Wütend, wund und wunderbar: Die Alben der Woche vom 09. Oktober
Die Nerven bleiben wütend, Israel Nash hält die Zügel in den Händen, bei diesem Mal aber etwas lockerer, und John Grant kreist um sich selbst, schaffte es aber trotzdem, dass man seinem Zirkulieren gerne zuhört.
Album der Woche
John Grant – „Grey Tickles, Black Pressure“
Es ist nicht schön herauszufinden, dass man derjenige ist, den die Hämorrhoidensalbe-Reklame im Fernsehen meint. Oder ratlos im Gemüseladen zu stehen und nicht zu wissen, was man eigentlich noch kaufen soll, oder sich ständig anhören zu müssen, dass es Zeit wird, endlich loszulassen. Aber hey, es könnte schlimmer sein: „There are children who have cancer/ And so all bets are off/ ’cause I can’t compete with that“, singt John Grant in der Ballade „Grey Tickles, Black Pressure“ und erklärt die Zeit des Selbstmitleids für beendet.
Grant kreist auf seinem neuen Album zwar noch immer kunstvoll um sich selbst, inszeniert als hochsensibler Icherzähler dunkel eingefärbte autobiografische Songkostbarkeiten wie „No More Tangles“ und „Magma Arrives“. Er irrt wieder zwischen Elektro, Folk und Pop umher, um herauszufinden, wie er am besten mit seiner HIV-positiv-Diagnose umgehen soll, lässt einen erneut verdammt nahe an sich heran. Aber er ist nicht mehr der still Verzweifelnde, der er auf „Queen Of Denmark“ und „Pale Green Ghosts“ war.
„Grey Tickles, Black Pressure“ übersetzt Grants Kampf gegen die Verbitterung in hämische, lakonische, schmerzvolle, von Stimmungsschwankungen geprägte Folktronica-Songs; in furiose Dancetrack-Abzählreime („You & Him“), zickigen Elektropop („Snug Slacks“), Gospel-Techno-Funk-Hybride („Voodoo Doll“), Vintage-Synthiepop („Black Blizzard“), böse Balladen („Global Warming“), zartbittere Rocksongs („Down Here“) – in Lieder, in denen er nur noch ab und zu mit seinem eigenen Schicksal hadert, all die „queer narcissists“ verflucht, sich den Weltuntergang oder zumindest Einsamkeit wünscht, aber auch gern herumalbert und zum Beispiel davon erzählt, wie er einmal Joan Baez und Joan As Police Woman verwechselte.
Und es ist eine Platte, die letztlich doch fest an die Liebe glaubt. Das Hohelied auf die Liebe aus Paulus’ 1. Brief an die Korinther rahmt das Album ein – zur Eröffnung als Dekonstruktion in Form eines bedrohlich anschwellenden babylonischen Stimmengewirrs und am Ende von einem Kind vorgetragen als Metapher auf die Rückkehr zur Unschuld. Dazwischen inszeniert Grant – verpackt in einen coolen Shooby-dooba-Dancetrack – mit „Disappointing“ seine eigene Interpretation des Hohelieds auf die Liebe, die vom Lächeln des Geliebten schwärmt, gegen das alles andere nur enttäuschend ist: Dostojewski und Francis Bacon ebenso wie „ballet dancers with or without tights“.
(Gunther Reinhardt, ROLLING STONE 10/2015)
Weitere Veröffentlichungen in dieser Woche:
Mit „Out“ ist an diesem Freitag auch die nächste Platte von Die Nerven draußen – in der „life sucks“-Attitüden, dunkle Bassläufe und einsamen Gitarre wüten, wütend machen und die Wut der Menschen, die sie bedienen, eindrucksvoll nach vorne bringen. Etwas weniger ärgerlich geht es da bei Israel Nash zu, der mit „Israel Nash’s Silver Season“ eher träge Songs hören lässt, die Sonnenuntergänge auf der heimischen Veranda noch romantischer machen. Zum Glück betritt er damit nicht die oft ausgetretenen Country-Pfade, kann aber auch eine bestimmte Verwandschaft zu Neil Young nicht verschleiern. Auf vielen Wegen sind The Zombies auch schon gegangen – mit ihrem mittlerweile dritten (!) Comeback, das mit „Still Got That Hunger“ den zum Glück nicht untoten Musikern wieder ein Stück Beat-Geschichte aus den Fingern holt – und dem geneigten Zuhörer immer den Wunsch gibt, dem 70-Jährigen Colin Blunstone mit seiner rauchigen Stimme Beistand vom Hustinetten-Bär zu besorgen.
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