WM-Blog: Dickschädel am Spielfeldrand

Scolari, Van Gaal, Löwenkämpfe und die Angst in den Augen der Brasilianer - WM-Blog, Folge 18

Der Filmjournalist, Kritiker und ROLLING-STONE-Autor Rüdiger Suchsland schreibt hier über die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien.

Dickschädel am Spielfeldrand

Wenn Männer weinen, muss es sich um Fußball handeln.

+++

In allen vier bisherigen Achtelfinalspielen haben sich die Favoriten durchgesetzt. Manche nur mit Ach und Krach, zumindest Brasilien unverdient und mit unverschämtem Glück, aber am Ende eben doch.

Zugleich sind die Niederlande weiterhin die einzige europäische Mannschaft, die in der Lage ist, ein lateinamerikanisches Team zu besiegen, wenn man von Zählkandidaten wie Honduras und Ecuador absieht, die allerdings auch nur einmal von der Schweiz per Last-Minute-Goal bezwungen wurden. Selbst Frankreich gelang in der Vorrunde gegen Ecuador nur ein Unentschieden.

+++

Brasilien wird nicht Weltmeister werden, soviel ist nach dem Achtelfinale gegen Chile klar. Und das hat längst nicht nur mit der absurden Frisur von Dani Alves zu tun, den weißblondierten Haaren des durchsetzungsstarken Verteidigers vom FC Barcelona.

Es war ein insgesamt desaströser Auftritt. Die Brasilianer spielten genau, wie man es von einer Mannschaft erwartet, deren Sturmspitzen Fred und Hulk heißen und aussehen wie Pornodarsteller aus den 70er-Jahren: plump, unbeholfen, durchschaubar und quadratschädelig. Brasiliens Mannschaft hat kein Genie, keine erkennbare Begabung, sein Spiel keine Schönheit. Eine schwache Vorstellung und eine Beleidigung des Namens dieser großen Fußballnation.

+++

Das Match selbst war hochspannend und -dramatisch, aber keine spielerische Meisterleistung. Die zähen Chilenen hatten zuerst etwas Pech mit einem Luiz zugeschriebenen Eigentor, das Brasilien in Führung brachte, dann aber entsprechendes Glück mit dessen Hilfe sie jene Führung schnell ausglichen. In der Nachspielzeit der ersten Halbzeit gab es eine Mega-Chance für Chile. Nie war der Gastgeber danach wirklich überlegen. In der 63.Minute hatten sie immerhin eine sehr anständige Torchance, ansonsten nicht viel. In der zweiten Halbzeit nahmen auch beim Favoriten die technischen Fehler immer mehr zu, ebenso die Unkonzentriertheit in der Abwehr, die doch Brasiliens bisher überzeugendster Mannschaftsteil war.

Chile hatte auch nicht mehr genug Kraft und ließ das Spiel länger und langsamer werden. In der 80. Minute ein schöner Alves-Pass zu Neymar, in der 83. eine weitere Chance, und Brasilien hoffte auf einen „lucky punch“ in den letzten Minuten. Aber mit der Energie von Wüstenratten hielt Chile das Unentschieden.

+++

Verlängerung – roter Jubel und gelbgrünes Entsetzen. Die Angst in den Augen der Brasilianer war unübersehbar, auch der Ennui des upper-class-Publikums im Stadion.

Dabei kontrollierten nun die Brasilianer zumindest stellenweise endlich das Spiel, weil Chile nichts mehr zusetzen konnte. Aber es war Feldüberlegenheit ohne greifbare Resultate. Gegen Ende der Verlängerung entlud sich die Wut der Gelbgrünen in sinnlosem Getrete, das gut und gern in einen Platzverweis hätte münden dürfen. Dann fast die unglaubliche Wende: Der einzige echte Gegenzug der Chilenen mündete in einen Lattentreffer von Mauricio Pinilla. Das wäre es gewesen.

+++

Nie, nie, nie hätte Pinilla im nun folgenden Elfmeterschießen der erste Schütze sein dürfen. Dies war ein Fehlschuss mit langer Ansage. Und der einzige Fehler seines argentinischen Trainers Jorge Sampaoli. Denn man versetze sich einmal kurz in Pinillas Hirn. Vier Minuten zuvor hatte er die Chance seines Lebens vergeigt. Dieser Lattenschuß wird ihn sein Leben lang verfolgen, so wie er bei einem erfolgreichen Abschluss ein anderes Leben gehabt hätte. Er wäre derjenige gewesen, der Brasilien im eigenen Land aus dem Turnier geschossen hätte. Der Chile einen Jahrhunderttriumph beschert hätte. Noch in 50 Jahren hätte man seinen Namen gekannt, hätte er in Talkshows von diesem Moment erzählt. Jetzt ist er nichts. Bestenfalls. Oder der Versager des Jahrhunderts.

Natürlich musste ihm all das durch den Kopf gehen, natürlich würde er darüber nachdenken und über die Möglichkeit noch ein zweites Mal zu versagen. So verlor Chile das Elfmeterschießen.

+++

Aber das Spiel zuvor! Gut, Chile ist nicht schwach und wuchs an seiner Aufgabe. Aber wie man ihnen trotzdem beikommen könnte, haben die Holländer vorgeführt. Es gibt da nichts schönzureden: Am Ende ist Chile gegen einen Gegner wie Brasilien ein Außenseiter, ein Gegner, den man besiegen muss. Ihnen fehlen technische Basisfertigkeiten und spielerische Klasse, die sie mit Kampf und Einsatz eine ganze Weile überspielen, aber nie wettmachen können. Sie bringen nichts wirklich nach vorne, sie ziehen sich zurück. Brasilien hat nicht gewusst, wie sie den Chilenen zusetzen könnten.

Die wichtigste Frage ist auch nach dem vierten Spiel offen: Welchen Stil spielt Brasilien, wer ist der Motor, der Spielgestalter, der neue Dunga der Brasilianer? Oscar? Wohl nicht.

+++

Es hängt eben doch viel am Trainer. Wenn man wie ich eher nicht zu den Fans des brasilianischen Trainers Luis Felipe Scolari gehört, ist der Mann ein Hauptschuldiger an der brasilianischen Krankheit: Luis Felipe Scolari ist womöglich immer schon ein wenig überschätzt gewesen. Im Zweifel lässt Scolari übertrieben defensiv agieren, spielt mit nur einem Stürmer. Doch jenseits des mehr und mehr aus der Mode geratenen Sicherheitsfußballs spielen seine Mannschaften ideenlos, ohne System.

+++

Nach diesem Spiel nun ist Brasilien der Bösewicht der WM. Die Mannschaft, der man eine Niederlage wünscht. Die neuen Italiener. Auch sie muss es geben.

+++

Erwartungsgemäß setzte sich Kolumbien gegen Uruguay durch. Es sieht so aus, als würde Torjäger James Rodriguez „der“ Star der WM werden, nicht Ronaldo, Müller, Messi und auch nicht Neymar. Fünf Tore, zweimal „man of the match“. Wenn Kolumbien dieses Niveau halten kann, werden sie Brasilien schlagen.

+++

Eishockey ist ja eigentlich der Sport, der in Dritteln gespielt wird. Doch auch im Fußball kann es sich lohnen, das Spiel in Drittel aufzuteilen.

Das erste Drittel endete Unentschieden. Das zweite Drittel verloren die Niederlande. Das dritte Drittel des Spiels zwischen Holland und Mexiko wurde dann klar gewonnen. Es war ein Schulbeispiel für das, was am holländischen Fußballstil so großartig ist. „Totaal Voetbal“ heißt ja dreierlei. Es bedeutet längst nicht nur, dass alle alles machen. Es heißt auch grundsätzlich, den Raum zu erweitern, das volle Spielfeld möglichst auszunutzen, sprich: Über die Flügel und Außenlinien zu kommen. Es heißt auch, sie im entscheidenden Moment eng zu machen. Flexibel zu agieren. Schließlich heißt „Totaal Voetbal“ riskante Offensive, weite Pässe, wenig Ballbesitz, sondern schnelle Abgabe.

Als Holland das endlich spielte, wurde alles gut. Plötzlich fühlten die Holländer sich wohler, vertrauten sich selbst, glaubten an sich.  Eine Lehrstunde wie gesagt.

Davor war alles ein einziges Desaster.

Wieder einmal schien es, als ob vom „neurotischen Genie“ (David Winner) des holländischen Fußballs das Neurotische über das Geniale siegen würde.

+++

Der ganze Spielplan wurde unmittelbar nach Anpfiff gestört, weil sich De Jong verletzte und bereits in der 8. Minute ausgetauscht werden musste. Wie weit die kommende Malaise hier bereits angelegt war, ist schwer zu entscheiden. Aber ohne Frage ist der erfahrene De Jong eine zentrale Figur: Ein Ordnungsfaktor im defensiven Mittelfeld und einer, der aufgrund seiner Erfahrung in problematischen Phasen ruhiges Blut behält. Bruno Martijns Indi, der für ihn eingewechselt wurde, konnte ihn zu keiner Sekunde ersetzen. Bestenfalls unscheinbar, schlechtestenfalls ein Unsicherheitsfaktor mehr in einem an Schwachstellen reichen holländischen Spiel.

Niederlande spielte 3-5-2. Die erste Viertelstunde war gegenseitiges Belaueren. Mexiko wollte nicht mehr tun, aber Holland auch nicht.

Warum? Die Absicht, dass man Kräfte für die zweite Halbzeit und die entscheidende Spielphase aufsparen wollte, ist eine mögliche Erklärung. Der Spielverlauf zumindest gab diesem Anliegen recht, denn in der letzten halben Stunde, als es um sein Überleben im Turnier kämpfte, konnte Holland entscheidend zusetzen.

Wenn Luis Van Gaals Plan denn der gewesen sein sollte, die Mannschaft bei 35 Grad, und höchster Luftfeuchtigkeit in der ersten Hälfte zu schonen, so ging er doch nur halb auf. Denn mit jeder Minute mehr ließ sich Holland einlullen und hatte auf die Nadelstiche der Mexikaner und ihre immer häufigeren schnellen, gefährlichen Vorstöße keine Antwort. Es kam fortwährend zu unnötigen Ballverlusten im Mittelfeld. Sneijder, Kuijt und Robben spielten gut, der Rest unter Form.

+++

Lange Zeit war dies ein katastrophales Spiel der Niederlande. Das Mittelfeld stand zu weit, viel zu weit hinten, allein Kuijt versuchte über die Linie zu kommen. Hollands Abwehr war richtig schlecht, der Torwart überhaupt nichts – ein Unsicherheitsfaktor.

Auch nach 20 Minuten gab es noch keinerlei Gefahr für Mexiko, die mit zwei Abwehrreißen ein solides, wenn auch etwas spontihaftes 3-3-2-2 spielten. Schon nach 30 Minuten sehnte man nur noch die Halbzeit herbei, um das Konzept zu verändern, die Abwehr zu ordnen, das alles jetzt unter Kontrolle zu bringen.

Mexiko machte Druck, aber ohne klares Konzept, Moreno war ganz gut, Layun richtig super. „Sie sind wie Kletten“ analysierte Scholl treffend die Abwehrleistung der Mexikaner.

Eigentlich, dachte man, müsste Van Gaal die komplette Abwehr austauschen. Der rechte Innenverteidiger (Vlaar) ist doof, der linke (De Vrij) kaum vorhanden. Gegen Ende der ersten Halbzeit wurde bei Holland umorganisiert, Kuijt stand jetzt weiter hinten, etwas zurückgezogen, tat aber doch immer viel nach vorn. Die Unsicherheit beim Favoriten war mit Händen zu greifen; ein sehr feiges, sehr hässliches Spiel. Kurz vor der Halbzeit wurde Holland ein Elfmeter verweigert. Beim Foul verletzte sich Moreno, musste ausgewechselt werden.

+++

Zur Halbzeit meinte Scholl: „Holland schafft es nicht, hinter die Abwehr zu kommen. Die Pässe kommen nicht. Holland wird mit holländischen Mitteln geschlagen. Sie müssen das Spiel in die Breite ziehen.“

+++

Das 0-1 durch Dos Santos in der 47. Minute war der Worst Case. Mexiko legte zunächst nach, machte Druck, Holland brachte kaum einen Schuss aufs Tor. In der 55.Minute kam Depay für Verhaegh und die Umstellung auf 4-4-3 – und es wurde schlagartig sofort besser. In der 57. Minute wurde ein sicheres Tor vereitelt von Ochoa, in der 60. gab es eine zweite klare Torchance. Der Druck wurde größer. Die Niederlande spielten die Mexikaner mürbe.

Vor dem coolen Ochoa agierte Mexikos Abwehr wie ein Hühnerhaufen, und das sollte sich rächen. Eine überraschende, späte Wende des Spiels bedeutete für Mexiko zum sechsten mal hintereinander das Aus im WM-Achtelfinale. „Voller Stolz können sie nach Hause fahren“ (Scholl).

+++

Von der Qualität her war es ein vorgezogenes Viertelfinale und man darf sicher sein, dass sich Mexiko gegen Costa Rica oder Griechenland durchgesetzt hätte.

Das Vertrauen in die Holländer wurde strapaziert. Und, ja, zwischen der 70. und der 80. Minute als der Angriffs-Elan nachließ, hatte ich schon meine massiven Zweifel. Aber einmal mehr dreht eine Mannschaft einen Rückstand in einen Sieg, und einmal mehr fallen entscheidende Tore eines Spiels in den letzten zehn Minuten.

+++

Das 4-3-3-Flügelspiel; ist genau das, was die Holländer können. Warum hat es so lange gedauert, bis Van Gaal umstellte? Weil er ein Dickschädel ist. Wie Scolari. Van Gaal hatte sich verkalkuliert, aber er war, anders als Scolari, in der Lage, umzustellen. So hat er den Sieg von der Bank eingewechselt. Die Niederlande haben glücklich, aber verdient gewonnen. Und Glück gehört dazu; erst recht, wenn man Weltmeister werden will. Mehr denn je dürften sie nach diesem Sieg an sich glauben. 

„We did fight like orange lions“, sagte Kuijt nach dem Spiel.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates