Holger Czukay: Unermüdlicher musikalischer Erneuerer
Bundespräsident Walter Scheel zählte ebenso zu seinen Bewunderern wie die Protagonisten des frühen Punk und Postpunk. Einer Erinnerung an das CAN-Gründungsmitglied.
„Am Ende“, hat Holger Czukay einmal gesagt, „hat ein Musiker nur zwei Möglichkeiten: entweder die Musikgeschichte zu überbieten oder ganz von vorne anzufangen. CAN haben sich für die zweite Variante entschieden.“ Tatsächlich, CAN haben ganz von vorn angefangen, sie waren Meister des Verlernens und des Weglassens, sie haben den Minimalismus in die deutsche Rockmusik eingeführt und damit die deutsche Rockmusik als solche begründet; sie waren die ersten deutschen Rockmusiker, die sich nicht an der Imitation anglo-amerikanischer Vorbilder versuchten, sondern nach etwas Eigenem strebten; insofern könnte man sagen: die Geschichte der deutschen Rockmusik hat mit CAN angefangen. Und Holger Czukay war der unermüdlichste, hellste und nicht zuletzt lustigste musikalische Erneuerer, den es in dieser Geschichte gibt. Er hat Bass gespielt und war außerdem als Radiowellenmanipulator und Tonbandzerschnipsler tätig, er hat Sampling-Kunst betrieben, bevor dieser Begriff und die dazugehörigen Geräte erfunden waren.
Geboren wurde er 1938 als Holger Schüring in Danzig. Während des Kriegs floh seine Familie nach Westdeutschland, Anfang der 60er-Jahre zog Czukay nach Westberlin und begann bei einem Solisten der Berliner Philharmoniker, das Kontrabass-Spiel zu erlernen. Seine Karriere begann also ganz in der Klassik und in der akademischen Neuen Musik, Mitte der 60er-Jahre studierte er bei den Darmstädter Ferienkursen auch bei dem Komponisten Karlheinz Stockhausen. Zur Rockmusik kam er erst über seinen Schüler, den jungen Gitarristen Michael Karoli. Der hatte ihm vorgeschlagen, mal die Beatles zu hören, die seien viel interessanter als Stockhausen – das fand Czukay dann auch, während ja wiederum die Beatles zu dieser Zeit Stockhausen schon viel interessanter fanden als sich selbst.
Czukay und Karoli gründeten 1968 in Köln dann CAN, gemeinsam mit dem Schlagzeuger Jaki Liebezeit, dem Pianisten Irmin Schmidt – der ebenfalls bei Stockhausen studiert hatte – und dem Flötisten David Johnson, der die Band allerdings bald wieder verließ. Im Herbst des Jahres kam stattdessen der Bildhauer Malcolm Mooney dazu, den man auf der ersten CAN-Platte „Monster Movie“ aus dem Jahr 1969 dann als Sänger hört. Oder besser gesagt: als Murmler von Mantren; so wiederholt er in dem 20-minütigen Stück „Yoo Doo Right“, das die gesamte zweite Seite des Albums füllt, fast ausschließlich diese voodoohafte Folge von Worten: „Doo right, yoo doo right, doo right, yoo doo right“.
Die zwei Töne: wieder voran und wieder zurück
Holger Czukay wiederholt dazu auf seinem Bass unentwegt dieselben zwei Töne, während sich Jaki Liebezeits Schlagzeug ebenso stockend wie unermüdlich im Kreis bewegt: wieder voran und wieder zurück und wieder voran und zurück. Liebezeit, eigentlich ausgebildeter Free-Jazz-Schlagzeuger, hatte diese Monotonie und diesen Minimalismus zu seinem Individualstil erhoben und auch Czukay damit infiziert: „Als wir mit CAN anfingen“, hat er mir später einmal erzählt, „fragte mich Jaki oft, weshalb ich so viel spielen würde. Dann sagte er mir, ich sollte nur einen Ton spielen, das wäre genug. Für mich war das neu. Aber ich hab es gemacht.“
Denn das Neue war ja das, was sie reizte, und Czukay wurde zu einem Meister des Minimalismus. Schon auf der „Monster Movie“-LP ist sein Zusammenspiel mit Jaki Liebezeit atemberaubend: Immer wieder beginnen sie in Synchronie, aber immer wieder entwindet Czukays Bass sich dann auch aus der Verklammerung mit dem Schlagzeug und singt seine eigenen Melodien; schließlich schleicht er sich im Seitschritt wieder an die stoisch ruckelnden Drums von Liebzeit heran. Man könnte sagen: Beide sind aufeinander eingestimmt wie eine Maschine. Doch ist es eine Maschine, die unrund läuft, die den Fehler, die Abweichung schon in sich aufgenommen hat. Eine Maschine, die lebt. „Wenn Du Dich in das Leben einer Maschine einfühlen kannst“, sagte Czukay, „dann bist Du definitiv ein Meister.“
Malcolm Mooney verließ die Band 1970 schon wieder; den nächsten Sänger von CAN trafen Czukay und Liebezeit in einer Münchner Fußgängerzone: Der Straßenmusikant und Gammler Damo Suzuki gab zu diesem Zeitpunkt gerade ein Straßenkonzert – oder stieß rituelle Beschwörungen hervor, so genau war das nicht zu unterscheiden. „Jedenfalls“, so Czukay, „bin ich gleich zu ihm hin und hab ihn gebeten, am Abend mit uns aufzutreten, wir hatten im Blow Up Club ein Konzert.“ Mit Erfolg: Wegen des unkontrollierbaren Verhaltens des Sängers kam es im Publikum sogleich zu einer Schlägerei; von diesem Auftritt an arbeiteten CAN und Suzuki drei Jahre lang miteinander und spielten drei epochale Alben ein, „Tago Mago“, „Ege Bamyasi“ und „Future Days“ – epochal, weil die ritualistische Musik von CAN in Suzuki ihren perfekten Schamanen gefunden hatte.
Die reine Immanenz
So wurden sie bis Mitte der 70er-Jahre immer enthemmter und spiritueller und zum Inbegriff dessen, was in Großbritannien dann als „Krautrock“ tituliert werden sollte. Wobei sie mit den anderen Vertretern dieses vermeintlichen Genres in Wahrheit wenig gemein hatten: CAN spielten ja keine Hippie-Kommunen-Musik wie Amon Düül 2 und interessierten sich auch nicht für den Kosmos wie Popol Vuh und Tangerine Dream. Wenn bei ihnen spirituelle Effekte entstanden, dann aus dem Flimmern der Texturen und dem Schillern des Materials. Ihnen ging es nicht um das Transzendentale, sondern um die reine Immanenz, um musikalischen Materialismus und das Material der Musik. Es ging ums Verlernen, um Dekonditionierung, um den unmöglichen Versuch, aus den Traditionen herauszukommen, in denen die Musiker dieser Band doch so fest verwurzelt waren wie wenige sonst in ihrer Zeit.
Bis zu acht Stunden dauerten ihre Konzerte in dieser Zeit. Anderseits hatten sie auch richtige Single-Hits, zum Beispiel „Spoon“, die Titelmelodie zu einem Francis-Durbridge-Fernsehkrimi; sie gingen auf mehrere Auslands-Tourneen und wurden insbesondere in Großbritannien als wichtigste europäische Band gefeiert; der Bundespräsident Walter Scheel zählte ebenso zu ihren Bewunderern wie die Protagonisten des frühen Punk und Postpunk: „This is the three R’s: repetition repetition repetition“, sang etwa der bekennende CAN-Bewunderer Mark E. Smith 1978 in dem Stück „Repetition“ auf der ersten EP seiner Gruppe The Fall.
Als Damo Suzuki die Band 1974 verließ, versuchte Czukay den fehlenden Sänger gewissermaßen durch gesampelten Gesang zu ersetzen. In die fertigen Studiostücke schnitt er Stimmfragmente hinein, die er beim nächtlichen Drehen am Kurzwellenradio entdeckt hatte. Aber auch auf der Bühne benutzte er Tonbandgeräte, mit denen er Geräusche live dazu spielte. Außerdem ließ er mal ein Telefon klingen, drehte an Radios herum und bearbeitete eine Gitarre mit Akupunkturnadeln.
So erweiterte er das Spektrum seiner musikalischen Techniken erheblich, „am liebsten“, sagte er, „hätte ich den Sänger auf dieser Weise dauerhaft ersetzt. Aber das wollten die anderen nicht.“ Auch ansonsten hatte nach dem Abgang Suzukis das innere Gefüge von CAN zu bröckeln begonnen. 1976 kamen zwei neue Musiker dazu, von denen Czukay sich aus der Band gedrängt fühlte: der Bassist Rosko Gee und der Percussionist Reebop Kwaku Bah, die vorher in Steve Winwoods Band Traffic gespielt hatten. Mit ihnen, sagt Czukay, sei eine Art „Supergroup-Geist“ eingezogen; man wollte „professioneller“ werden, vergaß darüber aber das Experiment. Rosko Gee übernahm gegen Czukays Willen den Bass, und Reebop fing an, „mir bei den Konzerten den Stecker zu ziehen, wenn ich spielte. Ich hab mir gesagt: Drei Mal macht er das, dann gehst du. Und so war es. Im Juni 77 bin ich weg.“
Verarbeitung der chinesischen Nationalhymne
Erst ging er für ein Jahr in ein thailändisches Kloster, um dort seiner zweiten Lieblingsbeschäftigung zu frönen, der telepathischen Kommunikation mit Pflanzen; nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er Assistent und Aufnahmeleiter im Studio des Kölner Produzenten Conny Plank. Gemeinsam nahmen sie Gruppen wie D.A.F., Killing Joke und Ultravox auf, aber auch Kölschrockbands wie die Bläck Fööss und Zeltinger. Die Zusammenarbeit mit Plank sei für ihn enorm wichtig gewesen, sagte Czukay: Nach den frustrierenden Erfahrungen mit CAN habe er dadurch so viel Selbstvertrauen zurückerhalten, dass er auch als Solokünstler wieder gut arbeiten konnte.
1979 erschien seine erste Solo-LP „Movies“ mit dem von abenteuerlustigen DJs bis heute gern aufgelegten Reggae-Hit „Cool in the Pool“, der aus Schnipseln von russischen, französischen und luxemburgischen Radiostationen zusammengebaut worden war. Diese Technik des Experimentierens pflegte Czukay auch auf seinen folgenden Soloplatten bis hin zu dem fantastischen Album „Der Osten ist rot“ aus dem Jahr 1984, in dem er unter anderem die chinesische Nationalhymne verarbeitete. Außerdem war als Bassist auf der ersten Eurythmics-Platte „In The Garden“ zu hören; gemeinsam mit dem PiL-Bassisten Jah Wobble und dem U2-Gitarristen The Edge nahm er 1983 das Album „Snake Charmer“ auf; und bis in die Neunziger hinein musizierte er mit David Sylvian zusammen, etwa auf dessen Platten „Gone to Earth“ und „Flight and Premonition“.
Dann wurde es stiller um ihn. Die letzten Jahre lebte Holger Czukay in Weilerswist in der Nähe von Köln, neben dem Inner Space Studio, wo die CAN-Platten seit 1971 entstanden waren. Er konnte schon seit Jahren nicht mehr reisen – wegen eigener Gebrechen, vor allem aber, weil er seine schwer kranke Frau Ursula pflegen musste, die vor sechs Wochen nun gestorben ist. Zuletzt habe ich ihn vor einigen Jahren für eine ROLLING-STONE-Reportage zuhause besucht, in diesem tristen Vorort von Köln an einer noch viel tristeren Hauptverkehrsstraße.
Bevor wir ins Inner Space Studio gingen, saßen wir in einer Bäckereikettenfiliale vor dem Haus und tranken Filterkaffee. Czukay machte damals schon einen enorm hinfälligen Eindruck, er kam kaum die Wendeltreppe zu seiner Wohnung hoch, und alle paar Minuten rief ihn seine bettlägerige Frau zu sich ins Nebenhaus; es war ein wirklich herzzerreißend klägliches Bild, das dieser Mann bot – einer der größten Künstler, den die Rock- und Popmusik dieses Landes hervorgebracht hat. Doch so klapprig er war, so hell war er noch im Kopf, unermüdlich sprudelten die Anekdoten aus ihm, er erinnerte sich an unsere früheren Treffen und war so herzlich, wie man nur sein kann, und irgendwann hatte ich das Gefühl, als wäre ich aus der Fremde zu einem Vater zurückgekehrt, dem Vater der Musik, die mein Leben prägte. Am 5. September 2017 hat man Holger Czukay tot in seiner Wohnung gefunden. Er wurde 79 Jahre alt.