„Wir sind lieber auf dieser Seite, als auf der anderen!“
ROLLING STONE sprach während des kostenlosen Konzerts mit Zuschauern und Demonstranten – darunter waren auch viele Chemnitzer. Sie haben erzählt, warum sie beim „Wir sind mehr!“ dabei sein wollten und welche Erfahrungen sie in der Stadt gemacht haben.
Im Vorfeld wurde viel über „Wir sind mehr!“ diskutiert. Eine häufige Frage der Demo-Kritiker: „Hier ist ein Mensch gestorben und Ihr feiert eine Party?“ Dabei ging es bei dem kostenlosen Konzert um das große Ganze – um den Tod eines Menschen und das Sammeln von Spenden für dessen Familie, um Drohungen und Gewalt gegen Unschuldige sowie nicht zuletzt um die Frage, wie wir künftig in Deutschland leben wollen. Dass Angst für niemanden alltäglich sein sollte, war der Konsens, der am Montagabend in Chemnitz herrschte.
Fenil (29) aus Chemnitz
„Ich hatte erst Angst, herzukommen. Dann habe ich diese Leute hier getroffen und ich habe sie gefragt, ob ich mich anschließen kann. Ich komme ursprünglich aus Indien, lebe seit drei Jahren in Chemnitz und studiere hier. Wir hatten hier schon ein paar schlechte Erfahrungen. Rassistische Äußerungen, die ich nicht verstehe, aber ich konnte ihre Gesten deuten. 2015 kam ich einmal mit Freunden aus einer Kneipe und wir waren nahe dem Karl-Marx-Monument. Leute feierten dort wegen eines Fußballspiels. Als wir dort standen, kamen etwa 100 Deutsche, Hooligans wahrscheinlich – zwei oder drei davon attackierten uns. Sie traten mich in den Bauch und ich stürzte. Ich konnte weglaufen. Auch mein ägyptischer Freund wurde geschlagen. Danach gab es immer wieder kleinere Zwischenfälle. Ich werde mein Master-Studium hier beenden und dann möchte Chemnitz verlassen.“
Daniel (30) aus Chemnitz
„Ich bin mit ein paar Freunden zum Luxor gegangen, einem Club in Chemnitz, von denen gibt es nicht so viele. Wir wollten rein und der Türsteher erklärte uns, dass Rumänen, Polen und Syrer keinen Zutritt haben. Ich fragte, warum das so ist und er sagte, dass er die Anweisung vom Chef bekommen habe. Mein Freund arbeitet als Arzt in einem Krankenhaus in Chemnitz, ich arbeite auch hier. Das passierte meinen Freunden auch in einem anderen Club. Das war schon vor all dem hier, das war vor zwei Wochen.“
Peggy (30) und Marlen (32) aus Chemnitz
„Es ging in der letzten Zeit ganz schön ab in der Stadt, was von beiden Seiten nicht so toll war. Es sollte nicht so sein, dass Gewalt regiert. So schlimm, wie es gezeigt wurde, war es in Chemnitz auch nicht. Aber wir sind lieber auf dieser Seite, als auf der anderen. Jetzt am Wochenende waren wieder Demos und es war recht angespannt. Es ist alles ein bisschen im Wandel – irgendwie scheinen beide Seiten zu vergessen, was eigentlich passiert ist und dass man erst mal mehr trauern sollte, als sich die Köpfe einzuschlagen – das bringt uns allen nichts. Ich kann viele Leute verstehen, die herkommen, um zu feiern. Viele sind auch hier, um zu zeigen: So geht’s nicht! Das haben die anderen Seiten aber auch gemacht. Wir kannten den Daniel vom Sehen, er war oft auf denselben Partys wie wir. Er war auch so ein Feiermensch, und man hat schon öfter gehört, dass er wahrscheinlich dafür gewesen wäre, dass das hier [„Wir sind mehr!“] durchgezogen wird.“
Anna (18) und Olli (19) aus Annaberg
„Wir wollen uns beteiligen, hier sollte zu diesem Zeitpunkt niemand allein dastehen. Die Bands sind bloß das Medium, um sich hier zu treffen. Denn wenn man es als Demo aufgehängt hätte, würde hier nicht einmal die Hälfte stehen. Musik verbindet, deswegen sind heute sicher mehr Leute hier als zur Demo am Samstag.“
Michael (56) aus Chemnitz*
„Wir möchten den Rechten nicht einfach so die Straße überlassen. Ich finde es extrem wichtig, immer gegen rechts zu protestieren, ob Musik da ist wie heute, oder keine. Von dem Vorwurf, dass man hier den Tod eines Menschen feiert, halte ich nichts, denn ich glaube nicht, dass die Rechten selbst trauern. Das ist nur ein Vorwand, um auf die Straße zu gehen und Parolen zu brüllen.“
Rico (24) aus Berlin und Robert (29) aus Leipzig
„Wir sind hier, um den rechten Vollidioten nicht die Straße zu überlassen. Ich finde es einfach wichtig, präsent zu sein. Es hat sich die letzten Monate immer weiter aufgebauscht und das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich konnte es einfach nicht mehr mitansehen. Wir kommen auch aus Ostdeutschland und haben auch da mitunter ein Naziproblem. Wir wollen denen keinen Raum geben, dass sie sich da ausbreiten können.“
Zum Protestkonzert in Chemnitz: „Es ist schwierig, die ganze Masse zu bewegen. Viele sitzen rum, schweigen und meinen, mit einem Facebook-Post oder mit einem Like an der richtigen Stelle ist es getan. Ist es aber nicht. Du musst halt auch aktiv werden, auf deine eigene Art und Weise. Aber nur im Internet reicht einfach nicht mehr.“
Lea, 35, aus Berlin*
„Ich bin heute in Chemnitz, weil ich denke, dass wir eigentlich eine unglaublich tolle Verfassung haben, in der alles drinsteht, was wir für ein friedliches, großartiges Zusammenleben brauchen. Da steht drin, dass jeder Mensch erstmal Mensch ist, und deswegen gut behandelt werden soll. Da steht drin, dass wir ein Rechtsstaat sind und dass alles immer nach Regel und Gesetz ablaufen soll. Alles ist da, wir müssen uns nur alle gerade sehr daran erinnern und dafür kämpfen, dass das auch weiterhin genauso uneingeschränkt gilt. Die Musik war ein guter Aufhänger, um hierher zu kommen, aber ich bin nicht hier, weil ich tolle Bands sehen will. Aber es ist toll, wenn eine große Band ihren Fans sagt: ,Bitte kommt!‘ Ich war auch am Donnerstag in Berlin-Neukölln demonstrieren und dort haben wir beschlossen, heute runterzufahren. Wir sind also heute hier, um die Chemnitzer zu unterstützen, die nicht rechts denken und die dem rechten Mob nicht die Straße überlassen wollen. Wir feiern heute, um uns und den Chemnitzern Mut zu machen und Unterstützung zu zeigen. Dass diese ganzen Städte, die mit rechten Mobs zu kämpfen haben, dass sie nicht ständig alleine sind.“
*Hinweis: Einige der befragten Zuschauer und Demonstranten haben um eine Veröffentlichung ohne Bild gebeten – diese Bitte respektieren wir.