Zerstört durch die Augen der Welt
Sänger, Schriftsteller, Verleger und Vordenker einer aggressiven Askese: Henry Rollins hat es abseits des Mainstream zu beachtlichem Ruhm gebracht. In seinem neuen Buch „Get In The Van“ beschreibt der Radikalist in Tagebuchfragmentendie konfusen Zeiten mit der Hardcore-Band Black Flag. Der ROLLINGSTONE veröffentlicht Auszüge aus Rollins’Aufzeichnungen exklusiv auf deutsch.
14.2.1983, Hamburg. Der Auftritt hier war in einem Club namens Markthalle. Jede Menge Leute. Jede Menge richtige Skinhead-Ärsche. An der Bar nahmen sie (Mike) Watt (Bassist der Minutemen) aus, als sie seinen amerikanischen Akzent hörten. Während wir spielten, standen die Skins alle ganz vorn, schubsten die Leute herum und erzählten uns, wir sollten nach Hause verschwinden. Jedesmal wenn ich zu nahe an den Bühnenrand kam, holten sie aus und versuchten, mich am Kopf zu treffen. Schließlich fragte ich die Leute im Publikum, wie viele von ihnen die Skins für Arschlöcher hielten. Der ganze Laden jubelte. Die Skins verzogen sich nach hinten und glotzten bloß.
Ich spielte wild. Ich leerte mich aus. Ich komme mir vor wie ein trockener Schwamm. Du kannst spielen, bis du umfällst, und keinen interessiert es. Da ist viel, von dem sie nie etwas wissen werden. Ich will die Dinge nicht, von denen sie mir erzählen, ich müßte sie wollen. Ich verliere alle Hoffnung für die Menschheit. Ich mag nicht mehr schreiben. Ich hasse alles, und ich bin einsam und ich glaube, es gibt keinen Ausweg. Zerstört durch die Augen der Welt.
15.2.83, HAMBURG. Day-off in Hamburg. Nicht viel gemacht. Irgendein Kerl kam, um sich mit uns zu unterhalten. Er brüllte wie am Spieß und schaffte es, daß alle Leute zu uns hinsahen. In dem Moment kam ein Bulle rüber, und wir mußten an der nächsten Haltestelle aussteigen, wo er dazu überging, uns anzumachen, weil wir keine Fahrkarten hatten. Wir taten so, als ob wir blöde Amis wären, aber es funktionierte nicht. Er wußte, daß wir ihn verarschten. Er warf uns raus. Abgesehen davon aß ich eine Menge Orangen und schlief viel. Das brauchte ich auch.
Greg (Ginn) legte sich mit den Leuten an, denen der Feinkostladen unten im Parterre des Hotels gehört. Sie wollten uns übers Ohr hauen. Mir war es egal, weil ich wußte, daß diese Leute es versuchen würden, aber Greg war völlig sauer. Er und Dukowski fingen an, sich Essen aus dem Kühlschrank zu nehmen und die Kerle anzubrüllen. Die Männer hinter dem Tresen wußten, daß man sie durchschaut hatte, aber sie konnten nichts machen und mußten es akzeptieren. Sie sahen uns an und merkten, daß wir sie windelweich prügeln könnten. Nachdem du ein paar Tage lang nichts zu essen hattest und dich mit Skinheads herumschlagen mußtest, ist irgendetwas in deinen Augen, das drückt einfach aus: Leg dich bloß nicht mit mir an.
17.2.83, KÖLN. Gestern nichts geschrieben. Gestern abend lernte ich Volker und Eric von den Vomit Visions kennen. Sie schenkten mir ein paar ihrer Platten, die ich noch nie gesehen hatte. Hat Spaß gemacht, die Jungs kennenzulernen.
Die Show war wild. Am Eingang nahmen die Türsteher den Leuten ein paar Messer und eine Pistole ab. Während wir spielten, sah ich, wie ein Kerl einem anderen was mit einem Bleirohr überziehen wollte. Ich riß es ihm aus der Hand, als es auf den Kopf des anderen heruntersauste. Verrückt.
Die Journalisten und die ewigen Herumhänger behandelten mich, als sei ich eine Art Star. Interviews sind Achterbahnfahrten fürs Ego. Sie sind eine egozentrische Zeitverschwendung, solange sie nicht rein der Information dienen. Manche Leute leben von der Starverehrung.
Später, in der Halle von Osnabrück. Kalt hier. Aus irgendeinem Grund sind Skinheads auch drin. Es ist noch nicht einmal Soundcheck, und sie sind schon hier. Sie machen mich nervös. Ich mag den Druck nicht, unter den starren Blicken irgendeiner blöden Armee-Fraktion spielen zu müssen. Macht ist eine gefährliche Sache. Organisationen sind böse. Einheit ist böse. Nur ein feiger Idiot würde sich einer einheitlichen Fraktion anschließen. Das ist gesundheitsschädlicher Mist. Der Außenseiter bildet eine Gefahr für die Macht des Gleichförmigen. Wenn du den Außenseiter nicht bekehren kannst, mußt du ihn zerstören. Vielleicht hassen uns die Skinheads deshalb so sehr.
Der Soundcheck ist vorbei. Lief ganz gut. Die Skinheads machen mich nervös. Es ist
schwer genug, diese Auftritte zu machen, da muß ich mich nicht auch noch mit diesen Wichsern herumschlagen. Es gibt immer zu viele von ihnen. Ich sehe nie einen alleine. Morgen früh um halb acht fahren wir nach Berlin ab. Mike Watt hört nie auf zu reden. Dabei gibt es hier keinen Ort, an den ich mich verziehen kann. Der Raum ist klein, und wir sitzen alle hier fest. Ich glaube, ich werde Watt eine reins-:hlagen, bevor wir hier durch sind. Scheiße. Vielleicht sollte ich mir einen Job in einer Bücherei besorgen oder in einer Höhle leben. Ich weiß es nicht.
18.2.83, BERLIN. Hallo, hier im SO 36 in Kreuzberg. Drinnen ist es kalt. Die Heizung ist kaputt, und es ist so kalt, daß es wehtut. Weißt du, was kalt bedeutet? Wenn du noch nie an einem kalten Ort warst, dann schau doch im freundlichen SO 36 vorbei, hier in Berlin, nur fünf Minuten entfernt von der Mauer.
Wir kamen problemlos nach Berlin rein. Das Hyde Park, wo wir gestern abend spielten, war schon seltsam. Nach einem Stück schnitt jemand das Hauptkabel durch, und wir mußten den Rest des Auftritts bis auf die Monitore ohne PA spielen. Wir drehten sie zum Publikum hin, damit sie den Gesang hören konnten. Es war okay, klang wie im Übungsraum. Anscheinend war es allen völlig egal. Scheiße, mein Kugelschreiber läuft aus, weil es so kalt ist. Mugger wärmt Greg die Hände, indem er ein Feuerzeug drunterhält.
20.2.83, ÖSTERREICH. Sind gerade nach Österreich eingereist Der Auftritt gestern abend war gut. Ungefähr 1100 Leute waren da. Wir spielten im Löwenbräukeller, einer riesigen Bierhalle. Vor unserem Auftritt sah ich mir die Maßkrüge an, aus denen die Leute dort trinken. Die müssen ungelogen schon mehrere Pfund gewogen haben. Ich mußte ständig daran denken, daß mir einer davon den Schädel zertrümmern könnte. Ich schrieb jemandem eine Postkarte, auf der stand, daß dies mein letzter Auftritt sein könnte. Du kannst nicht besonders gut singen, wenn dein Kopf voller Glas ist. Niemand warf etwas auf uns. Vor dem Auftritt erzählten uns ein paar Leute, daß vor vielen Jahren Hitler auf derselben Bühne gesprochen hat.
I.3.85, LOS ANGELES. Ich hoffte wirklich, Bruce Springsteen würde sterben, sterben, sterben. Ich dachte, es wäre Ende der Siebziger passiert. Für mich völlig in Ordnung. Keine „Bruce“-Parties mehr, auf denen Teenies bei einer ihrer Freundinnen zu Hause sitzen, Bruce Springsteen-Platten hören und weinen. Das muß dermaßen öde für die Jungs gewesen sein. Aber er ist wieder da, und mehr Leute denn je zuvor werfen sich dem Boß zu Füßen. Ich habe Schwierigkeiten, mir Amerikanismus als coolen Trend vorzustellen. Kann man damit Mädchen abschleppen? „Hey, Süße. Schau mich an – born in the USA. Laß uns einen losmachen.“ Der Boß enttäuscht mich. Kein Alk, keine Drogen, kein Spandex, keine Feuerwerke auf der Bühne. Deine Eltern würden ihn mögen. Was für ein verdammter Langweiler.
Ich kann schon die Soldaten sehen. Es ist Krieg, sie springen über die Felder und singen „Born In The USA“, während sie Kugeln einfangen. Junge Männer werden den Bruce-Stil nachmachen — Stiefel, Jeans, bei denen ein rotes Taschentuch aus einer hinteren Hosentasche heraushängt und ein weißes T-Shirt. Der Boß sieht aus wie das Stereotyp eines jungen Schwulen. Das ist gut. Diese Kids gehen dann in die Stadt und kriegen es richtig, auf die harte Tour, the American way.
Es ist krank. Rockmusik bringt Soldaten und Mörder hervor. Es ist so lange in Ordnung, bis Bruce buth mit einer Brechstange hinter dir her ist, während er den Text zu „Dancing In The Dark“ brüllt. Das ist der Punkt, an dem ich ein kleines bißchen sauer werde. Was ist bloß aus Jackson Browne, Gesundheitssandalen, Cordhosen und bescheuerten Gürtelschnallen geworden?