WM-Blog: Warum das Athener Tragödientheater und das Oval des Fußballstadions Gemeinsamkeiten haben
Archaische Rituale, neue Unübersichtlichkeit: Dirk Schümer über Fußball als soziales System - WM-Blog, Folge 16
Der Filmjournalist, Kritiker und ROLLING-STONE-Autor Rüdiger Suchsland schreibt hier über die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien
WM-Blog: Unterwegs im Stadion
„Wer den Spaß am Fußball nicht ernst nimmt, hat die Macht des Spiels nicht verstanden.“
Dirk Schümer
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„Entscheidend iss‘ auf’m Platz.“ – wie so manches aus den 50er Jahren gilt auch diese Weisheit des Dortmunder Fußballidols Adi Preissler nicht mehr uneingeschränkt. In unseren nachmetaphysischen Zeiten hat Fußball längst die Grenzen eines harmlos-gewöhnlichen Freizeitvergnügens gesprengt. Gerade weil Fußball spannender und viel unvorhersehbarer ist, als ein Opern- oder Theaterbesuch und von Woche zu Woche weitaus mehr Menschen fasziniert als jeder Kinofilm, wurde der ehemalige Arbeitersport zu einem gesamtgesellschaftlichen Ereignis und damit mehr als alles andere zum Spiegel der modernen Zivilisation, an dem sich wie mit einem Barometer der Stand der Dinge ablesen lässt.
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„Hauptsache ist das Drumherum“ lautet folgerichtig die Prämisse eines Buches von Dirk Schümer, das bald 20 Jahre alt ist, aber längst zum zeitlosen Klassiker unter den modernen Fußballbüchern gereift ist. Schümer, Italien-Korrespondent des FAZ-Feuilletons, gehört zu den wenigen, die begriffen haben, dass man über Fußball heute so schreiben muss, wie über Philosophie (und das hieße dann auch – nicht zu vergessen -: über Philosophie so, wie über Fußball). So gelang ihm einer der besten Texte über die Fußballszene. Als echter Fan ist Schümer vom Phänomen Fußball fasziniert. Er kennt sich aus und kann witzig schreiben. Geschickt springt er zwischen Scherz, Ironie und tieferer Bedeutung hin und her. Vereinzelt gelingen dem Autor auch Sätze von fast Herbergerischer Klassizität: „Elf spielen gegen elf, die einen sind rot und die anderen blau. So einfach ist das.“
Zugleich nimmt der Journalist den Spaß am Fußball ernst und versucht an diesem Sport die „Situation der Gesellschaft, in der er gespielt wird“, abzulesen. Diese ist offenbar in Zeiten, in denen ein Mehmet Scholl sich mit Ex-Mannschaftskamerad Oliver Kahn TV-Duelle liefert, nach wie vor von archaischen Ritualen geprägt. Mit ihnen schafft der Männersport Fußball ähnlich wie eine endlose Daily Soap Verbindlichkeiten in der neuen Unübersichtlichkeit durch wiedererkennbare Helden, aber auch die dazugehörigen Bösewichte, wie etwa einen Stefan Effenberg.
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Als die „Essenz unserer gesellschaftlichen Kommunikation“ hat „König Fußball“ dabei die Grenzen gesprengt und alle Bereiche durchdrungen. Hier und nur hier findet Gesellschaft noch statt, werden die sozialen Differenzierungen für 90 Minuten aufgehoben. Als Fans sind wir alle gleich. Wie die Athener im Halbrund des Tragödientheaters begegnet im Oval des Fußballstadions die moderne Gesellschaft sich selbst und erschafft sich jeden Samstagnachmittag neu. „Unsere Ideologie heißt Fußball.“
Nichts trennt die Botschaft des Ex-Kanzlers Helmut Kohl „entscheidend ist, was hinten rauskommt“ vom heroischen Realismus des Ex-Bayern-Manager/Präsidenten Uli Hoeneß: „Es gibt keine Gerechtigkeit im Fußball, es gibt nur Ergebnisse.“ Und wenn einer wie Fulham-Trainer Felix Magath doziert: „Der Mensch ist einfach willensstärker, wenn er etwas für die Gemeinschaft tut, statt nur für sich“, dann klinkt er sich unausgesprochen in die Debatte um den US-Kommunitarismus ein, obwohl er womöglich noch nie ein Buch von Michael Walzer oder Charles Taylor in der Hand gehalten hat. Fußball ist eine universale Sprache.
So kann die Gesellschaft nur verstehen, wer den Fußball versteht. Denn „vom Kanzler bis zum Penner“ findet Schümer deren aller Akteure wieder im Stadionrund am Samstagnachmittag, jeder Gleichheit zum Trotz fein säuberlich über drei abgestufte VIP-Logen und mehrere Sitzplatzbereiche verteilt, bis hin zu den Stehplatzrängen in der Nordkurve.
Die Passagen, in denen der Autor diese Soziologie des Fußballstadions und die differenzierte architektonische Sprache der Stadiontypen vorführt, gehören zweifellos zum Besten des Buches, ebenso Ausführungen über die ökonomischen Feinheiten des Profisports und die Wesensgleichheit von Fußball und Kapitalismus. Auch die Charakterisierungen der verschiedenen Formen der Fernsehaufbereitung sind sehr lesenswert, von den archaischen Bräuchen grauer Sportschauvorzeit -„Gutnabendallerseits“- bis hin zur telekratischen Verschmelzung von Fußball und Politik im Dienst von Medienzaren a la Berlusconi.
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„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, wusste bereits Friedrich Schiller. Doch Fußball ist keine moralische Anstalt, und Schümers eigentliches Vorbild ist nicht etwa der deutsche Klassiker, sondern der niederländische Kulturanthropologe Johan Huizinga: in seinem wichtigen Buch „Homo ludens“ entwickelt dieser eine ganze Kulturtheorie aus dem Spielgedanken. An Huizinga anschließend heißt es bei Schümer: „Fußball lohnt die höchste begriffliche Anstrengung. Wenn wir alle seine Aspekte verstanden haben, dann haben wir auch das Leben verstanden.“ Mehr als einmal spielt der ballverliebte Autor auch theoretische Doppelpässe mit Niklas Luhmanns soziologischer Systemtheorie und zeigt, wie sich die gesamte moderne Gesellschaft von der Macht des Spiels beherrschen lässt: Fußball ist „Quatsch, aber wir sind ihm verfallen.“
Ist ihm auch Autor Schümer wirklich verfallen ? Dies ist kein Buch, mit dem es sich der Leser bei Chips und Bier auf der Lesecouch gemütlich machen kann, und in Gefahr läuft, sich beim Schrei: „Schümer vor, noch ein Tor“ oder „Hau ihn rein, Schümer“ zu ertappen. Während der Klappentext den Autor als einen preist, „der zum Fan wurde, weil er früher nie mitspielen durfte“, ist im Buch von der Epiphanie des Utopischen, die sich in der Fankurve doch regelmäßig zu ereignen pflegt, wenig zu spüren. Entgegen des Titels ist hier Gott nicht rund, sondern ein soziales System.
Offenbar ist Schümer, dessen Lieblingsverein FC St. Pauli derzeit verzweifelt erfolglos in den Niederungen des Zweitliga-Mittelfelds kämpft, der Spaß am Kick zuletzt etwas vergangen. Wenig spürt man von der anarchistischen Euphorie der Fans -im 17. Jahrhundert wurde Fußball als Mittel gegen die Melancholie empfohlen-, und von der schlichten hedonistischen Freude am Fußballspiel, die selbst professionelle Akteure wie den Gladbacher Ex-Trainer Bernd Krauss gelegentlich befällt: „Wenn ich schon neunzig Minuten an der Seitenlinie sitze, möchte ich wenigstens ein anständiges Spiel sehen.“
Im Stil des VfL Bochum in seinen schlimmsten Zeiten zieht sich Schümer oft hinter das feste Abwehrbollwerk der Theorie zurück. Für einen echten Fan redet er zu wenig vom Spiel, und zu viel vom Drumherum. Etwas mehr fußballerischen Eros hätte man sich schon gewünscht. Aber empfehlenswert ist das Buch trotzdem, und Schümer ahnt selbst: „Über Fußball kann man nicht schreiben“. Wahrscheinlich bolzt er jetzt gerade auf dem Trainingsplatz.
Dirk Schümer: „Gott ist rund. Die Kultur des Fußballs“ (Berlin Verlag; Berlin 1996; als Taschenbuch bei Suhrkamp, Berlin 2013)