag zum ersten Mal in seiner Karriere in Armenien auftreten. Und so kehrt er also zurück in ein Land, das er zwar privat schon oft bereiste, derart offiziell aber noch nie besucht hat. Ein Land, das ihm den größten Teil seines Lebens zugleich seltsam fremd und unendlich vertraut war. Dessen Probleme die komplett aus Exil-Armeniern bestehenden System Of A Down immer wieder thematisiert haben und so einem Millionenpublikum vermittelten. Und dessen Geschichte indirekt die Ursache ist für Tankians Engagement mit Tom Morello in der gemeinnützigen politischen Organisation Axis Of Justice. Nicht zuletzt aber auch ein Land, dessen Landschaft er liebt und dessen Folklore Eingang gefunden hat in sein Werk – a sort of homecoming.
Als Serj Tankian ungefähr zehn war, wuchs die Neugier auf dieses Land. Daheim in L.A. begann er seinem Opa all jene Fragen zu stellen, die kleine Jungs eben irgendwann stellen: „Wer bin ich, wo komme ich her? Wie viele Verwandte gibt es noch, was hast du früher gemacht?“ An sich harmlose Gespräche also, wie sie in zig Familien jeden Tag irgendwo auf der Welt geführt werden. Im Hause Tankian allerdings fielen die Antworten auf diese Fragen anders aus als bei Schmidts und Müllers. „Mein Großvater ist mir lange ausgewichen“, erinnert sich Tankian. „Und ich hakte nicht nach, weil ich merkte, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte und seine Stimme stockte, wenn ich nach seiner Familie fragte.“
Die Antworten kamen erst später. In kleinen Happen. Weil das Ungeheuerliche an einem Stück nicht zu ertragen gewesen wäre. Nicht für den Großvater – und schon gar nicht für den heranwachsenden Tankian selbst.
Irgendwann aber kam alles ans Licht: Es gab vom Opa abgesehen kaum noch eine Familie, da beinahe sämtliche Tankian-Ahnen zwischen 1915 und 1917 während der Verfolgung der armenischen Minderheit durch die Türken im damaligen Osmanischen Reich ums Leben gekommen waren. „Eine meiner Großmütter überlebte, da ihre Großmutter sie auf einem Stück Treibholz im Wasser aussetzte, als die Türken kamen. Jemand fand sie und rettete sie“, erinnert sich Tankian. Irgendwann berichtete der Opa dann auch von einem Selbstmordversuch, den er mit zehn unternommen hatte. Die Bilder von verstümmelten Menschen, die Schreie in der Nacht, die Erinnerung an das Leid auf der Flucht hatten ihn nicht mehr losgelassen.
Das waren die Geschichten, die im Hause Tankian erzählt wurden.
Sie dürften den meisten Armeniern vertraut vorkommen. Das von der Türkei und vielen weiteren Ländern immer noch nicht als Völkermord anerkannte Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs hinterließ ein zerrissenes, entwurzeltes Volk in der Diaspora. Bis heute lebt die überwiegende Mehrheit der insgesamt rund zehn Millionen Armenier im Exil. Serj Tankian selbst wurde in Beirut geboren, als er sieben war emigrierte seine Familie in die USA. Sein Vater kommt aus Syrien, die Mutter aus dem Libanon – eine typische armenische Familienbiografie.
Die Erinnerungen an die ganz frühe Kindheit sind inzwischen verschwommen. Tankian ist eindeutig westlich sozialisierter US-Amerikaner. Doch die Schilderungen über das armenische Trauma hinterließen ihre Spuren. Hier hat die Laufbahn des politischen Aktivisten Serj Tankian ihren Ursprung: „Die Heuchelei, die in der Leugnung des Völkermords liegt, war die Ursache für mein Engagement“, sagt er. „Wenn eine so angesehene Demokratie wie die amerikanische eine derart unfassbare Wahrheit nicht ausspricht, ja sogar leugnet, wie viele andere Wahrheiten werden dann wohl noch unter den Teppich gekehrt? Das hat mir die Augen geöffnet, mich für Menschenrechts- und Umweltfragen sensibilisiert.“
Tankian erzählt diese Dinge in jenem überaus wachen, aber stets warmherzigen und freundlichen Tonfall, der typisch für ihn ist. Der Sänger ist ein überaus ausgeglichener, relaxter und begeisterungsfähiger Typ – auch wenn seine Geduld in den kommenden 30 Stunden bisweilen auf eine harte Probe gestellt werden wird. Die bodenständige Art erklärt sich übrigens aus der Biografie des 43-Jährigen: Tankian studierte zunächst Marketing und half im Geschäft eines Onkels aus. Erst mit 23 begann er, auf Vollzeitbasis Musik zu machen.
Tankian erinnert sich: „Als ich mein Studium schmiss, um es mit der Musik zu versuchen, hat mein Vater gesagt: ‚Gib deine Träume nicht auf. Und wenn ich mich verschulden muss geh deinen Weg!'“ Der Vater hatte einst seine eigenen Träume von einer Karriere als Musiker begraben müssen und wollte seinem Filius das gleichs Schicksal ersparen. Auch deshalb ist Serj Tankian in Jerewan. „In gewisser Weise ist heute Zahltag“, sagt er. „Meine Eltern sind sehr stolz, dass ich hier auftrete, auch wenn sie leider nicht dabei sein können. Mein Vater hat mir geholfen, meine Träume zu leben. Wenn ich ihm heute ein bisschen zurückgeben kann, ist das mehr als fair.“
Seit den frühen Tagen von System Of A Down gab es immer wieder Einladungen: von Privatpersonen, Promotern, Regierungs-Mitgliedern sowie armenischen Botschaftern in verschiedenen Ländern. Das Problem bei all diesen Anfragen: Armenien ist Rock’n’Roll-Entwicklungsgebiet, es gab stets Sicherheitsbedenken. Das postsozialistische Land versucht den Anschluss an westliche Standards im Eiltempo hinzukriegen, aber es fehlt noch an vielem. Auch für die jetzige Show im kleineren Saal des Demirchyan-Sport-Concert-Complex musste Equipment aus ganz Europa zusammengeliehen werden. Mehrere Sponsoren und der Verzicht der Musiker auf einen Teil der Gage machten das Konzert möglich. Es findet statt im Rahmen von Tankians aktueller Welt-Tournee zum Album „Imperfect Harmonies“, der ROLLING STONE ist zwei Tage lang weltexklusiv dabei.
Der Ärger begann bereits am Flughafen. Um neun Uhr abends entstieg die Tankian-Entourage, flankiert von Kamerateams und einigen Fans, einem Flugzeug aus Paris. Am Gepäckband dann erste Probleme: Neun Gepäckstücke sind unterwegs verloren gegangen, natürlich ausnahmslos Band-Equipment. Nun ist Jerewan nicht gerade eine Drehscheibe des internationalen Luftverkehrs. Air France etwa fliegt die armenische Hauptstadt nur alle zwei Tage an, es musste also improvisiert werden. Raffi Niziblian lief hibbelig auf und ab und sprach unaufhörlich in sein iPhone: „Wenn eines nicht hätte passieren dürfen, dann das,“ stieß er atemlos hervor. Auf seinen Wangen bildeten sich rote Flecken. Der überfordert wirkende Vorstand der lokalen Agentur Deem Communications, die das Konzert ausrichtet, hat monatelang auf diesen Tag hingearbeitet – nun hatte ihm Air France den Auftakt vermasselt.
Spätestens da stand fest: In Armenien folgen Rock-Konzerte (und überhaupt alles) anderen Regeln als in New York, London oder Berlin. Ach was, es gibt gar keine Regeln, sie werden gerade erst von Niziblian und Armen Kupelian aufgestellt. Kupelian ist Exil-Armenier und an westliche Standards gewöhnt. Normalerweise betreibt er eine Produktionsfirma in L.A. Die letzten Monate hat der pragmatisch wirkende Mann jedoch in Jerewan verbracht, um Niziblian beratend zur Seite zu stehen. „So ein Konzert hat hier noch nie stattgefunden. Wenn die lokalen Kräfte jetzt lernen, das professionell durchzuziehen, werden sie bei ähnlichen Events davon profitieren“, ist er sich sicher.
Zusätzliches „Problem“: Serj Tankian ist hier eine Art Nationalheld, der neben Cher und Charles Aznavour wohl bekannteste Exil-Armenier. Ensprechend groß der Empfang: Am Hotel wartet unter anderem eine Gruppe lokaler Umweltaktivisten, die den ganzen Tag mit Spruchbändern dort ausgeharrt hatte. Tankian nutzt die Gelegenheit zu einem ersten Bad in der Menge.
Am Abend ist das bevorstehende Konzert dann das beherrschende Thema in den Bars und Cafés. Mit einigen von Tankians Musikern sind wir auf dem Weg zu einem Club namens The Place, einem Aufreißerladen mit dem Charme einer Bahnhofswartehalle, aber: ein Club. Immerhin. Aus den Boxen pumpt amerikanischer HipHop und Eurotrash. Die männlichen Besucher sind überwiegend gewandet wie europäische Fußballer, die Damen orientieren sich an Victoria Beckham. Wie die meisten ehemaligen Sowjetrepubliken hat auch Armenien gewaltige Probleme mit Korruption und der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Landes. Hier knallen christlich-orthodoxe Tradition, Orient und Okzident, Post-Sozialismus und US-Kulturimperialismus aufeinander. Der Input der vielen Exilanten beschleunigt indes gewisse Prozesse drastisch. Beobachtet man die Jugendlichen, scheinen sich alle Entwicklungen aus sechs Jahrzehnten Popkultur parallel abzuspielen. „Die Jugend holt im Zeitraffer auf, was in Westeueropa und den USA seit den 60er-Jahren passiert ist“, bestätigt die US-sozialisierte Club-Betreiberin. Vor zehn Jahren seien feiernde Jugendliche auf den Plätzen noch undenkbar gewesen, heute jedoch sind die Straßen gesäumt von jungen Leuten.
Der nächste Morgen. Serj Tankian trägt sich ins goldene Buch des Hotels ein. Zuletzt hatte dies Hillary Clinton getan, was Tankian im Rahmen der anschließenden Pressekonferenz zu einem Witz verleitet: Um diplomatische Verwicklungen mit der als Basis für die US-Truppen im Irak eminent wichtigen Türkei zu vermeiden, hatte die US-Außenministerin beim letzten Armenien-Besuch die Genozid-Gedenkstätte explizit nicht im Rahmen des offiziellen Programms besucht, sondern privat.
Also erklärt der alte Fuchs Tankian, er wolle nun seinerseits die Gedenkstätte nur privat besuchen – „mit meinen Freunden vom ROLLING STONE.“ Eine Ankündigung, auf die wir hätten verzichten können, rückt dadurch doch die Wahrscheinlichkeit herumwuselnder Paparazzi in große Nähe. Als wir von Sicherheitsbeamten begleitet eintreffen, ist jedoch dankenswerterweise nur ein lokaler Pressfotograf dabei, der seine Arbeit allerdings aufdringlich und mit wenig Respekt vor Anlass und Örtlichkeit verrichtet.
Das 1966 auf dem Hügel Tsitsernakaberd (Schwalbenfestung) errichtete Mahnmal ist eine gelungene, eine würdige Gedenkstätte. Es ist ein klarer und sonniger Tag. In der Ferne sieht man die Gletscher des Berges Ararat, in denen angeblich die Überreste von Noahs Arche schlummern. Auf einer gigantischen Freifläche, der sogenannten Gedächtnisallee, haben Politiker aus aller Welt Tannenbäume gepflanzt. Dominiert wird das Gelände von einem gewaltigen Obelisken – gespalten, wie das Volk selbst. Schließlich steht Tankian andächtig vor der von zwölf Pylonen umringten ewigen Flamme, an der alljährlich am 24. April der Opfer des Völkermords gedacht wird. Aus den Katakomben dringen Klagegesänge, ansonsten herrscht gespenstige Stille. Tankians Gesicht wirkt wie versteinert, der Sänger ist sichtlich gerührt. Es ist ein überaus intimer Moment, in dem wir uns seltsam fehl am Platze fühlen.
Beim anschließenden Marsch zum Veranstaltungsort bedankt sich Tankian mehrmals für unser Interesse an der Geschichte seines Volkes. Der zehnminütige Fußweg ist trotz sengender Hitze willkommen. Nicht nur Tankian fällt es schwer, so unmittelbar umzuschalten. Aber weil ja alles im Leben immer weitergeht und der Zeitplan tight ist, hört man schon wieder vereinzeltes Gelächter aus der Gruppe, als die Gedenkstätte hinter den Baumwipfeln verschwindet.
Und dann ist es auch kein gewöhnliches Konzert, über das wir hier berichten wollen. Da ist zunächst der Veranstaltungsort selbst: Ein absurd gigantischer sozialistischer Prachtbau mit endloser Treppe, einer riesigen Vorhalle sowie einer drehbaren Tribüne, die je nach Veranstaltung der größeren oder der kleinere Halle zugeschlagen werden kann. Der Backstage-Bereich wird dominiert von einer aus Sowjetzeiten übrig gebliebenen Lenin-Büste und ist ansonsten nüchtern-zweckmäßig gehalten. Die Anwesenheit der Frau des Premierministers erfordert erhöhte Sicherheitsauflagen. Soldaten säumen die Flure, sind sich allerdings nicht einig, was erlaubt ist und was nicht: Mal darf man zum Rauchen rausgehen, dann wieder nicht. Schließlich stehen die Beamten selbst auf der Terrasse – mit Zigaretten in der Hand.
Beim Soundcheck prallen dann mit der toughen zielstrebigen Art der amerikanischen Road Crew und dem charmant-chaotischen Habitus der Armenier zwei Welten aufeinander. Irgendwann ist jedoch alles verkabelt und Tankian widmet sich der Einstimmung des Orchesters. Auf der laufenden Tournee arbeitet der Musiker überall mit lokalen Klangkörpern, das heutige hält er für das bislang beste: „Im Sowjetsystem gab es sicher einen Menge Nachteile, aber die Förderung der Künste war vorbildlich. Davon profitieren diese Länder bis heute.“ Irgendwann ist das Orchester eingestimmt und Tankian zieht sich zurück: Stretching, Stimmübungen, eine letzte Zigarette.
Normalerweise läuft das ja so: Eine Band kommt auf die Bühne, spielt 90 Minuten, alle gehen heim. Was alles bei einem Konzert nicht klappen kann, merken wir heute: Das Licht geht aus, Tankian wartet angespannt am Bühnenrand. Als er dann seinen Musikern mit dramaturgischem Abstand auf die Bühne folgt – die Leute kreischen, stehen auf – funktioniert. Das. Mikro. Nicht.
Hektisch wieseln alle möglichen Leute umher, doch dauert es fünf quälende Minuten, bis dem Sänger endlich ein Austauschgerät überreicht wird. Von diesem missratenen Auftakt erholt sich Tankian nicht mehr ganz. Er wirkt das gesamte Konzert über angespannt, weitere Pannen folgen, das Klangbild ist undifferenziert. Doch das ist nur die an westlichen Standards orientierte Wahrnehmung: Die Leute im Saal genießen den Abend ungeachtet aller Pannen. Die Euphorie, die Glückstränen, die Schreie – ungefähr so muss es bei den ersten Shows der Beatles zugegangen sein.
Danach wird Tankian von Menschen umringt und schüttelt bis in die Nacht Hände, hat für jeden ein freundliches Wort. Der Rest der Truppe feiert den – letztlich gelungenen – Abend in einer Kneipe namens Caloumet, offenbar ein Hort der schütteren armenischen Gegenkultur: Reggae, Hippies, lange Haare, Tätowierungen. Kupelian serviert Wodka, die Anspannung weicht.
Um drei Uhr nachts müssen die Musiker dann auch schon wieder zum Flughafen. In den nächsten Wochen tritt die Band unter anderem in Deutschland, England und den USA auf. Danach will Tankian sich einem Gedichtband, einer Sinfonie und einem Musical widmen. Man kann also sagen: das Geschäft hat ihn wieder.
In Jerewan aber wird man noch lange reden von jenem Abend, an dem sich Serj Tankian der Geschichte seines Volkes stellte.