WIR HABEN DIE WAHL
Die erste Erinnerung an einen Wahlkampf ist für die älteren unserer Generation der „Willywählen“-Badge auf dem Strickpulli des großen Bruders. Der war Pop. Und Willy Brandt ein Popstar. Das Land war im Aufbruch, Künstler mischten sich in die politische Debatte ein, ergriffen Partei. Mehr als 90 Prozent der Bundesbürger gaben 1972 ihre Stimme ab, nie waren es mehr und nie hatte die SPD ein besseres Ergebnis.
Und heute? In vier Wochen wählt Deutschland ein neues Parlament und eine neue Regierung. Jetzt, kurz vor Redaktionsschluss, ist davon nichts zu spüren. Wahlfieber existiert bloß als Erinnerung, die Umfragen scheinen wie betoniert: Angela Merkel uneinholbar seit Monaten, ihr Herausforderer Peer Steinbrück weit abgeschlagen. Immer mehr Menschen gehen gar nicht an die Urne. Und auch Pop hat sich aus der Politik verabschiedet. Dreißig Musiker bat der ROLLING STONE um ein Statement zur Wahl, drei waren dazu bereit.
Es scheint, als seien die Erwartungen an Politik gering, die Erwartungen an die Bundestagswahl noch geringer. Als ginge es um kaum etwas. Oder bloß darum, ob wir mehr sparen oder mehr aus-
geben sollten. Oder ein bisschen mehr oder weniger Europa wagen, ein bisschen mehr oder weniger Kontrolle im Internet brauchen, ein bisschen mehr oder weniger Quote. Scharfe Gegensätze, unterschiedliche Gesellschaftsmodelle, klare Alternativen sind aus der Politik verschwunden. Alle drängen sich in dem, was sie Mitte nennen. Die SPD plakatiert „Wir“, die PDS eine „Revolution“ mit „?“, die FDP ruft „Freiheit“, natürlich mit „!“. Eindrucksvoll. Und über allem ruht die Kanzlerin, von manchen innig, von anderen heimlich geliebt für ihre „hyperaktive Tatenlosigkeit“, wie es Fred Grimm in seinem Text auf der nebenstehenden Seite nennt. Politik und Bürger scheinen gleichermaßen ängstlich, verzagt -und zufrieden.
Also, muss uns die Wahl interessieren? Und was interessiert uns an dieser Wahl?
Es sind die anderen, vermeintlich randständigen Themen, die im Wahlkampf und in den Parteiprogrammen kaum eine Rolle spielen, mit denen wir aber täglich umgehen: Kulturförderung, Clubsterben, Urheberrecht, Freiheit und Kontrolle im Internet, die prekäre Lebenssituation vieler Künstler und Musiker. Oder die Forderung von Inga Humpe, die als Erste auf unseren Aufruf reagierte, nach der Durchsetzung der Frauenquote.
Also haben wir die Spitzenkandidaten der Parteien nach ihrer Haltung zu diesen Themen gefragt. Außerdem nach Lieblingsplatten, Konzerterlebnissen, Downloads und Wahlkampfhymnen. Jürgen Trittin, Gregor Gysi, Rainer Brüderle und Bernd Schlömer von den Piraten antworten auf den folgenden Seiten. Außerdem Schorsch Kamerun, einer der politischsten Künstler des Landes. Weder die Kanzlerin noch der SPD-Kandidat wollten sich zu unseren Fragen äußern. Vielleicht war es ihnen peinlich, dass sie sich nicht an ihr letztes Konzert erinnern und keine Lieblingsplatte haben. Vielleicht war die Wahl für sie schon gelaufen. Wahrscheinlich aber hatten sie einfach weder Zeit noch Lust. Statt Merkel und Steinbrück können wir Ihnen Monika Grütters und Siegmund Ehrmann anbieten. Das sind die Kulturexperten von CDU und SPD, ihre Antworten finden Sie online bei www.rollingstone.de.
Und wir haben mit Menschen gesprochen, die sich allen Parteien verweigern. So verschieden ihre Motive sind, sie werden am Ende womöglich die größte Partei in Deutschland sein. Was das mit einer Republik macht, die sich als Parteiendemokratie versteht, kann heute keiner wissen. Katrin Weber-Klüver hat sich durch Expertisen und Umfragen gelesen, hat Nichtwählern zugehört und einem Gastronomen aus Köln, der ein politisches Paradox versucht, der nämlich Nichtwähler zu einer Partei bündeln will. Ihren Bericht lesen Sie auf Seite 60.
Übrigens: Eine repräsentative Umfrage in der ROLLING STONE-Redaktion ergab eine ordentliche Mehrheit für das Kreuzchenmachen. Wofür immer Sie sich am 22. September entscheiden – Sie haben die Wahl.
EINIG MUTTILAND
Fred Grimm über das Merkel-Syndrom
Vielleicht sind es ja die vielen Milchkaffees. Tagtäglich literweise aus diesen praktischen Wegwerfnuckelbecherchen geschlabbert. Viel süße Milch, schön schaumig, genau wie damals aus Mamas freundlichen Brüsten. Oder die Smoothies. Mundfertig püriertes Obst, damit man nicht mehr beißen oder kauen muss. Vielleicht sind aber auch die Retrosneakers der Fehler. Die trugen Männer früher gerade so lange, wie sie unfallfrei aufs Skateboard steigen konnten. Heute, bis es Zeit für den Rollator wird. Dazu Umhängetaschen, die an alte Schulranzen erinnern. Was Absicht ist. Denn alles soll ein bisschen so sein wie früher, als man noch ein Kind war und die Welt so einfach, dass Vati oder Mutti sie einem beim Abendessen erklären konnte.
Irgendetwas ist mächtig schiefgelaufen mit mindestens zwei Generationen in diesem Land. Nichts gegen Latte to go, Smoothies, Retrosneakers oder Vintagetaschen. Nichts auch gegen Kinderbücher, die vor allem die Eltern lesen, gegen Lego-Workshops und Tretroller „für die Großen“, gegen Kuscheltiere in Betten von Vierzigjährigen oder neu aufgelegte „Yps“-Hefte -für Erwachsene. Aber befremdlich wird es, wenn so viele Deutsche sich nicht nur die eigene Kindheit zurückwünschen, sondern auch noch die Mama dazu. Noch befremdlicher, dass ausgerechnet Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Projektionsfläche dieser infantilen Sehnsüchte geworden ist. „Bei ihr habe ich das Gefühl, in guten Händen zu sein“, schwärmt Tokio-Hotel-Sänger Bill Kaulitz in „TV Digital“ vom „Mama-Syndrom“. Auch DJane Marusha outete sich in der „Welt“ als Merkel-Tochter: „Sie hat 80 Millionen Kinder. Sie ist gut zu allen.“ Einmal in Schwung, gab die berüchtigte Hit-Produzentin früherer Jahre ein regelrechtes Glaubensbekenntnis ab: „Angela Merkel ist kontrolliert. Sie ist jeden Tag woanders, sie ist nie krank, sie kommt mit allen klar. Das ist modern.““Sie ist ein Geldfuchs.““Außerdem ist sie Physikerin.“ Marusha gebührt das Verdienst, die betäubende Wirkung der Angela-Merkel-Show in ehrliche Worte gefasst zu haben. Aller Häme zum Trotz, die ihr nach dem Interview aus dem Amtsfeuilleton entgegenwehte, spricht Marusha Millionen jungen und jung fühlenden Deutschen aus der Seele. Denn auch diese akzeptieren ihre Kanzlerin inzwischen mit derselben schicksalsergebenen Gewöhnungsliebe, die sie sonst nur ihren leiblichen Müttern entgegenbringen. An Vati arbeitet man sich ab. Auf Mutti lässt man nichts kommen.
Die Liebe zur Mutter ist eine unserer prägendsten Emotionen. Sie nimmt ihren Ausgang in der ersten Lebensphase, in der das Überleben von einer stabilen Beziehung zur Versorgerin abhängt. Bei vielen setzt sich diese Abhängigkeit bruchlos ins Erwachsenenalter fort. Das Buch „Frag Mutti!“, eine Sammlung geballten Mütterwissens zu Haushaltsfragen, ging gerade in die 14. Auflage. Bei einer „Stern“-Umfrage nach dem wichtigsten Vorbild landete die eigene Mutter auf Platz 1 -also vor Jesus Christus und Nelson Mandela. Universitäten veranstalten inzwischen Tage der offenen Tür, bei denen sich nicht die Studierenden informieren, sondern deren Eltern. Und tatsächlich entscheiden die immer häufiger, was das ratlose Kind denn nun studieren soll. Aus demselben Geist der Selbstentmündigung speist sich die Faszination, die Angela Merkel auf so viele Deutsche ausübt. Wir sehen sie Abend für Abend in der Tagesschau, als stets gleich frisierte Konstante in den Krisenwirren unserer Zeit. Mutti macht das schon.
Tatsächlich hätten wir allen Grund, auf „Mutti“ ganz schön sauer zu sein. Unter „Geldfuchs“ Angela Merkel wurden uns allein in den vergangenen vier Jahren über 100 Milliarden Euro neue Schulden aufgebürdet -obwohl die Steuereinnahmen so hoch waren wie noch nie. Um die Profite des europäischen Bankenunwesens zu retten, taumelt auf Druck von Angela Merkels EU-Krisenpolitik ein Land nach dem anderen der Katastrophe entgegen. Gegen die komplett verorgelte Energiewende ist der Flughafenbau zu Berlin nachgerade ein Vorzeigeprojekt. Nie wurde in Deutschland mehr CO2 in die Atmosphäre gejagt als unter unserer „Klimakanzlerin“. Straßen, Brücken und Schifffahrtswege verrotten -unter den „guten Händen“ der Kanzlerin ist ein Sanierungsstau in dreistelliger Milliardenhöhe aufgelaufen. Der Bau bezahlbarer Wohnungen in den Städten ist zum Erliegen gekommen, die Mietpreise explodieren. Unsere Schulen vergammeln. Kinder aus ärmeren Familien werden hierzulande immer weiter abgehängt. Immer mehr Menschen arbeiten für immer weniger Geld -„Mutti“ kann sich schließlich nicht um alle kümmern.
Aber egal. Die hyperaktive Tatenlosigkeit der Bundeskanzlerin passt zu unserem Scheinleben, in dem vor allem die Pose und der „Like“-Button zählen. Angela Merkel hat erkannt, dass wir uns eigentlich danach sehnen, mit Politik nicht viel zu tun haben zu müssen. Wenn Mutti uns in Ruhe lässt, lassen wir sie auch in Ruhe, damit sind wir schon früher gut gefahren. Doch wenn wir uns schon ins Paradies unserer Jugend zurückträumen, sollten wir eines nicht vergessen: Die besten Momente waren doch immer die, in denen man merkte, dass doch nicht alles stimmt, was Mutti sagt.
JÜRGEN TRITTIN
Die Grünen
Welches Konzert oder welches Musikalbum hat Sie zuletzt beeindruckt?
Patti Smith hat mir vor ein paar Wochen wieder gut gefallen.
Wie hören Sie überwiegend Musik privat? Mit dem MP3-Player, als Download oder Stream, mit dem CD-Player oder Plattenspieler?
MP3 über meine Teufel-Anlage.
Was sind für Sie die drei drängendsten Probleme der Kulturpolitik?
1. Finanzierung von Kultur in Zeiten knapper Kassen.
2. Fairer Ausgleich zwischen KünstlerInnen und NutzerInnen.
3. Prekäre Arbeitsbedingungen für Kulturschaffende.
Sollte Popkultur ähnlich gefördert werden wie etwa Oper oder Theater?
Wir wollen Kultur fördern. Dabei unterscheiden wir nicht zwischen Hoch-und Subkultur. Wir unterstützen die Initiative Musik, die Popkultur fördert. Allerdings halten wir die Initiative Musik als einziges Förderinstrument für neuere Musik im Rahmen der Bundeskulturförderung für nicht ausreichend. Wir fordern deshalb zusätzlich die Einrichtung eines Fonds „Neue Musik“.
Rauchverbot, Lärmschutz, Clubsterben -reguliert die Politik das popkulturelle Leben zu Tode?
Das Clubsterben und -öffnen hat vielfältige Ursachen und Lärmschutzregulierungen sind der geringere Teil davon. Und es ist nicht eine ferne Politik, die Regeln setzt: In Bayern wurde das Rauchverbot beispielsweise von den BürgerInnen selbst durchgesetzt.
Kultur ist in Deutschland weitgehend Ländersache. Sollte sich die Bundesregierung dort mehr engagieren?
Der Bund muss den Ländern neue finanzielle Spielräume verschaffen, damit Länder und Kommunen ihre kulturellen Aufgaben erfüllen können. Auch das ist ein Grund für unsere Steuerreform-Ideen. Die Bundeskulturförderung, die immerhin 13 Prozent der staatlichen Kulturausgaben ausmacht, braucht klare Kriterien. Wir haben in einem Antrag aufgezeigt, wie das Geld transparent, gerecht und zukunftsgerichtet verteilt werden kann.
Muss das Urheberrecht in Deutschland gestärkt oder gelockert werden? Welche Maßnahmen kann die Politik ergreifen?
Wir wollen das Urheberrecht an die neuen Realitäten des 21. Jahrhunderts anpassen. Für uns Grüne liegt die größte Stärkung des Urheberrechts in einem echten und fairen Interessensausgleich. Der Zugang zu und die Teilhabe an kulturellen Gütern ist gleichermaßen schützenswert wie die Rechte von Kreativen an ihren Werken. Dabei haben wir die gesamte Nutzungsund Verwertungskette im Blick, von den Urheberinnen und Urhebern über die Verwerter bis hin zu den Nutzerinnen und Nutzern. Rechnung tragen wollen wir dabei auch den zunehmend komplexer werdenden Wechselbeziehungen, wo klare Abtrennungen zwischen Nutzerinnen und Nutzern, Urheberinnen und Urhebern und Verwertern zunehmend schwieriger werden.
Konkret wollen wir das Abmahnunwesen eindämmen sowie das von der Bundesregierung geplante Leistungsschutzrecht stoppen. Beim Urhebervertragsrecht fordern wir Auskunftspflicht seitens der VerwerterInnen und VermittlerInnen über den Umfang und die Erträge durch Werknutzungen und verbindliche Gültigkeit von Schlichtungsverfahren. Außerdem stehen dringend Regelungen des sogenannten „Dritten Korbes“ für den Wissenschafts-und Bildungsbereich aus.
Wie viel Freiheit, wie viel Kontrolle braucht das Internet?
Der Ausspähskandal zeigt, dass die Freiheit des Internets gefährdet ist. Wir wollen die Freiheit sichern, die Privatsphäre schützen und die gleichberechtigte Teilhabe an der digitalen Welt ermöglichen. Warnhinweismodellen, Ent-Anonymisierung, Sperrung von Internetseiten oder Internetanschlüssen und der Filterung von Inhalten erteilen wir eine Absage.
Es gibt kaum Dirigentinnen, kaum Intendantinnen: Braucht der Kulturbetrieb eine Frauenquote?
Ja, wir fordern eine paritätische Geschlechterverteilung bei allen vom Bund finanzierten Projekten und Institutionen und die Aufhebung struktureller Hürden für Frauen im Kulturbetrieb.
Viele Künstler, Musiker, Schauspieler leben in prekären Verhältnissen. Planen Sie Veränderungen in der sozialen Absicherung (Künstlersozialkasse)?
Wir haben in dieser Legislaturperiode ein Maßnahmenpaket zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Kulturschaffenden aufgelegt. Wir fordern: Anspruch auf Arbeitslosengeld für alle, die innerhalb von zwei Jahren mindestens vier Monate in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Außerdem soll eine befristete Vermittlungspause ermöglicht werden. Anspruch auf Krankengeld muss wieder ab dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit gewährleistet sein (statt ab der 7. Woche). Mindestabsicherungen und Honoraruntergrenzen für die Dienstleistung aller ausgebildeten InterpretInnen, BühnendarstellerInnen und Lehrenden ohne Festanstellung, auch an Musikhochschulen.
Wenn Sie sich einen Song aussuchen könnten: Welcher wäre der richtige für Ihren Wahlkampf?
Franz Ferdinand: „Matinee“
Rolling Stones oder Beatles?
Talking Heads.
GREGOR GYSI
Die Linke
Welches Konzert oder welches Musikalbum hat Sie zuletzt beeindruckt?
Immer wieder hörenswert und jedes Mal beeindruckend: Das Abschiedskonzert für Rio Reiser und Lana Del Rey „Born To Die“.
Wie hören Sie überwiegend Musik privat? Mit dem MP3-Player, als Download oder Stream, mit dem CD-Player oder Plattenspieler?
Mit dem CD-Player.
Was sind für Sie die drei drängendsten Probleme der Kulturpolitik?
1. Die Schaffung von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für den gleichberechtigten Zugang aller zur Kultur.
2. Die Verbesserung der öffentlichen Kulturförderung in Bund, Ländern und Kommunen.
3. Die spürbare soziale Besserstellung aller Künstlerinnen und Künstler und Kreativschaffenden.
Sollte Popkultur ähnlich gefördert werden wie etwa Oper oder Theater?
Die Frage ist nicht pauschal zu beantworten. Kultursubventionen sind immer Investitionen in die Zukunft. Eine Aufrechnung verschiedener Kunstformen gegeneinander schafft keine gemeinsame Kultur. Erwünscht ist vielmehr eine angemessene öffentliche Förderung dort, wo sie notwendig wird, um die Grundversorgung mit Kulturangeboten im Sinne des Allgemeininteresses aufrechtzuerhalten.
Rauchverbot, Lärmschutz, Clubsterben – reguliert die Politik das popkulturelle Leben zu Tode?
Nein, die Politik reguliert das popkulturelle Leben natürlich nicht zu Tode. Die drei genannten Stichworte hängen nur mittelbar miteinander zusammen. Gegen einen angemessenen Gesundheitsschutz sollte man keinen sogenannten Spaßfaktor in Stellung bringen. Rauchverbote und Lärmschutz mit Augenmaß sind sinnvoll. Ein Clubsterben wird sich eindämmen lassen, wenn alle Beteiligten kompromissfähig und vernünftig handeln.
Kultur ist in Deutschland weitgehend Ländersache. Sollte sich die Bundesregierung dort mehr engagieren?
Die Fraktion Die Linke spricht sich beharrlich für eine weitere Stärkung der Bundeskulturpolitik durch die Einführung des Amtes eines Bundeskulturministers mit Kabinettsrang aus. Wir plädieren für eine Bündelung der verschiedenen Aufgabenfelder in einem Kulturministerium, um die Belange der Kultur gegenüber anderen Ressorts sowie auf europäischer Ebene wirksamer vertreten zu können.
Muss das Urheberrecht in Deutschland gestärkt oder gelockert werden? Welche Maßnahmen kann die Politik ergreifen?
Die Linke hat bereits 2011 einen Antrag für eine umfassende Modernisierung des Urheberrechts eingebracht. Wir plädieren dafür, dass Urheberinnen und Urheber in allen Fällen der kommerziellen Werknutzung angemessen vergütet werden. Wir wollen die Möglichkeit zu Total-Buy-outs vertragsrechtlich einschränken. Wir setzen uns für die Entwicklung neuer Vergütungs-und Bezahlmodelle jenseits der etablierten Verwertungskanäle ein und befürworten entsprechende Pilotprojekte.
Wie viel Freiheit, wie viel Kontrolle braucht das Internet?
So viel Freiheit wie möglich, so wenig Kontrolle wie nötig. Eine Überwachung oder Sperrung des Internetverkehrs lehnen wir strikt ab.
Es gibt kaum Dirigentinnen, kaum Intendantinnen: Braucht der Kulturbetrieb eine Frauenquote?
Quoten sind ein Mittel und kein Ziel, um die paritätische Beteiligung von Frauen zu sichern. Da alle politischen Bereiche ihren Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter zu leisten haben, kann der professionelle Kulturbetrieb davon nicht ausgenommen werden.
Viele Künstler, Musiker, Schauspieler leben in prekären Verhältnissen. Planen Sie Veränderungen in der sozialen Absicherung (Künstlersozialkasse)?
Die Linke will die Künstlersozialkasse (KSK) erhalten und ausbauen. Sie ist eine wesentliche sozialpolitische Errungenschaft, hat sich grundsätzlich bewährt und ist auch längerfristig aufrechtzuerhalten. Sofern keine Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse möglich ist, sollen Kreative zu tragbaren Bedingungen in die allgemeinen Sozialversicherungssysteme einbezogen werden. Die Beiträge sollen einkommensabhängig erhoben und bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe teilweise vom Staat übernommen werden. Durch diese Einbeziehung erhalten Selbstständige Zugang zu dem kompletten Leistungspaket der Renten-, Kranken-und Pflegeversicherung. Außerdem wollen wir die Grundsicherungssysteme durch armutsfeste und sanktionsfreie Mindestsicherungssysteme ersetzen.
Wenn Sie sich einen Song aussuchen könnten: Welcher wäre der richtige für Ihren Wahlkampf?
„We Are The World“
Rolling Stones oder Beatles?
The Beatles.
WEITERLESEN, WEITERGUCKEN
Wie die Bundestagsabgeordneten Monika Grütters (CDU, Chefin des Kulturausschusses des Bundestages) und Siegmund Ehrmann (SPD, kulturpolitischer Sprecher der Fraktion) die Fragen des ROLLING STONE beantworten, lesen Sie auf www.rollingstone.de. Wie Gysi und Trittin für unsere Fotos posieren, sehen Sie in der September-Ausgabe der ROLLING STONE-App.
BERND SCHLÖMER
Die Piraten
Welches Konzert oder welches Musikalbum hat Sie zuletzt beeindruckt?
Ich habe seit einem Live-Auftritt von Kraftwerk, den ich vor ein paar Jahren besuchen konnte, nichts Besseres mehr erlebt. Ansonsten hat mir zuletzt Peter Fox mit „Stadtaffe“ gut gefallen.
Wie hören Sie überwiegend Musik privat? Mit dem MP3-Player, als Download oder Stream, mit dem CD-Player oder Plattenspieler?
Ich höre Musik überwiegend mit einem MP3-Player.
Was sind für Sie die drei drängendsten Probleme der Kulturpolitik?
Erstens müssen wir stärker als bislang das digitale Leben und Erleben als gleichwertigen Kulturbeitrag für Gesellschaft und Gemeinwesen begreifen. Und das entsprechend anerkennen. Zweitens würde ich mir eine stärkere Demokratisierung sowie mehr Offenheit und Transparenz in der Kulturförderung wünschen. Letztere sollte sich deswegen stärker an den Maßstäben von Bürgervoten orientieren und Angebote fördern, die die Menschen als kulturelle Bereicherung begreifen. Schließlich und darauf aufbauend glaube ich, dass die dezentrale Förderung von Kulturprojekten mit einer höheren Priorität zu versehen ist als die bekannte Konzentration auf Leuchttürme.
Sollte Popkultur ähnlich gefördert werden wie etwa Oper oder Theater?
Populärkultur und Popmusik haben als Wirtschaftsfaktor eine hohe Bedeutung. Wenn wir die in der Popmusik zum Ausdruck kommende Lebensfreude als ein elementares kulturelles Bedürfnis aller Menschen begreifen, dann müssen wir jene unsinnigen Unterscheidungen in diesem Land beenden, die wir täglich erleben: Wir reden immerfort von ernster und klassischer Musik auf der einen Seite und alberner Popmusik auf der anderen. Es gibt aber eine sehr ernsthafte Pop-oder Rockmusik und zugleich unglaublich alberne Klassik. Klassische Musik bildet sicherlich in diesem Land eine der Grundlagen unserer Identität, aber in der Förderung darf es keine Unterschiede geben. Hier begreift sich die Piratenpartei als allumfassende Kulturpartei.
Rauchverbot, Lärmschutz, Clubsterben -reguliert die Politik das popkulturelle Leben zu Tode?
Das tut sie leider. Eigene und freie Lebens-und Kulturräume in Städten werden nicht ansatzweise berücksichtigt, auch nicht in der Städteplanung. Hier ignoriert die etablierte Politik, dass Menschen einen vitalen Beitrag leisten wollen, sei es in Form von freien, selbst bewirtschafteten Gärten oder in der Clubkultur. Hier sollte Kulturpolitik mehr Mut zeigen, gerade jungen Menschen kreativen Freiraum zu lassen. Schlimm ist vor allen Dingen aber, dass gerade die GEMA hier eine Negativspirale in Gang gesetzt hat. Es ist explizit gerade nicht nur das Rauchverbot oder der Lärmschutz, das die größten Sorgen bereitet.
Kultur ist in Deutschland weitgehend Ländersache. Sollte sich die Bundesregierung dort mehr engagieren?
Der Bund sollte in Kultusangelegenheiten mehr Selbstbewusstsein zeigen, seine Förderprogramme effektiv bündeln und schließlich seinen Gestaltungswillen auch ministeriell aufwerten, ohne den Ländern Kompetenzen abzunehmen. Ein zukunftsträchtiges Feld bildet die Förderung und Gestaltung digitaler Lebensräume. Hier spielen regionale Besonderheiten nur eine untergeordnete Rolle.
Muss das Urheberrecht in Deutschland gestärkt oder gelockert werden? Welche Maßnahmen kann die Politik ergreifen?
Das bestehende Urheberrecht würgt die freie kulturelle Entfaltung schlichtweg ab. Den dringenden Reformbedarf haben die Piraten ja bereits umfassend aufgezeigt. Das Gesetz ist aus meiner Sicht auch nicht mehr zeitgemäß und dient einzig der Besitzstandswahrung der Popund Rockmusik aus den 60er-und 70er-Jahren. Die aktuellen Künstler profitieren kaum. Deshalb müssen Musiker und Urheber in ihren Rechten gestärkt werden. Ein fairer Austausch zwischen Konsument und Künstler muss zukünftig möglich sein. Weiter müssen unsere vielfältigen politischen Aktivitäten gegen das uferlose Treiben der GEMA von Politik und Gesellschaft stärker aufgegriffen werden. Die irrsinnigen Tariferhöhungen konnten wir bereits stoppen.
Wie viel Freiheit, wie viel Kontrolle braucht das Internet?
Das Internet soll kein rechtsfreier Raum sein. Es muss aber jedem Menschen ein freier und ungehinderter Zugang eröffnet werden. Wir können weiter erwarten, dass Informationen frei und ungehindert ausgetauscht werden können. Das ist ein digitales Grundrecht.
Es gibt kaum Dirigentinnen, kaum Intendantinnen: Braucht der Kulturbetrieb eine Frauenquote?
Nein.
Viele Künstler, Musiker, Schauspieler leben in prekären Verhältnissen. Planen Sie Veränderungen in der sozialen Absicherung (Künstlersozialkasse)?
Wir haben in diesem Punkt bereits den Dialog unter anderem mit dem Kulturrat oder Art but fair aufgenommen und einige Ansätze entwickelt, die die Künstlersozialkasse zukunftsfähiger machen sollen. Aber wir sollten nicht von „dem Künstler“ pauschal sprechen. Es gibt große Unterschiede und ganz unterschiedliche Lebensmodelle und Berufsmodelle. Dieser Heterogenität muss stärker Rechnung getragen werden.
Wenn Sie sich einen Song aussuchen könnten: Welcher wäre der richtige für Ihren Wahlkampf?
Ich kann da nur auf Filmmusik verweisen: Wir sind schon ein wenig wie Jack Sparrow.
Rolling Stones oder Beatles?
Die Beatles kamen von der Straße; das war bei den Stones nicht so -ich wähle die Beatles.
RAINER BRÜDERLE
FDP
Welches Konzert oder welches Musikalbum hat Sie zuletzt beeindruckt?
In den letzten Wochen kam ich leider überhaupt nicht dazu, mir ein Album zu kaufen, geschweige denn anzuhören. Aber nach dem 22. September werde ich mal schauen, was es Neues gibt.
Wie hören Sie überwiegend Musik privat? Mit dem MP3-Player, als Download oder Stream, mit dem CD-Player oder Plattenspieler?
Ich muss zugeben, dass ich selten den Plattenspieler anwerfe. Ich lege lieber eine CD ein oder höre unterwegs Radio.
Was sind für Sie die drei drängendsten Probleme der Kulturpolitik?
Kunst und Kultur sind die gesellschaftlichen Grundlagen für die Verständigung untereinander und eine Quelle von Identität und Kreativität. Kunst und Kultur, Kultur-und Kreativwirtschaft sind ohne den Schutz geistigen Eigentums nicht denkbar. Verletzungen des geistigen Eigentums im Internet sollen ebenso konsequent und wirksam bekämpft werden wie Verletzungen des Urheberrechts in der analogen Welt. Außerdem möchte die FDP eine Verankerung des Staatsziels Kultur im Grundgesetz.
Sollte Popkultur ähnlich gefördert werden wie etwa Oper oder Theater?
Popkultur kann sich aufgrund des breiteren öffentlichen Interesses ganz anders refinanzieren und schafft es -anders als Oper, Theater oder Tanz – aus eigener Kraft, eine große Vielfalt und lebendigen Wettbewerb hervorzubringen. Man darf daher nicht das eine gegen das andere ausspielen. Auf Bundesebene gibt es die Initiative Musik, die bundesweit Künstler-und Strukturprojekte aus Rock, Pop und Jazz fördert. Gleichzeitig unterstützt sie Kooperationen auf internationaler Ebene mit dem Ziel der Stärkung Deutschlands als Musikstandort.
Rauchverbot, Lärmschutz, Clubsterben -reguliert die Politik das popkulturelle Leben zu Tode?
Man kann nicht jedes Gesetz verteufeln, wenn es vereinzelt auch Konsequenzen hat, die nicht jedem gefallen. Es geht immer darum, die Interessen aller Beteiligten abzuwägen. Beim Rauchverbot ist ja bekannt, dass die FDP da eine liberalere Haltung hat und die Menschen zwar schützen, aber nicht umerziehen will. Rauchen in separaten Räumen sollte möglich sein. Und beim Lärmschutz ist es nicht in Ordnung, dass die Nachbarschaft eines Clubs an jedem Wochenende in generelle Mitleidenschaft gezogen wird, daher bin ich froh, dass die meisten Clubs da sehr behutsam mit umgehen.
Kultur ist in Deutschland weitgehend Ländersache. Sollte sich die Bundesregierung dort mehr engagieren?
Nein, im Grundgesetz ist festgelegt, dass Kultur Ländersache ist. Daran wollen wir nicht rütteln.
Muss das Urheberrecht in Deutschland gestärkt oder gelockert werden? Welche Maßnahmen kann die Politik ergreifen?
Wir wollen das Urheberrecht modernisieren und der Realität anpassen, aber nicht abschaffen. Forderungen nach einer grundlegenden Revision wie beispielsweise von den Piraten sind unbegründet und gefährlich. Das Urheberrecht in seiner geltenden Form hat sich bewährt und zeichnet sich zu Recht durch ein hohes Schutzniveau aus. Dieses hohe Schutzniveau muss auch und gerade in der digitalen Welt bewahrt werden. Im Zentrum des Urheberrechts muss aber auch in Zukunft der Schutz der kreativen Leistung stehen. Natürlich haben wir auch die Belange der Nutzer im Blick. So haben wir erst gerade dieser Abmahnindustrie bei illegalen Downloads einen Riegel vorgeschoben, denn da geht es nicht um Urheberrechtsschutz, sondern da hat sich ein Geschäftsmodell gebildet, das so keiner will. Das schadet auch den Künstlern. Es muss noch stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden, dass das Urheberrecht die rechtliche Basis für das Einkommen vieler Tausend Menschen in Deutschland ist.
Wie viel Freiheit, wie viel Kontrolle braucht das Internet?
Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, das ist klar. Und natürlich hinken wir in manchen Bereichen der aktuellen Entwicklung noch hinterher, wie wir gerade an den Datenskandalen der letzten Wochen sehen, aber das Internet darf nicht überreguliert werden. Wenn allerdings international tätige Firmen wie Facebook, Google und Co. Daten ihrer Mitglieder weitergeben, dann brauchen wir hier Transparenz. Insbesondere der Datenschutz im Internet ist den Menschen ein großes Anliegen. Daher bin ich froh darüber, dass es der FDP gelungen ist, die Stiftung Datenschutz ins Leben zu rufen. Sie wird ein Datenschutzsiegel entwickeln, dann wären wir einen großen Schritt weiter.
Es gibt kaum Dirigentinnen, kaum Intendantinnen: Braucht der Kulturbetrieb eine Frauenquote?
Nein, braucht er nicht. Wir brauchen keine dirigistischen Quoten, auch nicht für Dirigentinnen.
Viele Künstler, Musiker, Schauspieler leben in prekären Verhältnissen. Planen Sie Veränderungen in der sozialen Absicherung (Künstlersozialkasse)?
Wir Liberale sprechen uns für eine Reform der Künstlersozialversicherung aus. Wir müssen generell prüfen, ob Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage von Künstlerinnen und Künstlern verstetigt bzw. bei Bedarf neu angepasst werden müssen.
Wenn Sie sich einen Song aussuchen könnten: Welcher wäre der richtige für Ihren Wahlkampf?
Mir gefällt das Lied „Peace Train“ von Cat Stevens sehr gut, denn die Aussage, alles ist möglich und erreichbar, „if you want to sing out sing out“, finde ich äußerst motivierend.
Rolling Stones oder Beatles?
Beatles eher mal im Auto oder am Abend. Die Rolling Stones, wenn ich etwas Action brauche. Gerne nach einer politischen Diskussion mit den Grünen.
OHNE MICH
Systemverweigerer, Politikverdrossene, Idealisten: Die Nein-Sager werden immer mehr. Und sie haben sehr unterschiedliche Gründe. Ist das Nichtwählen eine Gefahr für die Demokratie -oder gar nicht so schlimm?
VON KATRIN WEBER-KLÜVER
Es ist Hochsommer, noch zwei Monate bis zur Bundestagswahl, und Dr. Werner Peters ist erschöpft. Die Berufspolitiker in Berlin haben noch nicht mal richtig mit den Aufwärmübungen für die sogenannte heiße Phase des Wahlkampfs begonnen, da hat Dr. Werner Peters in Köln schon die meiste Arbeit hinter sich. „Für die kleinen Parteien ist der Vorwahlkampf stressiger als der eigentliche Wahlkampf“, sagt er. Seine kleine Partei ist die „Partei der Nichtwähler“.
Bei der Bundestagswahl vor vier Jahren hat fast jeder dritte Wahlberechtigte auf eine gültige Stimmabgabe verzichtet. Als virtuelle Gemeinschaft waren die Nichtwähler größer als CDU/CSU, die üblicherweise die meisten Stimmen auf sich vereinen. Nun haben Nichtwähler sogar eine richtige Partei, deren Name schon deshalb nicht schlecht gewählt ist, weil er Aufmerksamkeit erzeugt. Einerseits. Andererseits führt er in die Irre. „Nicht“ hört sich sehr nach alternativloser Verweigerung an. Keine Ideen, keine Visionen, nur die Mitteilung per Wahlkreuz, dass man die anderen alle für unwählbar hält. Werner Peters kennt diesen Vorbehalt: „Ich bekomme immer wieder zu hören, wir hätten kein Programm.“ Dabei hat er ein fundamentales Anliegen: „Der Strukturwandel in der Politik ist unser Programm.“
Viele Nichtwähler, davon ist Peters überzeugt, verzichten nicht aus Gleichgültigkeit darauf, ihr Kreuzchen zu machen, sondern aus Frustration über den Politikbetrieb. Peters selbst war mal CDU-Mitglied, verließ dann enttäuscht die Partei, wurde erst Nichtwähler, dann sozusagen Nichtwähler-Chef. Der 72-Jährige hat die Partei gegründet, er ist ihr Vorsitzender und ihr Aushängeschild. In den vergangenen Monaten hat der Gastronom mit der filigranen Brille, der in Köln das hip-etablierte Hotel Chelsea führt, Unterschriften gesammelt, die Partei vor Livepublikum ebenso promotet wie im Fernsehen, hat sie in Zeitungsinterviews beworben und mit einem Buch, das den Titel „Der schlafende Riese“ trägt. Anfang Juli bescheinigte der Bundeswahlleiter seiner Partei, die formalen Kriterien für die Bundestagswahl zu erfüllen. Dr. Peters ist vorerst am Ziel.
Er hat die Wahlkampfbühne genutzt, bevor die Schwergewichte der Politik sie betreten. Wobei in diesem Jahr dahingestellt sei, ob es überhaupt zu einem richtigen Kräftemessen kommt, allein schon weil die ehemalige Volkspartei SPD auftritt wie der Schwarze Ritter, der in Monty Pythons „Rittern der Kokosnuss“ stoisch den Herausforderer gibt und ignoriert, wie er gerade in seine Einzelteile zerlegt wird. Doch das ist eine andere Geschichte -oder vielleicht auch nicht, denn auch die Trostlosigkeit dieser Rumpf-SPD gehört zu den Aspekten, die zu Verdrossenheit und Gleichgültigkeit potenzieller Wähler beitragen.
Es sind Menschen des gesamten politischen Spektrums, aus allen Schichten, jeden Alters, die wahlweise von klarem Unmut oder diffuser Unlust befallen werden, wenn sie an die Wahl denken. Wem soll man bei all den profillosen Angeboten denn noch eine Stimme geben? Und inzwischen liegt selbst unter gewohnheitsmäßig pflichtbewussten Bürgern eine bislang verschmähte Antwort in der Luft: Vielleicht einfach mal keinem?!
Im Mai räsonierte der Soziologe Harald Welzer im „Spiegel“ über den Niedergang von Politik („Noch der letzte Stuss muss vertreten werden, wenn er aus der eigenen Partei kommt, noch der klügste Ansatz abgelehnt, wenn er von den anderen kommt“), skizzierte deren wachsende Taten-und Machtlosigkeit gegenüber transnationalen Konzernen, fand bei keiner Partei eine „Idee für die Bewahrung der Demokratie im 21. Jahrhundert“ und zog die Konsequenz, die Bundestagswahl zu boykottieren. Denn: „Die zur Gewohnheit gewordene Entscheidung für das kleinere Übel ist die eigentliche Ermöglichung des größeren.“ Und: „Allein der Entzug der Zustimmung nötigt die Parteien, sich ihrem Legitimationsverlust zu stellen und sich daran zu erinnern, wer in der Demokratie der Souverän ist.“
Welzer ist ein potenzieller Erst-Nichtwähler -im Unterschied beispielsweise zum notorischen Systemverweigerer-Nichtwähler. Er ist ein Nichtwähler mit dezidiert begründeter Entscheidung – im Unterschied zum Gleichgültigkeits-Nichts-Wähler. Er ist ein mahnender, aber noch hoffender Nichtwähler aus besseren Kreisen -im Unterschied zum sich hoffnungslos abgehängt fühlenden Unterschichts-Nichtwähler. Anders gesagt: Welzer ist einer von vielen, aber sie sind alle sehr verschieden. Den Nichtwähler als solchen gibt es nicht. Je mehr man ihn unter die Lupe nimmt, desto klarer sieht man seine Vielgestalt. Und auf jede Frage zum Nichtwählertum gibt es mindestens zwei Antworten, nicht selten diametral entgegengesetzte. Nichtwählerforschung ergibt in der Summe ihrer Teile kein geschlossenes Bild, sondern Chaos. Ein interessantes Chaos.
2005 verweigerten sich 22,3 Prozent der Wahlberechtigten, sie gingen nicht hin oder wählten ungültig -der Anstieg auf fast 30 Prozent vier Jahre später war exorbitant. Was wird bei der anstehenden 18. Bundestagswahl passieren? Sind viele Nichtwähler eine Bedrohung der Demokratie oder Ausdruck saturierter Stabilität? Und was wollen Nichtwähler? Wenn sie denn etwas wollen.
Die „Partei der Nichtwähler“ zum Beispiel will eine Belebung der politischen Kultur. Vereinfacht zusammengefasst: Kein Berufspolitikertum mehr, sondern Begrenzung der Abgeordnetenzeit auf zwei Legislaturperioden, kein Fraktionszwang, keine Koalitionsvereinbarungen; außerdem mehr direkte Demokratie. Es geht darum, aus einem Parlament, das derzeit oft nur noch abnicken darf, was die Regierung zuvor alternativlos entschieden hat, wieder einen Ort der Entscheidungsfindung zu machen. „Wofür setzen wir die Abgeordneten denn in den Bundestag?“, fragt Peters. „Die sollen doch debattieren und sich Meinungen bilden; sie sollen als freie, verantwortungsbewusste Menschen mit gesundem Menschenverstand entscheiden.“ Dass Peters ein distinguierter, gelegentlich empört, aber nie zynisch auftretender Mensch ist, macht es einigermaßen schwer, nicht vernünftig zu finden, was er kritisiert und welche Verbesserungen er ersehnt. Es sei denn, man lehnt das ganze System ab.
Stefan Klein, 52 Jahre alt, Jurist aus Frankfurt am Main, ist so jemand. Als Student in den 80er-Jahren war er in linken Gruppen aktiv, wie das eben so war. Nun ist er auf andere Art erschöpft als Werner Peters. Stefan Klein, ein eloquenter Mensch, der privat gerne debattiert, ist öffentlich im Politikvorruhestand. Mit ein bisschen schlechtem Gewissen zwar, aber auch resigniert ob der herrschenden Verhältnisse, die er durch Wahlen allenfalls in Nuancen verändert sieht, nie aber substanziell. „Ich würde dem ganzen System durch meine Stimme meine Zustimmung geben“, sagt Klein, „und das will ich nicht.“ Anders als ein Erst-Nichtwähler wie Welzer, der innerhalb des Systems auf Veränderungen hofft, ist Klein überzeugt, dass Wahlen grundsätzlich sinnlos sind. Und fasst das in ein Bild: „Wahlen sind wie eine Gruppe von Leuten, die auf einer Treppe sitzen und hoffen, damit zum Mond zu fliegen. Und wenn man dazukommt und sagt, das funktioniert doch nicht, sagen sie:,Aber du hast doch keine Alternative, setz dich doch zu uns.'“
Unter den Nichtwählern gehört Klein zu den 14 Prozent, die prinzipiell nicht zur Wahl gehen. Diesen Anteil jedenfalls weist die Studie „Nichtwähler in Deutschland“ aus, die die Friedrich-Ebert-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa Anfang des Jahres publiziert hat. 46 Prozent der befragten Nichtwähler gaben an, nur eine der letzten vier Bundestagswahlen ausgelassen zu haben. 16 Prozent erklärten, bislang gewählt zu haben, bei der kommenden Wahl jedoch kein Kreuz machen zu wollen. Wie Harald Welzer.
Vorausgesetzt man hält eine hohe Wahlbeteiligung per se für ein gutes Zeichen der gesellschaftlichen Gesamtverfasstheit, könnte man angesichts dieser Typologie beruhigt sein. Immerhin weist sie eine große Mehrheit nur ausnahmsweise nichtwählender Bundesbürger aus. Allerdings hat die Befragung einen Haken: Die Interviewten mussten im Jahr 2012 Auskunft über Handlungen geben, die bis zu 14 Jahre zurücklagen. Das Problem: „Menschen korrigieren ihr vergangenes Verhalten im Sinne ihrer Präferenzen, sie passen ihre Erinnerungen an und behaupten, etwas getan zu haben, was sie faktisch nicht getan haben.“ So erklärt es Matthias Jung, Geschäftsführer der Forschungsgruppe Wahlen, die unter anderem für das ZDF Umfragen durchführt. Es besteht eine faire Chance, dass diese Rückerinnerungen Fantasien sind -und ziemlich verzerrt darstellen, was wirklich passiert ist.
Das bestätigt sich auch in der Studie „Die gespaltene Demokratie“, die die Bertelsmann-Stiftung und das Institut für Demoskopie Allensbach ebenfalls in diesem Jahr veröffentlicht haben. Jeweils rund vier Wochen nach Bundestagswahlen wurden Menschen gefragt, ob sie zur Wahl gegangen seien. 2009 antworteten etwa 90 Prozent aller Über-30-Jährigen und noch 80 Prozent der Jüngeren mit Ja. Bei einer tatsächlichen Gesamtwahlbeteiligung von 70 Prozent zeugt das von erstaunlicher Realitätsverschiebung. Oder aber davon, dass fast alle angesprochenen Nichtwähler eine Befragung ablehnten. So oder so kommt man zu einem Ergebnis, von dem sich lediglich eines sicher sagen lässt: dass es falsch ist.
Matthias Jung ist mit der Erforschung -oder besser: der Erforschbarkeit -der Nichtwähler denn auch unglücklich. „Wir machen keinen Hehl daraus, dass wir mit keiner Dimension so schlecht zurande kommen wie mit der ganzen Komplexität der Wahlnichtteilnahme“, seufzt er. „In den Umfragen ein paar Wochen vor den Wahlen erwischen wir immer nur den Teil der Wähler, die ihre Nicht-Wahl als bewusste Willensäußerung verstehen, zum Teil aus Systemunzufriedenheit, zum Teil aus mangelndem Angebot der Parteien.“ Aber all jene, die am Wahltag lieber im Schwimmbad bleiben oder den Termin einfach vergessen oder krank werden, die teilen das halt nicht Wochen vorher als Absicht mit. Und diejenigen, die nicht wählen gehen, weil ihnen die Wahl einfach egal ist, mögen das auch eher nicht so laut sagen.
Wegen dieses Desinteresses ist es schwer zu ermitteln, wie viele Menschen nicht wählen, weil Politik und Gesellschaft sie abgehängt haben oder sie sich zumindest abgehängt fühlen, mit geringer Bildung, ohne oder mit prekärer Arbeit, abhängig von Sozialleistungen. Hier schweigt eine Menge frustrierter Menschen, aber weil sie schweigt, erfährt man wenig von ihr. „Ein entpolitisiertes Prekariat verabschiedet sich aus der politischen Teilhabe und macht aus der inklusiven, sozialen Demokratie eine zunehmend defekte, weil sozial gespaltene ,Zwei-Drittel-Demokratie'“, heißt es dazu in der Bertelsmann-Studie. Dort ist auch eine vergleichsweise handfeste Langzeitbefragung des Allensbach-Instituts aufgenommen, die Hinweise gibt, dass die Zahl der Frustrierten wächst. Seit 1955 fragt Allensbach Menschen, ob sie eher meinen „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder „Die einen sind oben, die anderen unten“. 2013 war erstmals überhaupt die Überzeugung verbreiteter, dass die Verhältnisse einbetoniert sind. Wer so denkt und sich selbst ganz unten sieht -wozu soll der noch aufbegehren, wozu wählen?
„Unter jeder Regierung von Kohl über Schröder bis Merkel sind die Reichen deutlich reicher und die Armen ärmer oder mehr geworden. Das sind sehr verschiedene Regierungen, aber jede hat ihren Teil dazu beigetragen, dass sich das Problem verschärft hat. Das sind gute Argumente zu resignieren.“ Sagt Jutta Sundermann, 42 Jahre alt, Mitglied im Attac-Koordinierungskreis. Und Nichtwählerin.
Sundermann ist hauptberufliche Politaktivistin, unter anderem auf dem Arbeitsfeld Finanzmärkte und Vermögensverteilung. Wahlen gehören für die Wolfenbüttelerin nicht zum Pflichtprogramm. Sie sagt: „Dieses Kreuzchen ist ein Mandat für ein irre komplexes gesellschaftliches Themenfeld. Jede Partei schreibt ein dickes Parteiprogramm und vielleicht kann man bei der Lektüre denken, die eine steht mir ein bisschen näher als die andere. Aber nie hat man die Möglichkeit, differenziert zu sagen, in den und den Fragen finde ich diese Partei gut und in anderen Fragen habe ich in andere Personen mehr Vertrauen.“ Sundermann will keiner Partei einen „Vertrauensblankoscheck“ ausstellen. „Demokratie kann nicht darin bestehen, ein Kreuzchen zu machen. Ich finde es am wichtigsten, zwischen den Wahlterminen aktiv zu sein, mich einzumischen und andere Menschen zu befähigen, sich mit einzumischen.“
Sundermann versucht, Menschen zu motivieren. Viele Berufspolitiker scheinen das nicht zu tun. Jedenfalls nicht, wenn man diejenigen fragt, die sie motivieren sollten. Die Nichtwähler, die der Friedrich-Ebert-Stiftung Rede und Antwort standen, haben als Motiv für ihre Entscheidung am häufigsten angegeben, dass Politiker kein Ohr für die Sorgen der kleinen Leute hätten (34 Prozent), dass sich Politiker nur für ihre eigene Karriere interessierten (31 Prozent). Es gibt allerdings auch ziemlich unpolitische Motive: 14 Prozent erklärten, durch Krankheit oder Urlaub verhindert gewesen zu sein, 11 Prozent sagten, sie hätten arbeiten müssen. Immerhin nur ein Prozent der Nichtwähler behaupteten, ihnen sei der Weg zum Wahllokal zu weit gewesen. Dass all diese Angaben, die wieder mehr oder weniger präzisen Erinnerungen entspringen, mit Vorsicht zu betrachten sind, versteht sich von selbst.
Nichts Genaues weiß man nicht, aber man sucht immer weiter. Nicht zuletzt, um doch auf eine Formel zu kommen, wie das Wahl-und Nichtwahlverhalten zu bewerten ist. Matthias Jung interpretiert den Status quo so: „Ich bin skeptisch, aus rückläufiger Wahlbeteiligung auf den Untergang des politischen Systems zu schließen. Wir haben eigentlich nicht das Problem zu erklären, warum die Wahlbeteiligung zurückgeht, sondern das Problem zu erklären, warum sie so hoch ist, obwohl sich wesentlich weniger Leute für Politik interessieren als an der Wahl teilnehmen.“ Jutta Sundermann hingegen sagt:“Ich kenne eine wachsende Zahl von Menschen, die sagen, Politik ist egal, weil die Macht ganz woanders liegt, egal wer an der Regierung ist.“
Fakt ist aber, dass jeder Nichtwähler seinen Teil zum Wahlergebnis beiträgt. Vereinfacht gesagt, profitiert stets das konservative Lager, wenn die Wahlbeteiligung gering ist. Die höchste Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl gab es 1972 mit 91,1 Prozent. Der Höhepunkt der Ära von Willy Brandt, die erste Wahl, bei der die SPD vor der CDU landete. Beim einzigen spürbaren Anstieg einer seitdem vor sich hin sinkenden Wahlbeteiligung wurde 1998 eine schwarz-gelbe Koalition abgewählt und durch die erste rot-grüne Koalition im Bundestag ersetzt.
Diese Erfahrungswerte könnten ein Grund sein, weshalb die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung in ihrer 2012 publizierten Studie keinen größeren Handlungsbedarf in Sachen Nichtwähler-Mobilisierung sieht. Sie rät sogar davon ab, sich übermäßig ins Zeug zu legen: „Es würde (…) für keine Partei einen strategischen Vorteil bringen, da sich die Nichtwähler relativ homogen über die Parteienlandschaft verteilen.“ Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hingegen sieht ein Gefährdungspotenzial für die Demokratie, wenn sich immer weniger Menschen an Wahlen beteiligen. Und sie ist besorgt, weil nach ihren Auswertungen „eher die unterprivilegierten Wählerschichten zur Wahlenthaltung tendieren als die Wähler/innen aus mittleren und oberen Schichten der Gesellschaft.“ Das Fazit der Studie: Parteien und Politiker „sollten wieder stärker auf die Interessen der Mehrheit der Bürger Rücksicht nehmen und nicht die Interessen von Minderheiten oder Partikular-Gruppen in so starkem Maße, wie es heute oft der Fall ist, in politische Entscheidungen einfließen lassen“. Derart mit Bedenkenträgermiene vorgetragene Plattitüden dürften allerdings das ermittelte „Gefühl der Entfremdung und Ohnmacht“ in der Unterschicht kaum vertreiben.
Auch die „Partei der Nichtwähler“ zielt erst einmal nicht auf jene, die das Interesse bereits ganz verloren haben. Sondern zunächst auf die, die eigentlich doch gerne gehört werden und mitentscheiden wollen. Ende Juli erfuhr Werner Peters, dass die Partei vom Landeswahlleiter Nordrhein-Westfalen zugelassen wird. Nun kann er im bevölkerungsreichsten Bundesland erproben, wie viele Nichtwähler sich für die Wahl mobilisieren lassen. Vermutlich wird kein schlafender Riese erwachen, aber ein paar Tausend Stimmen können zusammenkommen. Und dann will er weitersehen.
Demokratie ist, weit über Wahlen hinaus, nichts für Couchpotatoes. Sie ist eine verdammt anstrengende Sache. Wie fast alles, was gut ist.
SCHORSCH KAMERUN
Die Goldenen Zitronen
Welches Konzert oder welches Musikalbum hat Sie zuletzt beeindruckt?
„Yeezus“ von Kanye West fand ich Wahnsinn. Wirklich moderne Musik. Live waren Hercules &Love Affair umwerfend.
Wie hören Sie überwiegend Musik privat? Mit dem MP3-Player, als Download oder Stream, mit dem CD-Player oder Plattenspieler?
Vermehrt wieder Platten, als Luxusmoment in „echter“ Echtzeit. Ich nutze aber auch alle anderen Formate. Kanye West lief über Kopfhörer beim Segeln.
Was sind für Sie die drei drängendsten Probleme der Kulturpolitik?
Ich bin dafür, dass Kulturinstitutionen erhalten bleiben, von Kleinstbühnen über Clubs bis zur Oper. Dabei ist das Ausspielen von Sub-gegen Hochkultur längst Quatsch von gestern. Städte, Kommunen, das Land sollten sich alle Arten von Kultur leisten, das bringt ja sogar ökonomisch was. Als Theatermacher bin ich selbst Staatsknete-Künstler, das finde ich in dem Sinne richtig, weil man sich dort unabhängig von Privatgeldern bewegt. Privatgelder gehören dabei grundsätzlich nicht ins Förderungssystem. Banken und Privatwirtschaft haben nichts auf mit Subventionen finanzierten Bühnenplätzen zu suchen. Nebenbei empfinde ich unser Bewertungsbildungssystem, den Punktesammeldruck und das Lernranking grundfalsch.
Sollte Popkultur ähnlich gefördert werden wie etwa Oper oder Theater?
Theaterproduktionen brauchen solches Geld, um es klar zu sagen. Aber ich finde deshalb nicht, dass Die Goldenen Zitronen gefördert werden müssen. Auch wenn unterhalb von – sagen wir -Tocotronic Musiker nur bedingt vom Musikmachen leben können. Auch wenn du ein sehr guter Jazzmusiker bist, kannst du davon nicht leben – außer du spielst in einer geförderten Umgebung. Ein anderer Weg wären Preise und Stipendien für Bands und Musiker, wie man das aus dem Literaturbereich kennt, nur passen die nicht sonderlich zu einem gegenkulturellen Indie-Modell wie dem unseren.
Rauchverbot, Lärmschutz, Clubsterben -reguliert die Politik das popkulturelle Leben zu Tode?
Ich bin grundsätzlich gegen Verbote. Ich bin auch gegen Rauchverbote, freu mich aber als Nichtraucher, wenn ich in einem Restaurant sitze, in dem ich etwas riechen kann.
Kultur ist in Deutschland weitgehend Ländersache. Sollte sich die Bundesregierung dort mehr engagieren?
Dringender als einen Bundeskulturminister bräuchten wir Weltverhältnisse-Minister, Menschen in Umgestaltungsstellen, die Dinge grundsätzlich neu denken, die radikale Antworten finden auf die extremen Unverhältnismäßigkeiten unserer Zeit: Grenzen-Abschaffer und Scheren-Ausgleicher.
Muss das Urheberrecht in Deutschland gestärkt oder gelockert werden? Welche Maßnahmen kann die Politik ergreifen?
Wenn ich ein Werk schaffe, möchte ich dafür einen Gegenwert bekommen. Das ist erst mal ok. Auf der anderen Seite bin auch ich ein Künstler, der die Ideen anderer gebraucht. Kunst ist immer auch Collage. Wir leben in einer collagierten Welt. Eigentlich finde ich es cool, wenn man alles benutzen darf. Ich verstehe aber Produzierende, die von ihrem Schaffen leben müssen, die ihre Werke nicht einfach kopiert sehen wollen. Sie haben einen verständlichen Schutzanspruch. In Köln hat mal ein Laden aufgemacht, der hieß „Goldener Pudel Klub“, genau wie unser Laden in Hamburg. Den haben wir dann gutbürgerlich verklagt -erfolgreich.
Wie viel Freiheit, wie viel Kontrolle braucht das Internet?
Das Internet nennt sich demokratisch, aber der Kapitalismus nutzt das zur puren Wertschöpfung – das ist sein Begriff von Freiheit. Es ist wie bei der Globalisierung, bei der die Märkte „befreit“ wurden, wo dann letzten Endes nicht die Politik oder die User, sondern der Markt nach seinen Regeln reguliert und profitiert. Grundsätzlich bin ich immer für die Freiheit, aber das kann nicht nur die Freiheit der Monopolkonzerne und deren Begünstigte bedeuten.
Es gibt kaum Dirigentinnen, kaum Intendantinnen: Braucht der Kulturbetrieb eine Frauenquote?
Das lässt sich nur schwer verordnen. Auch wenn ich dafür bin, dass viel mehr Frauen in Leitungspositionen an Theatern, in Redaktionen oder sonst wo arbeiten -gerne auch mehr als 50 Prozent – bisher sind dort nämlich Hospitantinnen in der Überzahl. Ich selbst mag Chefinnen, aber ich spiele gleichzeitig in einer Band, die immer noch nur aus Männern besteht. Ja, ja, Tante Popkultur, bis heute ein superschwerer, rückständiger Fall von männlichem Imponier-und Balzgehabe. Also: Ich bin für die Quote, auch weil sich sonst vielleicht nie etwas ändert.
Viele Künstler, Musiker, Schauspieler leben in prekären Verhältnissen. Planen Sie Veränderungen in der sozialen Absicherung (Künstlersozialkasse)?
Ich plane gar nichts. Ich bin seit fast 30 Jahren in der Künstlersozialkasse, sie ist unverzichtbare Basis für selbstständige Kunstschaffende. Besser wäre auch hier ein Mindesteinkommen für alle.
Wenn Sie sich einen Song aussuchen könnten: Welcher wäre der richtige für Ihren Wahlkampf?
Ton Steine Scherben: „Keine Macht für Niemand“. Weniger der Song, mehr das Motto.
Rolling Stones oder Beatles?
Ich war immer Beatles und bleibe es. Ich mochte das Rock’n’Roll-hafte der Stones irgendwie nie, obwohl die sicherlich ihre Verdienste haben. Aber ich bin auch mehr Blur als Oasis, also im Zweifel lieber mehr blinkendes Plastik als lederner Schweiß.
SCHALKE WÄHLT ROT
Mit 54,3 Prozent holte die SPD im Wahlkreis Gelsenkirchen das beste Erststimmen-Ergebnis in ganz Deutschland.
LINKS AM OSTKREUZ
Der Berliner Wahlbezirk Lichtenberg war mit 47,4 Prozent der Erststimmen die Hochburg der Linken.
LICHTENBERG
DAS ALTERNATIVE BERGHAIN
Kreuzberg-Friedrichshain-Prenzlauer Berg Ost ist der einzige Wahlkreis, der einen grünen Direktkandidaten in den Bundestag schickte: Hans-Christian Ströbele mit 46,8 Prozent. Die Linken holten hier 17,6 Prozent.
NULL BOCK
57,6%
Im Wahlkreis Anhalt war die Wahlbeteiligung mit 57,6 Prozent bundesweit am niedrigsten.
KATHOLISCH SCHWARZ
Im südoldenburgischen Cloppenburg-Vechta erreichte die CDU ein bundesweites Rekordergebnis von 62,3 Prozent. Im bayerischen Kulmbach kam die CSU auf 68,1 Prozent.
alle Angaben: Bundestagswahl 2009