Zum Tod von Tina Turner: Eine Jahrhundert-Ikone weiblicher Selbstermächtigung
Dass Tina Turner als Schwarze Frau, als Gewalt- und Missbrauchsopfer die systematische Unterdrückung nicht nur überlebte, sondern darüber triumphierte, und damit die gesamte gesellschaftliche Entwicklung vom Anfang der Popmusik bis heute abbildete, macht sie zu einer einzigartigen Künstlerin
Zum Glück wird sie wiedergeboren: Tina Turner, die am Mittwoch im Alter von 83 Jahren starb, war praktizierende Buddhistin – und wie sie beim Chanten klang, ist gut vorstellbar. Denn diese Stimme trug alles, hielt allem stand, konnte alles ausdrücken.
Geboren wurde Turner als Anna Mae Bullock im November 1939 in Nutbush, einem Kaff in Tennessee, von dem ohne den von ihr 1973 gesungenen Song „Nutbush City Limits“ wohl kaum jemand reden würde. Als sie den Nutbush-Text schrieb, lebte Tina Turner – noch – in einer toxischen Beziehung mit ihrem Komponisten und Ehemann Ike. Sechzehn Jahre zuvor, mit 17, hatte sie den hochbegabten, aber gewalttätigen Musiker kennengelernt. Und damit ein bekanntes Muster wiederholt: Tina Turners Mutter flüchtete vor ihrem eigenen gewalttätigen Ehemann und verließ die Familie, als Tina elf Jahre alt war.
Zum ersten Mal auf Platte festgehalten wurde Tinas Stimme 1958 auf dem Ike Turner-Song „Boxtop“ – klar und deutlich setzt sich ihr junges, lebendiges Organ in dem 50er-Jahre-Boogiesound durch. Über ihren Gesang auf dem Song „A fool in love“ von 1959 sagte Turners Labelchef später: „Alle Bluessänger klangen dreckig. Aber Tina konnte dreckig schreien – das war funky.“
Damals begann Tina, Perücken zu tragen – angeblich nach einem katastrophalen Blondierungsversuch beim Friseur. In den 60ern tourte Tina mit Ikes „Kings of Rhythm“ und der Backingband „The Ikettes“, an deren Namen man die Hybris ihres „Erschaffers“ gut ablesen kann. Die spektakulären, langen und schweißtreibenden Live-Shows galten als valide Konkurrenz zu den ebenfalls aufregenden Shows des „hardest working man in Show Business“, James Brown.
1966 kulminierte die anstrengende Zusammenarbeit des seit 1962 verheirateten Paares in dem furiosen Phil-Spector-Song „River Deep – Mountain High“, für den Ike keinen Finger gerührt hatte (geschrieben wurde er von Spector gemeinsam mit Jeff Barry und Ellie Greenwich, die Gitarre stammte unter anderem vom großartigen Jazzgitarristen Barney Kessel), der aber der dennoch unter „Ike & Tina Turner“ fungierte. Mit Spector traf Tina Turner auf einen fast noch größeren Despoten: „Ich habe den Song ungefähr 500000-mal singen müssen, am Ende stand ich schweißgebadet im BH vor dem Mikro “, hatte sie 2003 dem ROLLING STONE erzählt, auf dessen Cover sie 1967 erschien – als erste Frau und als erste Schwarze Künstlerin. Ein Meilenstein in der rassistisch geprägten Rockmusikgeschichte der 60er-Jahre.
Ike und Tina spielten 1969 als Vorband der Rolling Stones, „Proud Mary“, ein Cleerance Clearwater Revival-Cover, wurde 1971 ein Megahit und brachte ihnen einen Grammy ein. In den Shows aus den 70er-Jahren trägt die energetische Tina Turner opulente Perücken, kurze, schillernde Kleider, in denen sie gut tanzen kann, und reibt den Mikrofonständer so, dass Zuschauern schummrig wird – zu ihrem Image gehörte auch die (heteromännlich geprägte) Fantasie der Unersättlichkeit. Selbst, wenn ihr Privatleben mit dem drogensüchtigen, abusiven Ike längst die Hölle war.
Aber dann, kurz nach „Nutbush“, hatte Tina genug Selbstbewusstsein und physische wie psychische Verletzungen angesammelt, um sich zu befreien: 1976 floh sie mit 36 Cents in der Tasche (Ike war der Turnersche Kassenwart) vor ihrem Mann, reichte die Scheidung ein und ging seit 1978 musikalisch und privat ihren eigenen Weg. Die beiden trafen sich nie wieder.
1981 war sie wieder Vorband für die Rolling Stones – diesmal als Solokünstlerin, sie zwirbelte die Perücken noch höher, und hatte 1984 den größten Erfolg ihrer Karriere mit dem Studioalbum „Private Dancer“ – inklusive des Megahits „What’s love got to do with it“. „Tina – What’s love got to do with it“ hieß 1993 auch ein Biopic über sie, das auf ihrer Autobiografie basierte, in der sie die jahrelangen Gewalterfahrungen geschildert hatte. Später folgten Musicals und weitere Spiel- und Dokumentarfilme.
Tina Turner war seit den 90ern ein Symbol für weibliche Selbstermächtigung – dass sie als Schwarze Frau, als Gewalt- und Missbrauchsopfer die systematische Unterdrückung nicht nur überlebte, sondern darüber triumphierte, und damit die gesamte gesellschaftliche Entwicklung vom Anfang der Popmusik bis heute abbildete, macht sie zu einer Jahrhundert-Ikone. Einer glücklichen: Sie war 1994 in die Schweiz gezogen, lebte zuletzt mit ihrem deutschen Ehemann in einer malerischen Riesenvilla mit eigenem See-Zugang. Dort ist sie nach langer Krankheit nun auch gestorben. Es stimmt, was Alicias Keys auf Instagram schrieb: „What a warrior!“