„Wir wollen das beste Album aller Zeiten machen“
EDDIE VEDDER BEMÜHT SICH sehr ernsthaft, besser auf sich achtzugeben. „Ich höre ständig auf zu trinken und zu rauchen“, sagt er und lacht. „Im Moment, also um elf Uhr morgens, trinke ich nicht.“ Nüchtern oder nicht -auf Pearl Jams zehntem Album, „Lightning Bolt“, klingt Vedder zwischen der Punk-Nähe ihrer frühen Jahre und einem unerschrockenen Balladentum jedenfalls recht gereizt für einen 48-jährigen, zweifachen Familienvater. „So wie es in der Band zurzeit läuft“, erklärt Vedder, „können wir unser gesamtes Spektrum ausschöpfen.“
Wenn man sich die vielen Nebenprojekte der Bandmitglieder anschaut, könnte man meinen, dass Pearl Jam selbst mittlerweile so was wie ein Nebenprojekt für Sie alle ist.
Ich kann mir zwar ungefähr vorstellen, wie so ein Eindruck entsteht. Aber wir fühlen uns mehr als Band denn je und der Abstand, den wir uns zwischendurch gönnen, ist vor allem gesund. Die Musik besetzt einen großen Teil unseres Lebens. Aber zugleich wollen wir alle auch Zeit für unsere Familien haben und als Väter nicht ständig unterwegs sein. Als das Album tatsächlich erschien, hat das auch ein bisschen wie ein Schock gewirkt, die Erinnerung daran ist schon etwas traumatisch. Ein Album wird wohl einfach wichtiger, je mehr Zeit man sich zwischen den Produktionen lässt.
Versuchen Sie noch immer, die beste aller Pearl-Jam-Platten zu machen? Wir wollen nicht einfach das beste Pearl-Jam-Album, sondern schlicht und einfach das beste Album aller Zeiten abliefern.
Wir wollen sozusagen den Zugangscode für eine höhere musikalische Ebene knacken. Man bewegt sich dabei, als würde man von einem Heißluftballon aus schreiben. Man versucht, von oben die Landschaft zu erfassen und aus dieser Perspektive einen riesigen Kornkreis zu skizzieren.
In vielen Texten des neuen Albums geht es um Sterblichkeit.
Man soll über das schreiben, was man kennt, heißt es doch. Und bei diesem Thema können wir wohl alle mitreden. (lacht) Das Wichtigste ist doch, wirklich zu leben, solange man am Leben ist, und sich des Endes bewusst zu sein. Wenn man das begriffen hat, wird man vermutlich das Leben mehr zu schätzen lernen.
Ich dachte, Sie würden vielleicht einfach nur älter.
Angeblich halten einen Kinder jung -ich aber sage: Vor allem ist es enorm anstrengend, wenn man mit ihnen mithalten will. Ich dachte immer, mit der Pubertät hätte ich den schwierigsten Teil hinter mir. Tatsächlich ist das Härteste, anderen beim Altern zuzuschauen und mit ihrer Sterblichkeit umzugehen. Wenn man sich mal anschaut, wie wir mit unseren Körpern umgehen, scheinen das viele offenbar zu verdrängen. Wenn man sein Leben verlängern will, muss man sich eben ein bisschen besser um sich kümmern.
Im neuen Song „Infallible“ geht es um den Niedergang der USA.
Ich will das nicht auf unser Land beschränken. (lacht) Als wir in Washington gleichzeitig die Schwulenehe und Marihuana legalisiert haben, gab es allen Grund, kräftig zu feiern. Aber dann hat der Supreme Court das Wahlrecht für Minderheiten und die ökonomisch Schwachen eingeschränkt -ein enormer Rückschritt.
Seit Ihrem Soloalbum von 2011 und Pearl Jams Hit „Just Breathe“ hat man den Eindruck, als öffneten sie sich einer, wie soll man sagen, nicht wirklich Softheit, aber…
Sentimentalität. Jahrelang ging es mir nur um Wortspiele, ich wollte Gefühle möglichst kryptisch umschreiben, auf eine Art formulieren, die auch Mark Arm von Mudhoney noch respektieren könnte. Heute setze ich mich hin, schreibe einen Song, und was dabei rauskommt, das kommt eben dabei raus.
Es gibt auf dem neuen Album auch die Ballade „Sirens“, die ziemlich massiv klingt – oder darf ich kommerziell sagen?
Viele dieser Songs sind mitten in der Nacht entstanden. Man ist scheinbar der einzig wache Mensch weit und breit. Keiner da, der kritisieren könnte.
Andererseits hat Rockmusik doch auch nicht mehr die Kraft, die sie einmal hatte.
Sie haben wohl die MTV-Awards angeschaut.
Sie scheinen kein großer Freund neuer Popmusik zu sein?
Diese Popsongs kommen mir fast wie Boulevardjournalismus vor -Blödsinn, der den Leuten gefällt. Ich kann keinen Sinn darin entdecken, und ich bezweifle, dass in den gesamten Popsongs dieses Sommers auch nur ein Funken Leben steckt. Die Leute konsumieren das Zeug, aber ob das gesund ist? Vielleicht lenken sie sich damit ein bisschen von ihren Problemen ab. Womöglich gibt es irgendwo einen gesunden oder aufbauenden Aspekt, der mir entgeht. Jedenfalls finde ich den Zuckergehalt extrem hoch.
Sollten denn gute junge Rockbands nicht eher mehr auf die Popcharts zielen?
Bono hat ja viel darüber geredet, nach dem Motto: „Wir sollten nicht zulassen, dass Rock’n’Roll zur Nische schrumpft.“ Ich bin da zuversichtlicher, kann ihn aber verstehen. Wenn ein Popsong besser klingt als der Rest, dann findet man darauf normalerweise eine echte Gitarre und echte Drums. Die beste Popmusik benutzt immer noch natürliche Mittel.