Zündungen im Zweijahrestakt
Speed ist das Zauberwort. Wer nicht rechtzeitig auf die Überholspur wechselt, bleibt auf der Strecke. „Speed“ ist auch ein vieldiskutiertes Buch über die physikalischen wie psychischen Grenzen des Geschwindigkeitsrausches. Die Gesellschaft zerfallt zunehmend in zwei Teile. Jenen, der das schwindelerregende Tempo mithält und sich in der globalen Gerüchteküche und in den grenzenlosen Wissensweiten des Internet soweit zurechtfindet, um nicht für blöd verkauft zu werden. Und jenen, der außen vor bleibt und nicht teilnimmt am Turbowahn. Während die einen also den Casino Boogie tanzen und sich auf der Höhe der Zeit wähnen, klammern sich die anderen immer verzweifelter an den Status quo. Oder an die heile Welt von Vorgestern, als die Strukturen überschaubar waren und die Überzeugungen wie in Stein gemeißelt Brot und Milch gab’s nur bis halb sieben, aber die SPD vertrat die Interessen von Malochern, die Grünen die von Fauna und Flora, und Eile hatte man allenfalls mit Weile. So gemütlich geht es heute indes nur noch in besonders geschützten Biotopen zu, wo man seinen eigenen Rhythmus pflegt, augenscheinlich unbeeindruckt vom Tosen und Toben ringsum.
Die Musikbranche ist so ein Residuum rechtschaffener Ruhe. Insbesondere die Plattenfirmen. Speed ist hier ein Fremdwort Nicht dass man auf der faulen Haut läge. Mitnichten. Emsige Biz-Drohnen schwirren um die Künstler herum, füttern ihre Egos und sichern die Rendite. Indem sie Produkte melken bis zum Gehtnichtmehr. Und solange das alte noch verwertet wird, würde ein neues nur stören. Vorschüsse wollen erwirtschaftet sein. Mal ganz abgesehen von den immensen Overheads, die sich seit den Siebzigern mehr als verdreifacht haben.
Das sei der Preis des Professionalismus, hört man von Verantwortlichen der Misere. Doch auch sie können nicht bestreiten, dass eine ungeheure Verschwendung kreativer Potenziale betrieben wird. Weil diese die meiste Zeit über brach liegen.
Die Rede ist nicht vom Stone Roses-Syndrom und chronischer Tachinose, nicht von selbstzerstörerischer Tranigkeit und schierer Faulenzerei. Das gibt es auch. Siehe Elastica oder Axl Rose. Nein, es ist der gewöhnliche Schlendrian, der Karrieren das Momentutn nimmt und Bewegung behindert Nehmen wir Radiohead, die nun bereits seit gut zwei Jahren am Nachfolger von „OK Computer“ friemeln. In derselben Zeitspanne produzierten die Beatles Jlubber Soul“,
J}eyolver“und „Sgt. Pepper“. Plus eine
Handvoll bahnbrechender Singles. Und verbrachten dafür, wie John Lennon seinerzeit peinlich berührt feststellte, „sündhaft lange Wochen im Studio“.
Tatsächlich hat sich die durchschnittliche Umschlagzeit einer LP von der Konzeption über die Aufnahme bis zur Veröffentlichung seit den Fünfzigern verfünffacht Drei Monate dauerte es damals vom Songschreiben bis zur Auslieferung der fertigen Platten. Drei LPs pro Künstler und Jahr waren keine Seltenheit Zuzüglich natürlich einiger Singles, die nicht etwa schnöde aus einer LP ausgekoppelt wurden. So war die Musik immer neu und aufregend, der Hörer Zeuge einer dynamischen Entwicklung. Noch in den Sechzigern galt es als exzessiv und extravagant, wenn sich die Rolling Stones für ganze sechs Wochen in einem Studio verbarrikadierten, obwohl sie in dieser Zeit rund 20 Aufnahmen tätigten. „Blonde On Blonde“ entstand in wenigen Tagen, ^4stral Weeks“ ^dauerte unwesentlich länger, für „Pet Sounds“ schlugen luxuriöse fünf Wochen Studiozeit zu Buche. Und jeweils drei Monate nach ihrer Fertigstellung standen diese LPs in den Läden.
Heute unvorstellbar. Bis allein die Marketingmaschinerie eines Labels anläuft, vergehen wertvolle Wochen. Und dann: Interviews, Tourneen und T-Shirts. Und der Ruch des Video-Clips, der nicht nur sinnlos Zeit und Geld verschlingt, sondern nicht selten Selektion und Timing des Materials mitbestimmt. „Zielgruppenspezifisch“. „Yeah, it’s a drag“, sagt Noel Gallagher, „but there’s nothing you can do about it.“ Zu schwerfällig seien die Apparate, zu viele Entscheidungsträger beteiligt, zu viel stehe auf dem Spiel. Dass die Musik nicht besser wird durch ewiges Lavieren und die Verflechtungen globaler Logisterei, liegt auf der Hand. Das Produkt setzt Schimmel an, noch ehe es beim Verbraucher landet. Und die Künstler werden zum Müßiggang angestiftet. „Every band has become self-indulgent“, klagt Nicky Wire von den Manie Street Preachers, undjarvis Cocker von Pulp assistiert: „Wir sind alle Gefangene dieses absurden Zweijahrestakts geworden, der jede Spontanität untererdrückt, jeden kreativen Impuls erstickt und dich zum Sklaven von Promo-Kampagnen macht.“
Wäre ja alles nicht so tragisch, wenn die Resultate den exorbitanten Aufwand rechtfertigen würden. Doch verhält sich die Verweildauer in Tonstudios meist umgekehrt proportional zur künstlerischen Brisanz eines Langspielwerkes. Und exklusive Single-Produktionen rechnen sich fatalerweise schon lange nicht mehr. Je schneller sich das Kommunikationskarussell dreht, desto statischer und zeitintensiver arbeitet die Tonträger-Industrie. Vielleicht geht’s ihr ja zu gut Immer noch.