Wir werden 20!
In unserer Jubiläumsreihe würdigen wir 20 Helden aus 20 Jahren ROLLING STONE - diesmal zwei sehr unterschiedliche Meister der Mythenbildung: Tom Waits und David Bowie
Jörn Schlüter über Tom Waits
Tom Waits, der singende Beat-Poet, der Surrealist, der Chronist der Unterseite: Die Welt des kalifornischen Songschreibers ist von Sonderlingen, Säufern, Huren und allen Arten von Verlierern bevölkert. Doch Waits verrät seine Charaktere nicht, sondern gibt ihnen vielmehr Stolz und Wahrhaftigkeit. Ganze Alben in dieser Karriere sind gekonnte Milieustudien, die aber im Lauf der Jahrzehnte immer universellere Gefühle zum Vorschein brachten. Misery is the river of the world, wissen Waits‘ Leute und machen das Beste draus.
Waits, dessen durchgedrehte Musik aus Blues, Vaudeville, Zirkuswalzern und Klanginstallationen besteht und von seinem Vorbild Don Van Vliet aka Captain Beefheart geprägt wurde, versteht sich als Surrealist: In der Verfremdung und Entstellung wird deutlich, was sonst nicht gesehen werden kann. Mehrere Stimmen hat sich Waits so im Lauf seiner Karriere erarbeitet – unter anderem den miesen Faucher, den monströsen Krakeeler und den romantischen Heuler. In den vergangenen 20 Jahren erschienen drei reguläre Werke: „Mule Variations“ (1999) wird von dem Künstler ein kleines bisschen kritisch gesehen, weil es in einem normalen Studio entstand und etwas zu kontrolliert wirkt; eines der besten Alben wurde es wegen der konzisen Sammlung hervorragender Songs aber dennoch. „Real Gone“ von 2004 ist eine hysterische und völlig zerschossene Platte, mit der Waits wie in einer Selbstvergewisserung seine alte Knochensägenmusik revitalisierte. Und „Bad As Me“(2011) ist ein Wunderwerk von einem Album, auf dem Waits alles zeigt, was er kann, und ein Ensemble aus Hochkarätern großartig intuitiv spielt. Auch fabelhaft sind „Alice“ und „Blood Money“ (beide 2002), deren Lieder für zwei Theaterstücke von Robert Wilson entstanden sind, sowie ein Dreifachalbum mit aussortieren Stücken namens „Orphans: Brawlers, Bawlers & Bastards“.
Weil Waits eine Kunstfigur ist, die man sich in der realen Welt nur schwer vorstellen kann, ist man vor den raren Audienzen ziemlich eingeschüchtert. Nicht wenige Journalisten sind hier schon gescheitert: Allzu standardisierte Fragen werden zur Strafe mit abwegigen, scheinbar zusammenhangslosen Assoziationsketten beantwortet, Waits spielt Verstecken. Doch die Verweigerung ist in Wahrheit Kunstsinnigkeit: Waits sucht im Gespräch dasselbe wie in seiner Musik – eine Art Rhythmus, ein gemeinsames Spiel, einen inspirierenden Moment. Das lineare Gespräch taugt nichts, ist zu durchschaubar, offensichtlich, langweilig.
Eine Lieblingserinnerung: der Ort des Interviews zu „Real Gone“(2004). Waits wartet in einer Kaschemme eine gute Stunde außerhalb von San Francisco, an einer Landstraße im Sonoma County, wo er mit seiner Ehefrau und Co-Komponistin Kathleen Brennan lebt. Das Lokal wird von einem zahnlosen deutschen Auswanderer geführt (an der Wand Hirschgeweih und Budweiser-Plakate) und wirkt wegen seiner skurrilen Schäbigkeit, als wäre es die Kulisse eines Waits-Songs. Waits redet von obertonsingenden ozeanischen Eingeborenen und ringt um Worte, um seinen künstlerischen Idealzustand zu beschreiben: eine Art Bewusstlosigkeit, ein intuitives Grapschen. Der zahnlose Wirt führt uns in die Küche, wo er einen fettverschmierten, von Christo handsignierten Bildband auf bewahrt: 1976 baute der Verpackungskünstler die 40 km lange Installation „Running Fence“ mitten durch seinen Garten in Sonoma County. Die Kunst und das fleckige Leben sind bei Waits immer nah beieinander.
Die Gespräche mit ihm sind schlicht ein Privileg: Bald jeder Satz trieft vor Kreativität und Inspiration, die aus Waits herauszulaufen scheint, als wäre er als Kind in einen Topf mit Zaubertrank gefallen. Die herrlichen Lügengeschichten – in seinem Garten haben Breschnew und Reagan den Kalten Krieg verhandelt, er kann Hühner hypnotisieren und hat als Kind eine Schere verschluckt (deshalb die zerkratzte Stimme) – gehören zu den Interviews, die zu einem guten Teil Stand-up-Performances sind, in denen der Frager seine Rolle möglichst gut spielen muss. Man will die absurden Anekdoten hören, weil sie witzig sind und weil Waits seine sonderbar schräge Welt durch sie erkennbar macht. Die Wahrheit, sagt der Künstler, werde weitgehend überschätzt. Doch diese Gespräche sind keine Show – der Performer und der Privatmann sind nicht streng getrennt, die Grenze verläuft fließend.
Mitunter bricht die Realität herein, zum Beispiel beim Treffen 2011: Ein Nachbar kommt an den Tisch und redet über einen Satz neuer Reifen. Kathleen ist am Telefon, weil Waits zu spät zum Essen kommt. Jetzt aber schnell. Waits, der immer auch an seinem Gegenüber interessiert ist, malt auf eine Serviette eine Art Beatnik-Trail durch San Francisco, wo der Journalist den nächsten Tag verbringen wird. Sehenswürdigkeiten: der City Light Bookstore, legendärer Treffpunkt der Beat Poets. Geschichtsträchtige Bars und Cafés wie Tosca, Trieste und Specs‘, allesamt im Stadtteil North Beach. Und ein obskures Geschäft in Chinatown, in dem es laut Waits nur Dinge gibt, von denen man nicht weiß, wofür sie gut sind.
Natürlich gibt es den Laden nicht.
„Den Dingen ein menschliches Antlitz geben – das kann ich am besten“
COVER 3 REZENSIONEN 10 STERNE 40
Joachim Hentschel über David Bowie
Ich zog extra mein Lou-Reed-T-Shirt an, als ich David Bowie traf, im Juni 2003, zum Interview in New York. Aus der komischen Hoffnung heraus, mit dem Bild seines alten Freundes ein bisschen zusätzlichen Smalltalk provozieren zu können – was sich als unnötig herausstellte, denn Bowie spielte an dem Nachmittag den guten, plappernden Onkel, sprach kurz über die damals neue, leider doofe Platte „Reality“ und umso länger über alte Zeiten und das Noch-Älterwerden. Imitierte David Byrne, führte pantomimisch den Teekistenbass vor, lachte auch dann immer laut und jovial, wenn nichts lustig war. Und sprach mich, bei der Verabschiedung, doch noch auf das T-Shirt an. Ob ich Lou Reed auf seiner letzten Tour gesehen hätte? Ja. Wie es gewesen sei? Sehr gut, sagte ich, nur Reeds Tai-Chi-Lehrer, der bei einigen Stücken auf der Bühne sonderbar getanzt hatte, hätte ich albern gefunden. Es wurde kurz still. „Dieser Mann“, antwortete Bowie langsam und plötzlich sehr ernst, „ist übrigens auch mein Tai-Chi-Lehrer.“
Die große Zeit des Künstlers war ja längst vorbei, als der deutsche ROLLING STONE startete. Die Zeiten, in denen er wie ein schwüler Stern gestrahlt hatte, waren in den Neunzigern und Nullern nur noch Erinnerungen, und so begann damals die Musealisierung, die ihn am Ende ja tatsächlich ins Museum gebracht hat. In einer Welt, in der alle Masken frei verfügbar sind, verliert sogar der beste Zauberer seinen Distinktionsgewinn, und so war auch im ROLLING STONE auf Dauer mehr über den großmächtigen Einf luss Bowies zu lesen als über seine neue Musik. Man sah ihn öfter schwarzweiß in Berlin als bunt in New York. Und als hätte der echte Bowie das bemerkt, war er plötzlich – weg. Die Fragestunde im Juni 2003 sollte die letzte Interviewsession gewesen sein, die er jemals der Presse gewährte.
Alle wissen, dass es noch ein halbes Happy End gab. Nach rund zehn Jahren Stille kam Bowie 2013 mit neuer Musik zurück, mit Videos, die mit ihrem abgehangenen Kunstwillen zum Besten gehörten, an das man sich bei ihm erinnern konnte. Wieder durfte ich die Geschichte dazu schreiben, befragte alle an der Platte beteiligten Musiker, die ich erwischte, Tontechniker, Clip-Regisseure und landete am Schluss bei Bowies ältestem Kumpel, dem Schulfreund George Underwood, der mir aus einer E-Mail vorlas, die Bowie ihm vor nicht allzu langer Zeit geschrieben hatte: „I’m writing simple things.“ Auch Bowie ist am besten, wenn er selbstverständlich ist.
„Authentizität? Ich glaube viel zu sehr an die Macht der Theatralik“
COVER 5 REZENSIONEN 28 STERNE 90
ROLLING STONE – ONLINE
Im Jahr 2007 erlebten Musikfans den großen Sommer der Comebacks: Genesis, The Police und sogar die Spice Girls standen plötzlich wieder auf der Bühne. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Schlagzahl der Wiedervereinigungen deutlich erhöht. Manche Bands wie Led Zeppelin feiern nur ein letztes Mal ihre erfolgreiche Vergangenheit mit einigen ausgewählten Konzerten, andere Bands wie die Pixies nehmen sogar (nicht immer zur großen Freude ihrer Fans) neue Alben auf. Auf www.rollingstone gibt es eine Übersicht aller glorreichen und weniger gelungenen Comebacks.