You Killed Me First: der Horror des Alltäglichen
Die Ausstellung "You Killed Me First" widmet sich dem New Yorker Cinema of Transgression, das in seiner Drastik auch Quentin Tarantino beeinflusste.
„Fucking filthy fucking pig“, kreischt die von der Sängerin Lydia Lunch gespielte Hure. Ein tätowierter Rockertyp ist gerade dabei, sie brutal von hinten zu nehmen, anschließend rammt er ihr seine Faust zwischen die Beine – hart, herzlos und ohne jede Zärtlichkeit. Die Kulisse ist ein trostloses verdrecktes Apartment, gefilmt in grobkörnigen Schwarzweiß-Bildern. Später schlitzt der Rockertyp einem Passanten die Kehle auf, nur weil er eine anzügliche Bemerkung gemacht hat, um danach ungerührt in einen prachtvoll abgefuckten Straßenkreuzer zu steigen und mit Lydia Lunch weiteren Gewalt-Exzessen entgegenzufahren.
Richard Kerns 20-minütiger Kurzfilm „Fingered“ von 1986 ist ein ausgesprochen drastisches Schlüsselwerk des Cinema Of Transgression. Der lose Zusammenschluss einiger New Yorker Filmemacher verstand sich in den Achtzigern als cineastische Adaption von Punk und No Wave. Die Berliner Museum Kunstwerke widmen der vom Mainstream weitgehend ignorierten Underground-Szene nun die Ausstellung, „You Killed Me First – The Cinema Of Transgression“, die noch bis zum 9. April gezeigt wird.
Im seinem Manifest „The Cinema of Transgression“ fordert der Regisseur Nick Zedd: „Wir schlagen vor, die Grenzen zu überschreiten, die von Geschmack, Moral oder anderen Wertesystemen, die den Geist der Menschen einzwängen, gesetzt sind.“ Ähnlich wie bei Throbbing Gristle und den Künstlern der frühen Industrial-Szene, ging es dabei um die möglichst drastische Konfrontation mit dem Horror des Alltäglichen: „Can the world be as sad as it seems?“ Einige der gezeigten Filme könnte man auf den ersten Blick für Hardcore-Pornos halten – schon weil die konsequent schmuddeligen Sex-Szenen fraglos echt sind. Doch ebenso offensichtlich ist der Einfluss von Künstlern und Autoren wie Kenneth Anger, William S. Burroughs oder Hubert Selby und die Auseinandersetzung mit einer real existierenden sozialen Härte. Während die Wall Street im Geldrausch glitzerte und Ronald Reagan den Kalten Krieg weiter erkalten ließ, feierte das Kino der Überschreitung eine geradezu dokumentarische Hölle aus Dreck, Lust und Gier –angesiedelt in Manhattans Lower East Side, damals noch ein Tummelplatz für Penner, Junkies und Nutten.
Sex hat in den Filmen von Kern, Zedd oder Karen Finley nichts Liebevolles oder Befreiendes, meist ist es ein Mittel, um Macht auszuüben. Und dennoch – oder gerade deshalb – nimmt man Lydia Lunch nicht als Opfer wahr, sondern als starke, selbstbewusste Frau. Die Sängerin, Künstlerin und Autorin war das weibliche Gesicht des No Wave ebenso wie des Cinema Of Transgression. Im Sonic-Youth-Song „Death Valley 69“, den sie 1984 zusammen mit Thurston Moore geschrieben hat, schildert Lydia Lunch die Morde von Charles Mansons Family als das Amok laufende Unbewusste Amerikas. Das von Richard Kern inszenierte Video kombiniert B-Movie-Splatter mit prügelnden Polizisten.
Richard Kern arbeitet heute als Fotograf für Blätter wie „Vice“, „GQ“ oder „Playboy“. Seine Mädchen sind längst nicht mehr so böse wie Lydia Lunch oder Lung Leg. Trotzdem hat das Cinema Of Transgression nachfolgende Generationen von Künstlern maßgeblich beeinflusst. Quentin Tarantino und Robert Rodriguez sind sicher die bekanntesten. Denn bei allem Willen zur Grenzüberschreitung gilt nach wie vor: „It’s only a movie.“