Wunschkonzert
Das Radio – was für ein geheimnisvolles, geradezu mythisches Gerät. Ein künstliches Ohr, ein unscheinbarer, unergründlicher Kasten, der Stimmen, ja selbst Musik aus dem Äther einfangt und in unsere Wohnzimmer bringt Mit anderen Uferten: der Draht zur Welt So verklärend jedenfalls sahen es unsere Vorfahren in den Kindertagen des Kommunikationszeitalters. Seitdem hat sich einiges geändert – da kann Woody Allen noch so sehr von den goldenen „Radio Days“ schwärmen. Und wenn LL Cool J behauptet: „Can’t Live Without My Radio“, dann empfindet man fast schon so etwas wie Mitleid. Radio, das läuft doch heute nur noch im Auto, weil wir wissen möchten, ob’s einen Stau gibt auf der A7 in Richtung Hannover. Oder weil wir Angst haben vor zuviel Stille um uns herum.
In George Lucas‘ Film »American Graffiti“ war das Radio noch Bestandteil des Teenager-Lebens, und ein Radio-DJ wie Wolfman Jack konnte damals tatsächlich noch Leben retten. Heute hingegen ist auf dem Moderatorenstuhl kein Platz mehr für kauzige Überzeugungstäter – und die formatierte Musikauswahl trifft eh ein Computerprogramm namens „Selector“. „Die größten Hits der Achziger und Neunziger und das Beste von heute“ – so oder ähnlich werben inzwischen nicht mehr nur private Stationen. „Durchhörbarkeit“ ist das Gebot der Stunde. Bloß nicht auffallen, nur ja nicht mit einem akustischen Fremdkörper den sedierten Hörer aus seiner Musik-Anästhesie reißen – sonst könnte der ja womöglich auf die Idee kommen, im ersten Schreck den Senderdurchlauf-Button zu drücken. Und wie würde man dieses Malheur dem Werbekunden erklären?
Wäre es da nicht herrlich, wenn man einfach noch mal von vorne anfangen könnte? Die „Radio Days“ wiedererwecken, und das Ohr zu Welt wieder öffnen?
Genau das passiert gerade. Natürlich nicht bei den verknöcherten öffentlich-Rechtlichen und auch nicht beim flott-frechen Privaten mit ganz, viel Mega-Power das beste Radioprogramm läuft im Internet: Da gibt es rund um die Ohr Samba aus Rio, Reggae aus Jamaika, Electro-Pop aus Tokyo. Es gibt die Dröhnung für den Banger, akustischen Country-Blues für den Marlboro-Mann oder Drum’n‘-Bass-Orgien für den fortgeschrittenen Raver. Wer will, hört komplette, unveröffendichte Live-Konzerte der Grateful Dead oder tanzt auf der Couch zu einem dreistündigen Set von Techno-DJ Derrick May. Und wenn es mal keine Musik sein soll, finden sich im Internet auch problemlos Sportübertragungen, Nachrichten und Radioshows – eben all das, was einen modernen, vielseitigen Sender ausmachen sollte. Nur spätpubertierende Moderatoren, die permanent fragen: „Seid Dir gut drauf, ey?“, die sucht man zum Glück vergeblich.
Kein Wunder also, daß die amerikanische Branchenbibel „Billboard“ unlängst in einer Titelstory erstaunt konstatierte: „Internet-Radiostationen finden mit Nischen-Programmen eine breite Akzeptanz.“ Allein im Land der unbegrenzten Möglichkeiten entstanden in den letzten drei Jahren 185 Radiostationen, die nur eines gemeinsam haben: Gesendet wird ausschließlich im Internet Auf 500 unterschiedlichen Kanälen wird dort selbst der ausgefallenste Musikgeschmack bedient:
„Spinner.com , der 1996 in San Francisco gegründete erste Internet-Musikservice, hat allein 120 unterschiedliche Musikstile in seinem Radio-Repertoire. Mit einem Soundarchiv von 175 000 Songs wird selbst die kleinste Nische problemlos abgedeckt Auch der amerikanische RoLLING Stone stellt aufJRsradio.com“ gleich ein ganzes Paket unterschiedlichster Genres ins Netz: HipHop, Rockmusik nur von Frauen, New Wave Classics, Electronica und vieles mehr. Und wer wissen will, was David Bowie privat hört, kommt hier auch auf seine Kosten: In der ROLLING STONE-Radioshow stellt er regelmäßig seine Musikfavoriten vor. (Im Gegenzug kommt man von hier via Link schnurstracks zum JBowie.net“, das unter anderem seine Dienste als eigenständiger Online-Provider anbietet.) Die Internetfirma „Atomicpop.com“, die neben verschiedenen Radiokanälen gleich einen kompletten Cyber-Musikbazar betreibt, machte unlängst Schlagzeilen, weil man hier das komplette neue Album von Public Enemy „There’s A Poison Going On ‚ für acht Dollar herunterladen kann (s. auch den Artikel“Bits-Krieg-Pop“au’S. 56).
Für die vielen Freunde lateinamerikanischer Musikstile ist JLatinworlcLcom/ radio“ das Paradies: 50 lateinamerikanischen Radiostationen sind hier auf Sendung und spielen rund um die Uhr Salsa, Son und Samba – klar, daß da ein Latin-Lover wie Talking Head David Byrne zu den Stammhörern zählt. Für die Freunde elektronischer Musik zwischen TripHop, Techno und abstraktem Electro-Funk sorgt die in San Francisco beheimatete „Betalounge“ mit stundenlangen und absolut einzigartigen DJ-Mixen. Alles, was man braucht, um diese Angebote zu nutzen, ist ein Computer, ein Modem, eine Telefonleitung (am besten ISDN) sowie einen JRealPlayer“. Diese Software spielt Musikdateien, ohne sie zeitaufwendig herunterzuladen, also gewissermaßen im Vorübergehen. Daß die dabei übertragene Daten-menge nicht ausreicht, um CD-verwöhnte Ohren zu verzücken, liegt auf der Hand. Man fühlt sich eher an vergangene Tage erinnert, als man das Ohr an das Transistorradio preßte, um die Musiksendungen auf AFN, BFBS oder Radio Luxembourg zu hören. Wer seinen Computer mit der heimischen Ste-reoanlage vernetzt oder zumindest in ein paar vernünftige Lautsprecher investiert, kann das rein akustische Man-ko immerhin erheblich reduzieren.
Während derzeit überall auf der Welt Online-Radiostationen aus dem Boden schießen, ist es in Deutschland seltsam ruhig. Allein der Hamburger Versuchssender „Subaudio“ bot von 1996 bis Anfang dieses Jahres einen
Kulturmix, der das gesamte Spektrum digitaler Übertragungmöglichkeiten ausnutzen wollte: Mit Digi-Kamera aufgenommene Interviews und exklusive Live-Konzerte waren jederzeit abruf bereit, ebenso ausgesuchte Videos, die von MTV und VIVA nur gekürzt oder gar nicht gezeigt wurden. Man konnte in die wichtigsten CD-Neu-Erscheinungen reinhören – und wer mochte, durfte sich auch das gerade erschienene Buch „Der schnelle Weg zum Nr.l-Hit“, das subversive Pop-Manifest der britischen Gruppe KLF, herunterladen.
„Für uns ist das Internet eine Möglichkeit, etwas völlig Neues zu entwickeln, ohne daß uns Landesmedienanstalten, Sender oder Verlage dazwischenreden“, schwärmte Gero Pflaum, Produktionsleiter und einer der Gründer von Subaudio, noch vor einem halben Jahr. Doch offenbar bestraft das Leben auch die, die zu früh kommen: Subaudio mußte zu Beginn dieses Jahres den Konkurs anmelden.
Erst seit einigen Monaten gibt es in Deutschland wieder ein reines Online-Radio. Doch „Cyberradio.de“ ist zumindest von seiner Programmstruktur nicht soviel anders als die „normalen“ privaten Radiosender in Deutschland: Es gibt „coole Gewinnspiele“, und die Sendungen tragen uncoole Namen und Schreibweisen: „Bits’n‘ Be@ts“, „Vibr@tions“ oder „Stars® CyberradioTV“. Zudem lief diese Site – im Unterschied zu fast allen anderen – zunächst nicht mit „Realplayer“, sondern nur mit Microsofts neuem „Windows Media Player“, doch dieses Manko wurde unlängst behoben. Das Programm mag Mainstream sein, aber vielleicht eröffnen sich ja erst dadurch die kommerziellen Chancen. „Cyber-Radio“ hat sich jedenfalls viel vorgenommen, will an die Börse, um dann mit frischem Kapital ein weltweites Netz lokal agierender Cyber-Radios zu installieren.
Was man ebenfalls an deutschen Beiträgen im Netz findet, sind die Online-Angebote diverser Rundfunksender, doch für Freunde origineller bis abseitiger Musik gibt’s hier wenig zu lachen.
Schuld an der deutschen Online-Misere sind die hohen Kosten. Wer heute hierzulande ins Internet möchte, muß kräftig zahlen: die Telefongrundgebühr die Einheiten für die Zeit im Netz werden selbstredend zusätzlich berechnet – plus die Kosten für den Provider, der in der Regel ebenfalls stundenwebe abrechnet.
In den Vereinigten Staaten ist das ganz anders: Mit einer monatlichen Pauschal-Gebühr von knapp 20 Dollar (für den Provider) kann man 24 Stunden ununterbrochen surfen, etwa bei „www-homejrom.“ Ortsgespräche sind in den USA gewöhnlich in der Grundgebühr enthalten – und so wird der Computer im Handumdrehen zum Internet-Radio. Oder auch zum Kino – denn längst ist es möglich, ganze Filme aus dem Internet runterzuladen. „The Phantom Menace“, der erste Teil der neuen „Star Wars“-Trilogie, wurde wenige Tage nach dem amerikanischen Filmstart von Hackern unerlaubt ins Internet gestellt Allein um der gequälten Augen willen sollte man sich den Film natürlich lieber im Kino ansehen – trotzdem beweist diese Aktion das noch lange nicht ausgeschöpfte Potential des Mediums.
Deutschland ist in diesem Punkt noch finsterstes Entwicklungsland: Die Zeitschrift „Tomorrow“ und das Telefonunternehmen Mobilcom starteten Anfang dieses Jahres den löblichen Versuch, für monatlich 77 Mark einen pauschalen Internetzugang anzubieten. Doch das Experiment scheiterte aus einer Vielzahl von logistischen Gründen schon nach wenigen Wochen. Derzeit liegen die günstigsten Tarife in Deutschland bei etwa fünf Pfennig pro Minute, das sind etwa drei Mark pro Stunde – wohlgemerkt allein für Telefonkosten!
Doch es gibt immer noch Hoffnung: AOL Deutschland arbeitet gerade an einem Pauschal-Angebot, das – basierend auf den 19.95 Dollar, die AOL America als Obolus fordert – monatlich zwischen 35 und 40 DM kosten soll (zuzüglich der lokalen Telefonkosten). Wenn diese Rechnung aufgeht (und sie wird ja schon von kleineren Providern praktiziert!), dann ist wohl endlich auch in den verschlafenen deutschen Computern Musik drin.
Dann sollte man allerdings auch das beherzigen, was Daniel Anstandig dazu bewog, im amerikanischen Cleveland den alternativen Internet-Sender DAER ins Leben zu rufen: „Ich hatte irgendwie das dumpfe Gefühl, daß sich die Programm-Direktoren von regulären Radiosendern nur noch um die rein geschäftlichen Aspekte kümmerten und nicht mehr um die eigentlichen Interessen ihrer Hörer.“
Anstandig macht seinem Namen alle Ehre und will die Fehler seiner etablierten Radio-Kollegen unter allen Umständen vermeiden: Er will den Hörer emstnehmen. Das mögen wohlfeile Worte sein, die man schon oft gehört hat Aber Anstandig hat einen immensen Vorteil: Er ist gerade mal 15 Jahre alt – und in dem Alter ist man bekanntlich noch lernfahiger als mit 55.