Win Butler von Arcade Fire im Interview – warum er sich auf die Deutschland-Konzerte freut
Im Rahmen ihrer „WE“-Tour kommen Arcade Fire im September 2022 für mehrere Konzerte nach Deutschland. Wir sprachen im Vorfeld der Shows mit Win Butler.
Mit Berlin verbindet Win Butler längst nicht nur etliche denkwürdige Shows seiner Band — sondern auch ein ganz spezielles Backpacking-Erlebnis als Jugendlicher. „Das erste Mal war ich hier 1998. Damals war ich noch in der Highschool“, erzählt er zu Beginn unseres Gesprächs. „Ich kam in Berlin an, es war mitten in der Loveparade. Die Loveparade und die Fußball-Weltmeisterschaft zur selben Zeit! Ich stieg aus dem Zug — und da waren 400.000 Leute, die tanzten … in Badehosen! Ich versuchte, mich durch diese Menge von 400.000 Menschen zu drängen, um zu meiner Herberge zu kommen. Ich dachte nur: ‚Oh, Scheiße, ist Berlin schön! Das ist echt heftig!’“ Mit Arcade Fire wird Butler Berlin bald einen weiteren Besuch abstatten, die Kanadier treten in der Mercedes-Benz-Arena auf (29. September), davor in der Kölner Lanxess Arena (14. September) und in der Olympiahalle in München (18. September), präsentiert von ROLLING STONE. Auf den drei Konzerten stellen sie ihr aktuelles Album „WE“ vor.
Shows von Arcade Fire haben gerne mal einen Hang zum Imposanten, schließlich bestand die Band im Laufe ihrer Besetzungen aus bis zu zwölf Live-Musikern, und der Sound wird auf der Bühne orchestral. Wenn alles gut läuft, bewegen sich Arcade Fire von der Bühne herab und ins Publikum, sie marschieren dann auf Augenhöhe durch die Reihen der Fans und durch den Saal. Wie ist diese Down-to-Earth-Haltung entstanden?
Butler holt aus — und erklärt das Live-Ethos der Band: „Wir kommen aus einem DIY- und Punk-Background. In Montreal haben wir die ersten drei Jahre nicht auf Bühnen, sondern nur auf dem Boden gespielt, bei Loft-Parties, Tanzshows, multidisziplinären Kunstshows und in Kirchenkellern. Montreal war zu dieser Zeit extrem vielfältig — es gab eine Menge DJs, eine Menge Bands wie Godspeed, You Black Emperor! Ich denke, dass diese Konzerte auf dem Fußboden wirklich wichtig waren. Selbst, wenn ich damals vom Mikrofon wegging und weiter sang, konnten mich die Leute noch hören. Es waren eben sehr kleine Räume — und dadurch, dass wir mit dem Publikum immer auf einer Ebene waren, konnten wir unsere Liveauftritte verfeinern. Unser Motto war: Uns ist es egal, ob du unsere Band magst oder nicht, wir werden eine Verbindung zu dir herstellen, du wirst nicht einfach hinten an einer Bar sitzen. Wir werden einen Moment erschaffen“.
Organisch gewachsen
Dass die Band und somit auch die Bühnen immer größer wurden, sei auf eine sehr organische Art passiert. „Wir spielten vor 20 Leuten, dann vor 100, 300, 500, 2000 und irgendwann 30.000. Aber wir sind im Van getourt. Auf der ‚Funeral‘-Tour hatten wir ein Handy für acht Leute. Wir haben unser Equipment selbst geschleppt, wir haben auf dem Coachella-Festival vor 20.000 Leuten gespielt und hatten keinen Gitarren-Techniker dabei. Wir haben uns die Arbeit gemacht.“
Dieser Club-Spirit ist auch heute noch wichtig für die Gruppe: „Auch als die Produktionen größer wurden, sind wir es immer noch so angegangen, als würden wir auf dem Groundfloor oder in einem kleinen Club spielen. Für dieses Album haben wir ein paar Gigs in New Orleans gespielt und im Bowery in New York. Da passen 500 Leute rein — wir wollten einfach sehen, ob wir das immer noch können. Es geht einfach in erster Linie um die Musik, die Körperlichkeit der Band. Um Musiker, die sich seit 20 Jahren kennen, es einfach lieben, live zu spielen und mit den Leuten eine Verbindung herstellen wollen“.
Es sei absolut möglich, auch in großen Venues ein Gefühl der Intimität zu erzeugen — davon ist Butler überzeugt. Selbst habe er dies bei seinem ersten Konzert von Depeche Mode erlebt, erzählt er: „Ich saß in der letzten Reihe, ganz ganz oben im Madison Square Garden. Es war eine verdammt großartige Show, ich hatte eine tolle Zeit. Die Bewegungen waren groß genug, die Inszenierung war überzeugend genug, und die Musik war großartig genug, dass es eine Verbindung gab“
Arcade Fire: Die perfekte Setlist?
Die perfekte Arcade-Fire-Setlist gibt es nicht so wirklich, meint Butler — denn die sei von Land zu Land grundverschieden. „Man könnte denselben Song an zehn verschiedenen Orten spielen und er würde sich völlig anders anfühlen. Das liegt einfach an der Musik, mit der die Leute aufgewachsen sind, an der Art, wie sie tanzen, und an der Art, wie sie Musik empfinden.“ Härtere Songs wie „Creature Comfort“ würde er sogar auf Festivals mit Slayer und den Nine Inch Nails spielen und damit wohl durchkommen, meint er. „Aber wenn wir in Frankreich spielen, dann ist es so, dass die Leute eher auf die sanfteren, zarteren und nuancierteren Sachen abfahren. Man spürt diese Energie, dass die Leute wirklich Nuancen und Dynamik wollen — es scheint, als wäre das kulturell bedingt. In Europa seien diese kulturellen Unterschiede viel ausgeprägter als in den USA: „Die Unterschiede zwischen London und Glasgow sind beispielsweise enorm. Obwohl beide in Großbritannien liegen, ist es so, als ob man auf einem anderen Planeten wäre.“
Backing Tracks kommen bei Arcade Fire indes nicht in Frage — Butler nimmt lieber mit möglichen Fehlern und Unstimmigkeiten des jeweiligen Abends vorlieb. „Bei den meisten Bands kommt die Hälfte der Sounds, die man hört, aus dem Computer. Das ist prinzipiell in Ordnung, aber es ist ein bisschen wie Karaoke. Es kann nie so sehr aus der Reihe tanzen, es wird ziemlich genau wie das Album klingen und ziemlich perfekt sein. Vielleicht gefällt es dem Publikum, dass unsere Band das andere Ende des Spektrums abbildet, nämlich dass alles live ist. Das kann manchmal durchaus unstimmig sein. Die Energie verändert sich, je nachdem, was in der Menge los ist. Das Tempo ändert sich je nach der Begeisterung des Publikums. Was wir anstreben, ist, einfach musikalisch echt zu sein. Scheiße passieren zu lassen, Fehler zuzulassen, Dinge zuzulassen, die dich überraschen.“
Gibt es Songs im Arcade-Fire-Backkatalog, die besondere Herausforderungen darstellen? „Wir haben ‚End Of The Empire’ auf einem Festival in Montreal gespielt. Das Stück ist neuneinhalb Minuten lang — und über weite Strecken wirklich ziemlich soft. Ich dachte mir, bevor wir den Song spielten: ‚Das könnte jetzt wirklich kraftvoll und cool werden … oder die längsten neun Minuten meines Lebens, ich bin mir nicht sicher’. Ein Teil von mir dachte einfach, dass die Leute nur Bier trinken und Drogen nehmen wollen — möchten 30.000 Leute auf einem Feld wirklich einen neuneinhalbminütigen Song hören, der sich über weite Bögen erstreckt? Aber weißt du, wir haben es gemacht — und es war wirklich verdammt cool und anders, die Energie war wirklich interessant“.
Bezüglich seiner Performance hebt Butler eines seiner Idole im Gespräch besonders hervor: „Ich erinnere mich daran, wie ich Neil Young vor ein paar Jahren gesehen habe. Er hat damals eine Art Reboot von ‚Rust Never Sleeps‘ gemacht, es war sehr rockig. Irgendwann hat er ‚Needle And The Damage Done‘ in seiner Solo-Version gespielt. Es war DER verdammte Moment. Es war einzigartig, völlig ungeschminkt. Nur dieser Typ, der den Song über seinen Freund sang, der ein Junkie war. Man konnte eine verdammte Stecknadel fallen hören, meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich sah Neil an und dachte nur: ‚Gottseidank lebt der Typ noch’. Ich bin ein Fan von Neil, seit ich 16 bin — und er hat es immer noch drauf. Das ist für mich sehr inspirierend: Wenn ich älter werde und mir ansehe, wer von meinen Helden noch echt ist und nicht diesen falschen Rockstar-Scheiß bringt. Das will ich.“
Am Ende unseres Interviews kommen wir noch Butlers Großvater Alvino Rey (1908-2004) zu sprechen. Rey (dem das Arcade-Fire-Album „Funeral“ gewidmet ist) war nicht ein nur renommierter Jazz-Gitarrist und Leader von Big Bands, sondern gilt auch als Vater der Pedal-Steel-Gitarre und als Pionier der elektrischen Gitarre, an deren Entwicklung er maßgeblich beteiligt war. Welchen Einfluss hatte sein Großvater auf ihn? „Ich habe alles von ihm gelernt. Er war wirklich sehr bescheiden, man musste ihm fast alles entlocken. Er baute den Prototyp der ersten E-Gitarre. Er war gut mit Leo Fender und Gibson befreundet. Er spielte mit Duke Ellington. Er war in den 1930er-Jahren einer von zwei Jazzgitarristen in New York City. Er spielte mit Elvis“.
Was Rey über Elvis erzählt habe? „Er mochte Elvis als Musiker sehr und hielt ihn für einen netten Jungen und einen tollen Performer“. Viel mehr als von Presley schwärmte sein Großvater aber von Duke Ellington: „Er sagte zu mir: ‚Wenn du nur die Möglichkeit gehabt hättest, in einen Club in Harlem zu gehen und Duke Ellington mit einer vierzigköpfigen Band zu sehen… du kamst rein, die Leute tanzten, die Akkorde waren der Wahnsinn, die Musik war das Raffinierteste überhaupt – und jeder der 40 Musiker war sagenhaft!
„Er ist für immer mein Held“, erzählt er abschließend von seinem Großvater. „Ich wünschte, er wäre noch hier. Ich könnte gerade sehr gut ein paar Ratschläge von ihm brauchen“.
ARCADE FIRE LIVE IN DEUTSCHLAND 2022 – DIE TERMINE
14. September 2022 Köln, Lanxess Arena
18. September 2022 München, Olympiahalle
29. September 2022 Berlin, Mercedes Benz Arena
Tickets für das Konzert gibt es unter anderem hier.