Wolf Wondratschek wird 60
Als wir einige Wochen vor unserem Treffen telefonierten, um die Modalitäten abzuklären, meldete sich ein Wolf Wondratschek, dessen zurückhaltende Jovialität und sympathische Kollegialität eigentlich nicht konvenieren wollte mit dem unironischen, hartgesottenen, immer etwas zu virilen Steher-Image, das man aus vielen Talk-Shows und Magazin-Artikeln kennt und das sich in den letzten Jahren, vielleicht auch schon Jahrzehnten immer mehr vor das eigentliche Werk gestellt hat – breitbeinig und mit dicker Hose. Man war auf einiges gefasst, zumal ein paar Stunden zuvor die Pressedame sich nicht gescheut hatte, noch einmal den guten alten Presseabteilungs-Klassiker zu bringen. Der Mann sei ja „schwierig“…
Fand ich nicht. Aufgeräumt schon eher, interessiert und ein bisschen misstrauisch. Das Misstrauen desjenigen, der von der Literaturkritik nichts mehr erwartet, weil sie bereits alles über ihn ausgekübelt hat, was sie an Häme, Neid und Ressentiment im Mülleimer hatte. Nun ja, Wondratschek hat vieles davon herausgefordert mit seiner anachronistischen Machismo-Nummer, mit seinem forcierten Einzelund Draufgängertum, seinem „Rimbaud-Fimmel“, wie er das selber einmal genannt hat, der immer leicht übertriebenen Koketterie mit der Halbwelt, und dann natürlich dem ewigen Boxen… Er hat sie alle besucht, die wirklich großen Faustkämpfer, und anschließend bedichtet: den von ihm sehr geschätzten deutschen Mittelgewichtsweltmeister Eckhard Dagge, den Prinzen von Homburg, Rocky Graziano, selbstverständlich Max Schmeling und, keine Frage, Muhammad Ali, den er vor allem würdigt dafür, dass er nicht nur zuschlug, sondern – ganz untypisch für einen Weltklasseboxer – anfing zu reden („die schnellen Beine, das gute Auge, der linke Jab, der Shuffle,/ all das ist nur die eine Hälfte seiner Strategie,/ die andere Hälfte ist Allah und der Rest Poesie“). Und wenn er nicht an ihren Fäusten den Friedhofsgeruch erschnupperte, dann hing er gern auf St. Pauli herum, vor allem an den ausladenden Brüsten Domenicas – und sang ihr das Hohelied der heiligen Hure: „Ihr Gang wirkte wie die Fortbewegung einer tropischen Schlingpflanze. Sie war fett und saftig. Eine schlafende Schlange. Ein Wildwuchs, der Millionen Jahre überdauert hat. Stellt sie auf eine Muschel – und malt die Fresken neu.“
Nein, er darf sich nicht beklagen, er hat die Rolle des poet maudit schon gelegentlich überreizt, würde das aber andererseits auch nie tun, dafür ist er dann doch Sportsmann genug. Aber, wie gesagt, eine gesunde Portion Argwohn hat er sich mit den Jahren offenbar antrainiert. „Sind Sie selbst daraufgekommen, oder hat man Ihnen das Thema aufgedrückt?“ „Neinnein, das war ich schon selbst…“ „Und? Mögen Sie meine Bücher, oder warum…?“ Ja…ääh… vor allem ihre frühen Gedichte…“ Und Wondratscheks Antwort kam laut und scharf und unverzüglich: „Na klar, wir reden nur über das, was uns gefällt, die Klugscheißerei überlassen wir anderen.“
Das war unmissverständlich, und eine wirklich komfortable Abmachung für ein Porträt zu seinem sechzigsten Geburtstag. Kein Wort über seine „Mexikanischen Sonette“, kein Wort über den Verszyklus „Carmen oder bin ich das Arschloch der achtziger Jahre“, der von der Zeitschrift „Titanic“ damals mit einem einzigen Wort besprochen wurde: „Ja“! Und ebenfalls kein Wort würde fallen über seine als Roman camouflierte Hagiographie des Münchner Kiez-Zampanos Walter Staudinger, „Einer von der Straße“. Sogar sein ästhetizistisches Spätwerk, die letzten beiden Prosa-Bände, in denen noch jeder Nebensatz von der hehren Prätention zeugt, Kunscht herstellen zu wollen, könnte man außer acht lassen. Statt dessen würden die in einem grandiosen Coup am regulären Buchhandel vorbei, nämlich über den damaligen Underground-Versand Zweitausendeins vertriebenen „Gedichte/Lieder“ im Mittelpunkt unseres Gesprächs stehen, also die vier Songbooks aus den Siebzigern, die jetzt in einem dicken Geburtstagssammelband wiederaufgelegt worden sind, einmal mehr bei Zweitausendeins.
Wir treffen uns im Berliner Westin Grand Hotel. Fünf Sterne, die man etwas zu deutlich sieht, die ihm offenbar auch etwas unangenehm sind, obwohl er ziemlich selbstverständlich damit umgeht. Über meine Begrüßungsfrozzelei „Na, das nenne ich mal standesgemäß abgestiegen“ lacht er nicht, sondern hebt überrascht die Augenbrauen: „Für mich? Ich mag das nicht… Ich würde nie hier absteigen, aber ich mache morgen ein Interview mit dem Fernsehen, die haben das gebucht, und ich wollte kein Theater machen.“
Er ist mir entgegengekommen im fünften Stock des riesigen Treppensaales, barfuß, das Hemd aus der Hose und ganz aufgeknöpft, damit ich sehen kann, dass er trotz seiner 60 Jahre noch voll da ist, schlank, gut trainiert, dezent gebräunt. Wir gehen in sein Zimmer, er legt sich aufs Bett, zündet sich eine Nil an, bestellt beim Zimmerservice Wasser, Kaffee und Kuchen, und als die junge Hotelfachfrau nur kurze Zeit später klingelt, komme ich mir vor wie ein Strichjunge – und vielleicht soll ich mir auch so vorkommen. Diese blonde weltläufige Berlinerin hat aber vermutlich schon ganz anderes Elend gesehen und lässt sich ihre Irritation, sofern sie überhaupt so etwas kennt, mit keiner Miene anmerken.
„Wichtig ist nur“, beginnt er mit der Zigarette zwischen den Zähnen, „dass Sie sich wohlfühlen! Und dass Sie versuchen, einen Zugang zu einer Person zu finden, von der Sie vielleicht etwas gelesen haben, die Sie aber nicht kennen. Es gibt ja noch eine andere Präferenz, über die man seriös nachdenken kann, dass man den ganzen Unfug der Privatsphäre völlig undramatisch als Verschlusssache behandelt. Einfach sagt: Ich stehe dafür nicht zur Verfügung. Ein Gedanke, der mir eigentlich sehr gut gefällt, nur habe ich es nie konsequent gemacht, und das jetzt noch einzuführen?“
Ich wende ein, dass er hier ja auch nicht in seiner Eigenschaft als Privatmann sitzt, sondern auch eine Rolle spielt, die des Schriftstellers. Er verneint das entschieden. Er würde hier auch so liegen, wenn ein Freund zu Besuch wäre. „Nein, bestenfalls gelingt es uns in ein Gespräch zu kommen, das nicht die hundertste Wiederholung von irgendetwas ist.“ Er zeigt auf seine Hose. „Das hier zum Beispiel ist die Hose von Keith Richards.“ Ob es dazu eine Geschichte gibt, die erzählenswert wäre? Er überlegt nicht lange. „Ich bin mit einer alten Freundin mit einem Dreifach-Backstage-Passport bei den Stones gewesen. Die kümmerten sich gar nicht um uns, Keith Richards und Ron Wood spielten Billard. Charlie Watts saß nur stumm in der Ecke, weggetreten, den ging das alles gar nichts mehr an, sehr beeindruckend… Und da hat eine Hose gelegen, und ich sagte, so eine Hose möchte ich gern haben, und da meint Keith nur, nimm hin… Und jetzt habe ich eine Hose von Keith Richards…“ „Das klingt jetzt ein bisschen wie für den ROLLING STONE-Leser inszeniert?“ „Sie müssen, glaube ich, aufhören, unter so einem Beobachtungsdruck zu stehen. Wir sollten zu den Sachen kommen.“
Da hat er Recht. Und die Sachen, das sind in erster Linie die gesammelten „Gedichte aus Zweitausendeins Jahren“, Klassiker wie die lange Grabrede für Rolf Dieter Brinkmann „Er war too much für Euch, Leute“, wie die Liebeserklärung „Für meine Mutter“ („Aus Cezannes Äpfeln hätte sie Apfelmus gemacht“), wie das kleine traurige Liebespoem „Endstation“ („Es gibt nichts, was einen Mann einsamer macht/ als das leise Lachen am Ohr eines andern“) – und nicht zu vergessen das wunderbare, mittlerweile in kaum einer deutschen Gedichtanthologie fehlende „In den Autos“: „Wir waren ruhig,/ hockten in den alten Autos,/ drehten am Radio/ und suchten die Straße/ nach Süden// Einige schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit,/ um uns zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern.// Einige saßen auf dem Berg,/ um die Sonne auch nachts zu sehen“ usw.
Das ist nicht nur die Sehnsucht, der Erfahrungshunger und gleichzeitig auch schon die Desillusionierung der Adoleszenz, die hier zur Sprache kommt, sondern des ganzen Jahrzehnts. Wondratscheks Gedichte dieses Dezenniums sind auf eine anrührende Weise sentimental, weithaltig, haben das nötige Gespür für den poetischen Augenblick und die stilistische Potenz, den abzukonterfeien – und vor allem haben sie ihre Zeit wie Flüssigharz umschlossen. Die letzten Ausläufer des 68er-Optimismus, die anschließende Depression, die Schwierigkeiten einer linken Positionierung, sofern man weiterhin Frontalopposition zum Staat sein, sich aber auch nicht mit dem Terror identifizieren wollte, schließlich der Deutsche Herbst und immer wieder die popkulturellen Sensationen jener Tage wie beispielsweise der „Thrilla of Manilla“ – seine Gedichte schreiben dieses „elende, großzügige Jahrzehnt“ mit.
Und manchmal sind sie auch erstaunlich hellsichtig, wie in dem Todessehnsuchts-Blues „James, Jimi und Janis“, der gewissermaßen die Raving Society vorwegnimmt und deren totale Geschichtsvergessenheit schon mal im Futur ironisch kommentiert: „Ob Gott ihr einen geschenkt hat, einen Mercedes Benz?/ Ob Dean noch immer auf die Taylor wartet?/ Und Jimi umgestiegen ist/ Auf Honig?// Wen interessiert denn das,/ werden deine Kinder sagen und/ ein paar King-Kong-Pillen schlucken/ und sich wohlfühlen wie vierdimensionale/ Schildkröten“.
Ich erzähle Wondratschek die Geschichte von Gottfried Benn, der anlässlich seiner ersten Werkausgabe noch einmal sein Frühwerk durchblättert, die harten, kruden, expressionistischen „Morgue“-Gedichte – und sie nach all den Jahren nicht mehr versteht. Er merkt sofort, worauf ich hinauswill und verneint das für seine Poeme. „Nein, das ist ganz wunderbar, das ist frisches Zeug. Ich finde, als ich sie jetzt wieder las, das ist so wenig alt wie ein Song von Dylan. Ich lese daraus auch jetzt wieder manchmal. Das ist nicht abgestanden, hat einen schönen Ton. Und es ist auch so unprätentiös, das war ja kein Beitrag zur deutschen Lyrikgeschichte.“ Was die Gedichte dann allerdings doch geworden sind!
„Ja, aber das ist von selbst passiert. Und weil es von selbst passiert ist, ist es jetzt so. Die Geschichte begann ja mit tausend Exemplaren, die ich selber habe drucken lassen. Mit ein paar Gedichten, die den Titel trugen ,Chuck’s Zimmer‘, für Freunde… Und das Cover hing als Poster in meinem Münchner Zimmer damals. Ich wachte erst aus diesem schönen Traum auf, als die angeliefert wurden, tausend Stück… Ich kann vielleicht fünfzig oder hundert verschenken, aber was mache ich denn mit dem Rest? Und dann habe ich das dem Lutz Kroth, damals noch Reinecke, angeboten, wir kannten uns… Und der sagte: Um Gottes willen, muss das sein, was soll ich denn mit dem Zeug? Und ich sage, nimm die, biete die über deine Merkhefte an. Und er sagt, gut, das mache ich, aber wenn es nicht geht, schicke ich sie dir wieder zurück. Gib mir ein halbes Jahr Zeit, damit da überhaupt etwas passiert… Einen Monat später rief er mich an und sagte: Ich weiß auch nicht, die sind weg! Wunderbar. Da würde ich vorschlagen, sagt er, drucken wir nochmal tausend. Prima. Unser Deal war ja auch wunderschön, fifty-fifty.“ Bis heute? ,Ja, fifty-fifty, bis heute. Und der Rest ist Geschichte. Heute findet man vorn drin in den Büchern ja nur eine kryptische Zahlenkombination, die keiner versteht Bei uns standen die einzelnen Auflagen noch untereinander: 1. Auflage Mai 1974,2. Auflage Mai 1974. Das war so eine Latte, 29. Auflage. Das macht Eindruck – auf mich!“
Noch einmal klingelt die blonde Dame vom Zimmerservice. Sie hat das Apollinaris vergessen. Und Wondratschek grantelt freundlich. „So ist das hier. Sie bringen nur ein Wasser, und es sieht aus wie von Cartier.“ „So soll es auch sein“, kontert sie. „Sie müssen sich ja auch fühlen wie in einem Fünf-Sterne-Hotel.“ „Nein“, er winkt ab, „ich hab das nicht so gern.“ „Doch“, widerspricht sie lächelnd. „Nein.“ Er wird lauter. „Ich will das nicht.“
Während die beiden sich spielerisch zanken, frage ich mich, wieviel ihm diese vier Gedichtbände „Chucks Zimmer“, „Das leise Lachen am Ohr eines andern“, „Männer und Frauen“ und „Letzte Gedichte“ – unterm Strich eingebracht haben, denn um die 200 000 Exemplare hat er insgesamt wohl verkauft. Mit Lyrik, die zwar durchaus populär sein wollte, die also ihre Brinkmann-Lektion gelernt hatte, die aber nie nur Prosa in Zeilenbruch war, sondern allemal Poesie – und die außerdem von der ordentlichen Literaturkritik absolut unbeachtet blieb. „Das lag schlicht daran, dass Zweitausendeins keine Rezensionsexemplare verschickt hat“, zuckt er mit den Schultern. „Wenn man die Damen und Herren vom Kulturbetrieb nicht hofiert, dann nehmen die doch nichts wahr.“
Ich frage ihn, warum die Bücher überhaupt im Selbstverlag erscheinen mussten. Immerhin war er Anfang der 70er Jahre bereits ein durchaus angesehener Autor, der beim Hanser Verlag zwei avancierte, auch vom Großfeuilleton gut besprochene Kurzprosa-Bände – die ziemlich gut klingenden Titel „Früher begann der Tag mit einer Schußwunde“ und „Ein Bauer zeugt mit einer Bäuerin einen Bauernjungen, der unbedingt Knecht werden will“ und einen Reader mit verstreuten, auch journalistischen Texten („Omnibus“) publiziert hatte. Warum also nicht beim Hausverlag? Für den Nachgeborenen sieht das aus wie eine kalkulierte Entscheidung. Eine Lyrik, die Gegenkultur thematisiert und repräsentiert, die etwa mit Referenzen an Rock-Musik spielt, passt einfach besser zu einem solchen Versand, der bald zu einem der Impulsgeber der Alternativkultur werden sollte. Aber von Kalkül kann dann doch keine Rede sein.
„Kein Verleger ist erfreut, wenn sein Autor mit Gedichten ankommt. Weder in den 70er Jahren noch heute. Der Verleger möchte erst einmal einen Roman. Und in zweiter Linie möchte er einen bestselling Roman machen. Und man erwartete von mir bei Hanser ein großes Buch. Ich habe aber keinen Roman geschrieben, ich lebte in einem Zimmer, das ich dann später Chuck’s Zimmer nannte. Wir waren bekifft, haben ein Pokornon-Institut gegründet nach dem Vonnegutschen Weisheitslehrer Pokornon, so ein Wiedergänger von Crumbs Mr. Natural, ein Freund hat dann auch noch ein Delphin-Institut gegründet, und seine These war, die mir unmittelbar eingeleuchtet hat, dass der intelligentere Teil des Menschen ins Wasser gegangen ist. Es gab nie den Gedanken, Hanser die Texte zu geben.
In dieser Zeit schrieb ich Gedichte, aber es gab keinen Anlass, ein Buch daraus zu machen oder das überhaupt als Gedichte zu betrachten. Es war einfach meine Art zu leben, mich zu äußern. In der Wohnung ging man ein und aus… ,Chuck’s Zimmer‘, da stimmt alles, alles, was da kreucht und fleucht. In der Ecke lag ein Schauspieler, ich will den Namen nicht nennen, auf Heroinentzug, dann tauchte der Getty auf mit dem abgeschnittenen Ohr, plötzlich war Heroin in der Wohnung. Also, ich habe da gelebt, und wenn ein Mädchen gesagt hat: ,Ich spüre gar nichts mehr, ich sollte mich mal von einem Auto überfahren lassen‘, dann kommt das in einem Gedicht vor. Die Gedichte sind ja alle angekifft in der Nacht entstanden. Das ganze Jahrzehnt war angekifft. Und so sind Dinge entstanden, bei denen nie die Frage war, welchem Verlag gibt man das mal. Ich lebte in einer eigenen Galaxie, inzwischen war auch unsere Opium-Oper Maschine Nr. 9′ erschienen, ich lebte in einem Ambiente, das konnte ein Verleger gar nicht nachvollziehen.“
Wondratschek hebt den Finger und mit ihm seine Stimme. „Obwohl mein Verleger der Verleger von Allen Ginsberg war. Aber es ist ein Unterschied zu lesen, wie kalt es auf einem russischen Bahnhof ist, oder sich morgens um drei den Arsch dort abzufrieren. Das wissen die Kulturaristokraten eben nicht. Diese Erfahrung machen die nicht. Ich habe mich immer gewundert, mit welcher Eloquenz sie reden über die Lautreamonts, Rimbauds und so weiter, das sind Galaxien, in die sie nie einen Schritt machen. Mein Verleger wusste, dass Ginsberg im Olymp angekommen ist, und er hatte ja in den sechziger Jahren eine ganze Menge an Publicity, nur wenn dann der Fall x kommt, und ein Autor wie ich käme mit poetischen Notaten aus Chuck’s Zimmer, wie es da irgendwo in einer Wohnung in München eben zugeht, das ist dann wieder ein anderer Fall. Und dem bin ich gleich ausgewichen und habe gesagt, ich mach’s lieber selber. Also: Gar nichts war kalkuliert. Ich kannte den Lutz Reinecke von der Straße, er volontierte damals beim Suhrkamp Verlag, wir grüßten uns morgens – wenn ich meine Brötchen holte, ging er zur Arbeit.“
Wir verzetteln uns jetzt etwas in ästhetischen Fragen. Ich hätte gern seine Zustimmung für die These, dass er und Brinkmann einen neuen Ton in die Literatur eingeführt haben, einen urbanen Stil, der keinen Unterschied macht zwischen Hoch- und Populärkultur und der, gerade indem er potenziell alles als poetisches Spielmaterial benutzen kann, viel besser geeignet ist, den Geist einer Zeit einzufangen. Aber darum sei es ihm gar nicht gegangen, wendet er ein. „Ich habe mich ja nicht hingesetzt in den siebziger Jahren, um ein Bild meiner Generation zu schreiben. Dass es heute als ein solches dasteht, ist schön, aber wenn ich das gewollt hätte, wäre es das nicht geworden.“
Aber in bin dennoch der Meinung, dass bestimmte poetologische Vorgaben andere Ergebnisse zeitigen, dass er also nur deshalb auf Augenhöhe mit seiner Zeit sein konnte, weil er keine Berührungsängste vor der populären Kultur kannte, weil er sie als poetisches Substrat durchaus ernst nahm.
„Es gibt nur eins: Genauigkeit. Alles hat unter der Maßgabe von Genauigkeit Eingang in die Poesie. Ezra Pound hat schon Anfang des Jahrhunderts gesagt, es müsse Dreck in die Poesie gegen die Ausdünnung, gegen die Ästhetisierung, das hat etwas mit Genauigkeit zu tun … Der Rilke schreibt einmal in einer Reisebeschreibung: ,Uns ging die Pneumatik aus.‘ Was er meinte, war, wir hatten einen Platten. Nun, wir haben uns damals entschieden zu sagen, wir haben einen Platten.“ Nein, ihm sei es damals und heute immer nur um Poesie gegangen. „Das Wesen der Poesie ist, dass etwas zurückbleibt, was sich nicht auflösen lässt. Das Rätsel, etwas, das sich nicht erklären lässt. Leute, die Gedichte lesen, machen völlig zurecht geltend, dass sie es satt haben, Bücher zu lesen, die sie nicht ein zweites Mal lesen wollen, weil sie nicht das Gefühl haben, es gibt eine Unterschicht.“
Aber das Poetische, mache ich einen letzten Versuch, ist ja vielfältig und entsteht doch auch dort, wo die Oberfläche zunächst mal ganz eingängig, ganz verständlich ist. Eben das zeigen viele der Gedichte Wondratscheks oder Brinkmanns. Auch diese Einschätzung mag er nicht teilen.
„Der Brinkmann kam von Frank O’Hara und William Carlos Williams. Ich kann mich erinnern, Brinkmann und ein paar andere, die hatten damals eine Zeitschrift, ‚Der Gummibaum‘, hektographiert.
Der Rygulla hat da mitgemacht, die ganzen Kölner jungen Dichter. Mit denen habe ich eigentlich nichts zu tun. Wenn man genau hinschaut, haben meine Gedichte damit nichts zu tun. Da war ich immer viel wortgewaltiger, ich war viel unrealistischer, ich war viel fantastischer. Surrealistische Bilder haben mir immer gut gefallen. ,Colorado im Winter 1978, das letzte Tier seiner Rasse zieht/ eine Blutspur über die Schneedecke‘. Das hätte der Brinkmann nie geschrieben. Der Wondratschek wollte, wenn er Gedichte schrieb, etwas anderes, als der Brinkmann wollte. Beides war okay.“
Nicht mal von einem Einfluss Brinkmann könne man sprechen. ,Ich war völlig unbekannt, da war der Brinkmann ein Star. Und was für einer! Der kam mit seiner Factory auf die Buchmesse, ich lebte damals in Frankfurt und war quasi mittendrin, musste ja nicht zur Buchmesse reisen, der kam da an mit seiner Gang, und die gingen da durch wie die Cowboys, wie Outlaws, lonesome cowboys, das waren die. Mir hat das gefallen. Mehr nicht. Mir hat das gefallen. Die waren böse, die waren radikal, und sie haben Gedichte geschrieben. Wenn man heute böse und radikal ist, dann macht man was anderes. Ich habe das beobachtet, damals, und es gefiel mir. Hey, gut, das sind meine Leute…
Daneben gab es ganz andere Sachen. Ich war genauso fasziniert, und wenn man überhaupt von einem Einfluss sprechen kann, dann habe ich eher so eine Figur wie H. C. Artmann bewundert. Ein Mann, der sich erschafft im Gedicht. Den H. C. Artmann hat Sprache interessiert, und aus der Sprache macht er einen Zauber. Realismus hat ihn überhaupt nicht interessiert.“
Wondratschek ist zum Essen verabredet. Er duscht schnell, zieht sich an, nicht ohne noch einmal mit freiem Oberkörper durchs Zimmer zu faunisieren. Nein, die 60 sieht man ihm nicht an. Er weiß das sehr gut. Im Gesicht erinnert er mich vielmehr an den jungen Arno Schmidt, aber das kann auch an der Brille liegen. Ich warte auf ihn, damit wir noch ein paar Meter zusammen gehen können, lobe seinen Reportagenband aus den 80er Jahren, „Menschen Orte Fäuste“, in dem ich während der Zugfahrt gelesen hatte. „Sie sind ja jetzt in einer ähnlichen Situation“, nickt er. „Sie müssen sehen, wie Sie aus dem Material Funken schlagen.“
Auf dem Weg zum Lokal beklagt er noch, dass er nun auch gezwungen sein wird, auf dem Computer zu schreiben, weil er für seine geliebte „Olivetti“-Kugelkopfschreibmaschine, auf der er alle seine Gedichte getippt hat – „das war damals, Ende der 60er, das Avancierteste, was man für Geld kaufen konnte“ – nicht einmal mehr Ersatzteile bekommt. „Die vom Kundenservice haben mich angesehen, als wäre ich verrückt“ Zuletzt habe er in Wien eine Sekretärin engagiert, aber das gehe mit der Zeit doch zu sehr ins Geld. Wir verabschieden uns schließlich vor dem Lokal, in dem er verabredet ist, und ich nehme mir ein Taxi.
Erst am Bahnhof fällt mir ein, dass ich ihm noch ein ziemlich zerfledddertes, vor mindestens 15 Jahren antiquarisch erworbenes Exemplar von „Chuck’s Zimmer“ zeigen wollte, in dem einer seiner damaligen Fans sich zu mehreren Liedern Vertonungen notiert hat Kann man sich eigentlich noch mehr wünschen als Dichter? Mehr, als dass bei irgendeiner Konfirmandenfreizeit die eigenen Lieder zur Klampfe gesungen werden? Vielleicht sogar, um damit die eine Rothaarige rumzukriegen, die mit den vielen Sommersprossen und den_ Nein, mehr kann man nicht wollen.