Xiu Xiu – Friedhofswärter der Kuscheltiere
Mit seinem Projekt Xiu Xiu verwandelt Jamie Stewart finstere Triebe in grossen Pop. Wer ist dieser Mann?
Jamie Stewart, der Mann, der unter anderem genüsslich davon gesungen hat, wie wahnsinnig er sich selbst hasst und wie er den amerikanischen Präsidenten brutal vergewaltigen wolle, ist ein außerordentlich freundlicher Mensch. Am Ende des Telefongesprächs sagt er: „Wenn wir das nächste Mal in deiner Stadt sind: Come to our show and say hi!“ Eine Höflichkeitsfloskel, die ein Musiker nur dann noch überzeugend aussprechen kann, wenn er weiß, dass er Underground ist – und es mit seiner Art Brut, seiner schwierigen Musik, auch bleiben wird.
Auch im noch weithin unerschlossenen, schaurig-schönen Mikrokosmos seiner Band Xiu Xiu (gesprochen „Schu Schu“) fordert Stewart sein Gegenüber neuerdings dazu auf, „Hi!“ zu ihm zu sagen, in einem neuen Song: „Hi!“, wer – wie er – sein Leben vergeudet. „Hi!“, wer nachts einsam ist. „Hi!“, wer Mordfantasien gegen „ihn“ hegt – was bei Xiu Xiu eine schwule amour fou genauso implizieren könnte wie eine heterosexuelle. Stewart selbst ist offen bisexuell. Und liebt es.
In der zweiten Strophe von „Hi“, der ersten Single vom neuen, insgesamt achten Xiu-Xiu-Studioalbum „Always“, fährt er im kurzatmigen, androgynen Vibrato fort: „If you have eaten it all, say hi/ If your bra is on fire, say hi/ If your bed is a living hell, say hi, hi.“ Scharfe 8-Bit-Salven aus einem Nintendo DS reiten den Song auch musikalisch in diese ganz bestimmte Sorte von innerer Zerrissenheit, die typisch ist für Xiu Xius Vorstellung von queerem Pop, in den Post-Punk, Art Rock, New Wave und diverse Elektronik einfließen.
Dabei hat Stewart in zehn Jahren Xiu Xiu weitaus schmutzigere, brutalere Reflexionen über das Leben geschrieben als „Hi“. Songs mit einem neurotischen, fast schon pornografischen Blick auf die seelischen Abgründe des Menschen. Ist Jamie Stewart ein Gefühlsextremist? „Klar“, sagt er lachend, „und zwar ein besonders lächerliches Exemplar.“ So haben die pathologischen Dramen von Xiu Xiu über die Jahre sie alle über die Jahre angezogen, durch die Untiefen des Internets: die lonely hearts und sexuellen Abweichler, die Indie- und Goth-Geeks, die infantil-lüsterne Hipster-Schickeria und die politischen Mädchen und Jungs aus den Queer-Referaten.
Sonderlich viele Platten haben sie nie verkauft, aber mittlerweile dürfte fast jeder schon mal irgendwo über diese abgründig faszinierende Band gestolpert (und dabei womöglich kleben geblieben) sein. Ohne allzu vulgärfreudianisch zu werden: Für viele Fans besteht gerade in Xiu Xius stellvertretender, durchaus poetischer Auseinandersetzung mit unterdrückten, verdrängten Ängsten und Triebimpulsen die wohl größte Lustquelle an dieser Band.
Im Musikvideo zu „Hi“, einer absichtlich amateurhaft wirkenden Performance-Schnippselei, fackeln Xiu Xiu nachts Kuscheltiere vor einer Kirche ab, die Autobiografie des republikanischen Vorzeigekriegstreibers Dick Cheney („In My Time“) landet vor der Filiale des großen US-Buchhändlers Barnes & Noble demonstrativ in der Mülltonne. Zu zweifelhaftem Ruhm hatte es im Vorjahr schon der Clip zu „Dear God, I Hate Myself“ gebracht, in dem man das Songmotiv des Selbsthasses ziemlich plakativ aufgegriffen hatte: Während Stewart vor einer statischen Kamera seelenruhig Schokolade verspeist, steckt sich seine musikalische Partnerin Angela Seo innerhalb der dreiminütigen Spielzeit gleich mehrfach den Finger in den Rachen. Dass die Band den Umgang mit Bulimie thematisieren wollte, hätte die Skandalrufer gar nicht interessiert, erzählt Stewart. Die Zensur des Videos bei YouTube habe ihn geschockt.
Sagt man zu ihm allerdings, dass man sich innerhalb des audio-visuellen uvres von Xiu Xiu mit all seinen vorpolitischen Statements, seinem fast hysterischen Provozieren und der ganzen, vielen Katharsis mitunter vorkomme wie beim Tag der offenen Tür an einer betont hippen Kunsthochschule – dort wird am Abend schließlich auch mit Vorliebe zu den Platten von The Smiths und Joy Division getanzt -, lacht er sich am anderen Ende der Leitung in Durham, North Carolina erst einmal eine halbe Minute lang schlapp. Es ist kein böses, sondern ein warmes, volles Lachen. „Der Schmerz ist bei mir nicht nach einem Abend weg“, sagt Stewart. Will heißen: Es ist alles noch viel komplizierter.
Heimliche Lieblinge der Popkritik waren Xiu Xiu schon immer, obwohl sich die Band stets jenseits der kommerziell relevanten Indie-Kontexte bewegt hat. Zum letzten Berlin-Konzert im Herbst 2010 kamen immerhin rund 400 Leute, die erlebten, wie ein schweißgebadeter Jamie Stewart die Songs mit zittriger, gezähmter Aggression ins Mikrofon wisperte, während Angela Seo stoisch den Synthesizer bediente und auf ihre Percussion-Werkbank eindrosch. Nach nicht einmal 45 Minuten war der entrückte und doch faszinierende Spuk ohne Vorwarnung vorbei. Die meisten Konzertbesucher hatten sich schon damals eher für den stringenteren Düster-Pop von Zola Jesus im Vorprogramm erwärmt. Und Xiu Xiu werden auch mit dem poppigeren neuen Album „Always“ eine Band bleiben, bei der jeder Ton schreit: Take it or leave it! Die Entscheidung haben Stewart und Seo 2010 noch einmal selbst bekräftigt – und Band-Merchandise mit ihrem eigenen Blut beschrieben. Darauf stand: „Xiu Xiu For Life“.
Fans der Band stehen ihnen in der Hinsicht in nichts nach. Einige sind in ihrer bedingungslosen Verehrung für Stewarts rohe Fantasien längst so weit gegangen, dass sie sich Xiu-Xiu-Tätowierungen haben stechen lassen, die sie ihm nach Konzerten stolz entgegenreckten. Fotos der Tattoos hat er mittlerweile per Aufruf auf xiuxiu.org eingesammelt, die 27 schönsten liegen als Poster der Vinyl-Version von „Always“ bei. Sogar eine Art erotisches Fetisch-Forum hat Stewart – der seine Jugend in den wegen der ansässigen Industrie auch „Porno Valley“ genannten Suburbs von Los Angeles verbrachte – auf seiner Website eingerichtet. Dort hat er mehr oder weniger explizite Bilder von Brüsten, Hintern, lüsternen Mündern und nackten Füßen der Fans hochgeladen. „Dreckig und leider ziemlich idiotisch“ findet Stewart diese Idee im Nachhinein. Für einen weiteren Blog-Eintrag mutierte er zum Gonzo-Reporter und beschäftigte sich ausführlich mit Webcam-Sex. Ziel der kleinen Alltagsperversionen: sich im eigenen, durchsozialisierten und gerade deshalb wohl auf ewig falschen Körper ein klein bisschen besser zu fühlen. In der Umdeutung von Erotik und Geschlecht liegt für Stewart einer der wichtigsten Fixpunkte seines kreativen Schaffens. You are beautiful, no matter what they say.
Xiu Xiu wurden 2002 von Jamie Stewart und Cory McCulloch in San José, Kalifornien gegründet. Den Bandnamen entlehnte das Duo dem chinesischen Spielfilm „Xiu Xiu – The Sent Down Girl“ von Joan Chen. Die politische Erzählung über die unmögliche Liebe der 15-jährigen Xiu Xiu zu dem Hirten Lao Jin in den Wirrungen der chinesischen Kulturrevolution enthält im Grunde all die großen, existenziellen Themen, an denen sich die Band in unterschiedlichen Besetzungen abgearbeitet hat: kindliche Unschuld, psychische Deprivation, sexueller Missbrauch, Selbstmord. „Es war von Anfang an die Essenz und einzige wirkliche Konstante von Xiu Xiu, Songs über Dinge zu schreiben, die uns oder unseren engsten Vertrauten wirklich passiert sind. Und darüber, wie sich die Politik in unseren Leben widerspiegelt“, sagt Stewart, der innerhalb dieses radikal subjektiven Ansatzes die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem eigenmächtig festlegt.
„Brian The Vampire“, einen Song über sexuellen Missbrauch unter Geschwistern, schrieb er, als er noch parallel als Vorschulerzieher arbeitete und ihm ein Junge von körperlichen Kontakten mit dem Bruder berichtete. Das größtmögliche Drama liegt für Stewart aber in seiner Biografie selbst. Dazu sollte man kurz einen Blick ins Familienalbum der Stewarts werfen. Jamie hat es ohnehin längst aufgeschlagen.
Der Vater, Michael Stewart: Zunächst mit der Beat-Band We Five erfolgreich, die für ihr Remake von „You Were On My Mind“ 1966 an der Seite der Beatles für den Grammy in der Kategorie „Best Performance By A Vocal Group“ nominiert wurden. Später fungierte er als Sessionmusiker und Produzent von Billy Joels „Piano Man“, in den 90er-Jahren entwickelte er Musik-Software. Für den eigenen Sohn hat sich der manisch arbeitende Vater wenig interessiert. Nach seinem Tod widmete Jamie ihm den Song „Mike“ auf „Fabulous Muscles“: „It is hard for me to think something happy about you/ Except for that, dad, I love you.“ Jamie Stewart hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass der Vater 2002 kurz vor der Veröffentlichung von Xiu Xius Debütalbum „Knife Play“ aus Depression Selbstmord begangen hatte.
Jamies Onkel, John Stewart: Von 1961 bis 1967 Mitglied bei The Kingston Trio, den kommerziellen, puritanischen Wegbereitern des politischen Folk-Revivals um den jungen Dylan. 1968 schrieb John den Monkees-Evergreen „Daydream Believer“ und tourte mit Robert F. Kennedys gescheiterter Präsidentschaftskampagne. Mit „Gold“, einem Duett mit Stevie Nicks, schaffte er es 1979 noch einmal bis auf Platz fünf der Billboard-Charts. 2008 erlag er einem Hirnschlag.
Eine zentrale Rolle spielt die Cousine Caralee McElroy: Sie stieß 2004 als Multiinstrumentalis-tin zu Xiu Xiu. Jamie und Caralee hatten sich ein Jahr zuvor überhaupt erst kennengelernt. Mit ihr verschob sich die Aura der Band leicht zum Positiven hin. Neben destruktiven Noiseattacken und Free-Jazz-Hysterie ließen Xiu Xiu auf den Alben „La Forêt“, „The Air Force“ und „Women As Lovers“ zunehmend auch subtilere, kammermusikalische Arrangements zu.
Der Cousine hatte Stewart mit „Little Panda McElroy“ schon zuvor das wohl einzige wahrhaftige Liebeslied in der Geschichte Xiu Xius gewidmet. „I can stop lying, I can stop punching my own face/ I can stop stealing money, I can stop hating my own heart/ I can do it/ Because of You.“ McElroy stieg 2009 aus der Band aus und arbeitet nach einem Intermezzo bei der Dark-Wave-Band Cold Cave zurzeit mit dem Songwriter Chris Garneau an einem Album.
Als dezidiert queere Band stehen Xiu Xiu deutlich in der Traditionslinie eines wütenden Pop-Feminismus, der sich offensiv gegen die Klischees männlicher Rockmusik stellt. Ihre ersten sieben Alben erschienen bei Kill Rock Stars, der Label-Institution der Riot-Grrrl-Bewegung, und dessen Untermarke 5 Rue Christine. Rufus Wainwright mit seinen schwulen Bildungsbürger-Operetten und die neuen androgynen Chorknaben des Indie-Rock bilden für die Band dagegen nur eine Art Schattenkabinett – Jamie Stewart war selbst immer ein Fan der unterkühlten britischen Wave- und Post-Punk-Ästhetik. Gemeinsam mit den Art-Rockern von Deerhoof haben Xiu Xiu 2010 das Joy-Division-Album „Unknown Pleasures“ in einer Neuinterpretation komplett auf die Bühne gebracht – für Stewart war es ein wahr gewordener Traum, einen Abend lang in die Rolle des zerquälten Ian Curtis zu schlüpfen.
Auch Morrissey verehrt er obsessiv, vor allem als Lyriker. Dass sich Stewart für ein Cover von dessen Song „Hated For Loving“ entschieden hat, ist für ihn dabei genauso erkenntnisreich wie seine Interpretationen von Queens „Under Pressure“ und von Rihannas „Only Girl (In The World)“, dessen Auswahl Stewart mit einer berührenden Geschichte über Homosexualität in der Provinz erklärt. „In Durham gibt es nur eine Lesben-Bar, in der man auch tanzen kann. Der Dancefloor war bis zu dem Moment komplett leer, als der DJ, Only Girl‘ auflegte. Als daraufhin all die Südstaaten-Lesben die Tanzfläche stürmten und diesen hetero-normativen Mist-Song mitsangen, haben sie ihn für einen Moment komplett umgedeutet. Das hat mich zu Tränen gerührt.“
Eben erst hat sich Stewart in einem Blog für die „Huffington Post“ über die latente Homophobie und das Fehlen einer queeren Szene in seiner Wahlheimat Durham beklagt. Dabei sei Bisexualität doch geradezu ein biologisches Privileg, schreibt er an anderer Stelle. Er hat daraufhin jede Menge giftiger E-Mails bekommen. Bevor er wieder aus Durham abhaue, werde er regelmäßig in dieser einen Bar sitzen, sagt Stewart. Wer ihn umbringen wolle, könne ja mal vorbeischauen.
Die simpelste Erklärung für die Kunst von Xiu Xiu: Im Grunde will der Solitär und Grenzgänger Jamie Stewart eigentlich nur geliebt werden. Nur ist von dieser Liebe nie genug da. Und vor allem: Sie kann trotzdem ganz schön wehtun.
Schmerzliche Grüsse
Vier essenzielle Xiu-Xiu-Platten für Anfänger
Fabulous Muscles
2004
Keyboards und drum machines stöhnen vor Schmerz, während sich Stewart mit Maso-Pathos an seiner Existenz abarbeitet. Das gefühls- und soundradikalste Xiu-Xiu-Album – und weiterhin ihr bestes.
La Forêt
2005 Eine nächtliche Waldwanderung ohne Taschenlampe, das Grauen wartet auf diesem Horror-Sound-track hinter jedem Baum. Für dickhäutige Avantgarde-Fans ein echtes Hörvergnügen.
Women As Lovers
2008 Xiu Xius anspruchs-vollstes Album changiert zwischen Folk, Free-Jazz und Industrial. Herrlich, wie Stewart und Swans-Mann Michael Gira „Under Pressure“ in den Darkroom zerren.
Dear God, I Hate Myself 2010
Stewart entdeckt den Nintendo DS als Instrument und veredelt damit halb-akustische New-Wave-Hymnen wie „Grey Death“ und „Chocolate Makes You Happy“. Das Xiu-Xiu-Pop-Album.