Wir werden 20! In unserer Jubiläumsreihe würdigen wir 20 Helden aus 20 Jahren ROLLING STONE – diesmal die Selfmade-Musikerin Polly Jean Harvey und den Rockstar wider Willen, Eddie Vedder
Jenni Zylka über PJ Harvey
Geht doch alles. Gitarre spielen, Texte schreiben, laut sein, schlau sein, technisch versiert sein, intensiv sein, spitze aussehen, niemandem etwas vormachen (privat), niemandem etwas nachmachen (musikalisch) und dann auch noch bunte Strumpfhosen tragen. Strumpfhosenfarben sind wichtig: Es gab sowohl die Blaustrumpf- als auch die Rotstrumpf-Emanzen, die einen kämpften im 19. Jahrhundert, die anderen 1969, im Jahr, als PJ Harvey geboren wurde.
PJ Harvey ist also fast 45, und auch das freut mich: Sie ist so alt wie ich, hat die Ziele und Slogans einer schwachen, aber existierenden Frauenbewegung, die erst in den späten 80er-Jahren zersplitterte, noch mitbekommen, hat selbstverständlich stets die Hälfte der Welt gefordert, und begriffen, dass es nicht bei Forderungen bleiben kann. Denn immer nur bejammern, wie wenig Musikerinnen es gibt, wie wenig Frauen auf der Bühne charismatisch sind, ohne dabei zwanghaft süß oder sexy zu sein, das nützt nichts. Man muss es selbst machen: proben, schreiben, texten, spielen und das Selbstbewusstsein finden, alles in die Welt hinauszuposaunen.
Polly wird Patti kennen, die das Ganze bereits 20 Jahre vorher durchexerziert hat, garantiert kennt sie Lydia Lunch (zehn Jahre vorher), sie wird auch die Riot Grrrls kennen, Babes In Toyland, Hole, L7, Sleater Kinney. Aber Polly ist kein Riot Grrrl. In kaputten Spitzenkleidern trat sie jedenfalls meines Wissens nie auf, dafür in Catsuits, 30er-Jahre-Roben, schulterfreien T-Shirts. Auch sind ihre Songs textlich ausgefuchster und besser gesungen als die -verständlicherweise – mit viel Punkattitüde herausgeschrienen Riot-Songs.
Polly brauchte gar keine Bewegung, die sie zum Musikmachen animierte – sie ist einfach musikalisch genug, um es ohnehin zu wollen. Die Songs mussten aus ihr heraus. Genau wie ihre männlichen Kollegen nahm sie sich dabei anfangs viel Platz für persönliche Geschichten, Liebeskummersongs, kaputte Betroffenheitslyrik, etwas später hielt globale Relevanz Einzug. Auf ihrem zweiten Album „Rid Of Me“ (1993), damals noch mit ihrem Trio, ist sie gleichzeitig schlüpfrig, sexy, genderbewusst. Jetzt ist Polly politisch, sie singt über Krieg, über Nationalitäten, über England, sie wirft Diskurse auf, wird global, allerdings – wie es ihre Art ist – aus einer seltsam persönlichen Sichtweise. Bei ihr geht es um bewaffnete und blutige Konflikte, Afghanistan, Irak. Sie ist eine Liedermacherin ohne Akustikgitarre. Stattdessen spielt sie neuerdings Autoharp.
Sie spielt, wie eingangs schon erwähnt, so herrlich viel selbst – anders als Siouxsie oder Debbie Harry, die viel mehr auf ihre Physis bauten. Und muss glücklicherweise dabei nicht auf den Gitarrenhals (und das, was ihre Finger greifen sollen) gucken. Kann sein, dass der Blick eines Gitarristen manchmal beim Herumschweifen auf der linken Hand hängen bleibt, aber cooler sieht es immer aus, wenn er – oder sie – blind spielt. Manchmal shakt sie ein paar Maracas, auch das sieht gut aus und erinnert an Jim Morrison.
Live ist sie zudem vor allem authentisch: Es macht ihr gleichzeitig Spaß, dort oben zu stehen, herumzustaksen – sie ist einer von diesen nervösen Menschen, deren Energie aus einem ratzfatz arbeitenden Verbrennungsmotor stammt. Auf der anderen Seite macht sie es sich keinesfalls gemütlich auf der Bühne, sondern es strengt sie an. Sie gibt sich Mühe. Sie kotzt sich aus, jedenfalls musikalisch, denn die Show, die sie anstrebt, hat nichts mit dem Entertainment einer R&B-Künstlerin (Rihanna), einer Tänzerin mit ausgeklügelter Choreo (Madonna) zu tun, auch nichts mit perfekten Stars wie Gwen Stefani, deren Gesicht immer aussieht wie das eines Models, selbst wenn sie gerade so laut schreit, wie sie kann. Besagtes Auskotzen ist noch in anderer Hinsicht ein Thema – der spindeldürren kleinen Frau wurden immer wieder Essstörungen nachgesagt. Das würde einerseits passen, andererseits könnte es doch durchaus einmal eine schlanke Frau geben, die keine Essstörung hat. Das geht mich aber eigentlich nichts an.
Was mich eigentlich auch nichts angeht, woran ich dennoch zuweilen denke: Vielleicht ist PJ Harvey traurig – sie hat vor Jahren gesagt, sie wolle Kinder, jetzt ist sie fast 45 und hat, soweit ich weiß, noch keins. In England, wo sie im Rampenlicht der Boulevardzeitungen steht und sich darüber sehr ärgert, wurden jüngst Gerüchte laut: Angeblich habe sie sich mit ihrem langjährigen Boyfriend verlobt, sogar von einer Schwangerschaft wird gemunkelt – sie habe tatsächlich bei einem Restaurantbesuch Wasser statt Wein getrunken, und der Bauch der Prominenten sei ebenfalls ganz schön prominent.
Ich mag ihren Bauch jedenfalls, egal wie dick, genau wie ihre schöne Nase, die sie deutlich von den sie umgebenden Pop-Stupsnäschen unterscheidet – sie ist nicht ganz Barbra-Streisand-Kategorie, aber es reicht, um aus dem Raster zu fallen. Wie der Hund heißt, den sie angeblich besitzt, habe ich nicht herausbekommen. Ist natürlich auch wurscht. Ich hätte mir nur gern vorgestellt, wie sie ihn mit dieser gleichzeitig hohen und tiefen, eigenwilligen, musikalischen Stimme anbellt, wenn er das Stöckchen holen soll.
„Wenn ich mich zum Idioten mache, ist das eben so. Na und?“
COVER 1
REZENSIONEN 7
STERNE 25 1/2
Birgit Fuß über Eddie Vedder
Zu den wenigen großen Rockbands, die heute noch Stadien füllen, zählen gerade mal eine Handvoll, deren Mitglieder unter 50 sind. Pearl Jam gehören knapp dazu: Eddie Vedder wurde am 23. Dezember 1964 geboren. Als der Grunge-Hype am größten war und seine Band mit ihrem Debüt „Ten“ die Welt eroberte, war Vedder also schon kein ganz junger Mann mehr, von Abgeklärtheit allerdings weit entfernt. Der Band kommt seine Sensibilität zugute: Dem eher klassischen Rock der Gitarristen Stone Gossard und Mike McCready setzt Vedder das Zarte, auch das Widerständige entgegen. Mit dunkler Stimme erzählt er vom Leben am Rande der Gesellschaft, seit 23 Jahren wütet er gegen die Verhältnisse. Und doch hat die Musik von Pearl Jam immer etwas Erhebendes – man merkt das bei den Konzerten: So viel Euphorie spürt man bei den Killers oder Kings Of Leon niemals, schon gar nicht drei Stunden lang.
Eddie Vedder ist ein Rockstar, auch wenn er den Begriff ablehnt. Auf der Bühne duckt sich der Charismatiker nicht mehr weg, sondern kommt dem Publikum entgegen, erzählt lustige Geschichten und scherzt mit den Kollegen. Eine Pulle Wein pro Auftritt braucht er trotzdem, mindestens. So entspannt, wie Vedder heute ist, schien er nicht immer. Eine Zeitlang war er dem amerikanischen ROLLING STONE gram, weil der 1996 „aufgedeckt“ hatte, dass er in seiner Jugend gar kein komplexbeladener Stubenhocker war, sondern ein äußerst ehrgeiziger Surfer-Dude. Vorher hatte ihn Kurt Cobain schon bezichtigt, für eine „Alternative-und-Schwanz-Rock-Fusion“ verantwortlich zu sein. Daran knabberte er jahrelang, dann fand er sich einfach ab mit dem Erfolg, der letztlich besser war als jede Alternative. Nach Cobains Tod lautete seine neue Philosophie:“I’m gonna quit being a quitter.“
In Seattle, wo von der Grunge-Zeit nicht mehr viel übrig ist, haben sich die letzten Überlebenden ein nettes Hauptquartier eingerichtet. Wenn man dort eintritt, spürt man, warum das System Pearl Jam schon so lange so gut funktioniert: Die Band arbeitet seit Jahren mit denselben Leuten zusammen, sie fühlt sich in ihrem kleinen Kosmos wohl. Auch wenn Vedder leise spricht und manchmal ein bisschen stammelt, hat man doch stets das Gefühl, dass er genau weiß, was er will. Er und seine Kollegen lachen zudem mehr mit – und übereinander, als man angesichts der mürrischen Songs annehmen würde. Noch heute singt Eddie Vedder für die Verlierer und die Verlorenen, er selbst hat seinen Platz aber längst gefunden.
„Dieses Demokratie-Ding ist hart, aber wir versuchen es zumindest“
COVER 3
REZENSIONEN 16
STERNE 61
ROLLING STONE – ONLINE
Der August ist ein Sommerloch-Monat – auch in der Tonträger-Industrie? Von wegen! Im August 1994 erschienen einige der wichtigsten Alben der Neunziger: „Dummy“ von Portishead, „The Holy Bible“ der Manic Street Preachers. Neil Young legte „Sleeps With Angels“ vor, Stereolabs „Mars Audiac Quintet“ wurde veröffentlicht, ebenso Jeff Buckleys Debüt „Grace“. Und, nicht zu vergessen: Blumfeld wirbelten die deutsche Musiklandschaft mit dem sensationellen „L’Etat Et Moi“ auf. Zeit für eine Retrospektive all dieser Werke: rollingstone. de/reviews/alben/