Wim Wenders im ROLLING-STONE-Interview: Meister des Sehens

Wim Wenders im Gespräch über seine Liebe zu Tokio, seinen Film „Perfect Days“ und stille Orte.

„Perfect Days“ begann ja mit der Anfrage, ob Sie nicht Lust hätten, eine Serie von kurzen dokumentarischen Filmen über die von renommierten japanischen Architekten und Designern entworfenen neuen Toilettenhäuschen im Tokioter Stadtteil Shibuya zu machen. Daraus ist dann keine Dokumentation geworden, sondern ein Spielfilm. Bei der Pressekonferenz in Cannes haben Sie dazu gesagt, die beste Art, einen Ort aufzuheben, sei die Fiktion.

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass das stimmt. Wenn man Dokumentarfilme sieht, in denen bestimmte Orte im Zentrum stehen – oder Menschen, die an solchen Orten arbeiten –, zerrinnt einem das leicht zwischen den Augen sozusagen, weil man es nicht an einer Geschichte festmachen kann. Irgendwann habe ich zum hundertsten Mal „Vertigo“ gesehen und gedacht: Es gibt keinen anderen Film über San Francisco, in dem man so gut versteht, wie die Stadt funktioniert, wie sie gebaut ist, wie das Lebensgefühl da ist, wie das Licht da fällt, als eben in „Vertigo“. Und „Vertigo“ ist ja eine krasse konstruierte Geschichte. Trotzdem war das San Francisco, das ich gut kenne, weil ich da mal gelebt habe – eine meiner absoluten Lieblingsstädte –, hier so gut aufgehoben wie in keinem Dokumentarfilm. Wenn ich San Francisco in einem einzigen Film erklären müsste, würde ich immer „Vertigo“ zeigen.

Von allen Hitchcock-Filmen sicher der, der sich am meisten auf einen Ort einlässt. Sein langsamster und kontemplativster Film. Wundert mich nicht, dass Sie den gerne mögen.

Da haben Sie recht. Ich weiß das mit den Orten und den Filmen ja nur zu gut aus eigener Erfahrung. Ich bin Mitte der Achtziger aus Amerika nach Berlin zurück mit dem Wunsch, vor allem diese Stadt in einem Film zu dokumentieren, horizontal und vertikal bis auf die Stunde null zurück. Ich habe eigentlich nur Figuren gesucht, die mir helfen würden, diesen Querschnitt zu machen. Und dann kamen die Engel ins Spiel, und dann wurde das plötzlich doch eine richtige Fantasy-Geschichte. Aus der dokumentarischen Idee wurde eine krasse Fiktion. Und in dieser Fiktion war mein Wunsch, Berlin gut „aufzuheben“, so Wahrheit und Wirklichkeit geworden, dass ich nicht weiß, welcher Film dieses Vor-der-Wende-Berlin, dieses West-Berlin, diese Insel West-Berlin sonst so gut gezeigt hätte. Das ist ein historisches Dokument – und zwar durch die Fiktion.

Man schaut anders auf die Welt, nachdem man „Der Himmel über Berlin“ oder auch „Perfect Days“ gesehen hat. Ihre Filme sind eine Art Sehhilfe. Man nimmt danach anders und genauer wahr.

Ich würde nicht widersprechen. (Lacht.) Nicht meinetwegen, sondern weil ich finde, dass Filme tatsächlich eine Schule des Sehens sind. Eine bestimmte Art von Filmen formt den Blick und tut das so schlüssig und einheitlich, dass man es tatsächlich, wenn man rauskommt, anwenden kann. Nicht für immer. Vielleicht hält es einen Tag lang an, das ist schon schön. Das passiert aber auch, wenn man zum Beispiel eine Retrospektive eines Malers gesehen hat. Ich erinnere mich, dass ich mal fast alle Bilder von Vermeer gesehen habe und danach tatsächlich eine Woche lang völlig anders in die Welt geguckt habe, tatsächlich anders gesehen habe. Große Maler sind auch große Lehrmeister, wie man schauen kann. Es gibt so viele verschiedene Arten, die Welt zu sehen, und die meisten Menschen nutzen diese vielen Möglichkeiten nicht, die das Sehen bietet, sondern jeder hat sich so irgendwie seine eigene gebaut. Kaum schaut man mal Fernsehen oder den falschen Film, weil man nicht aufpasst, und schon guckt man falsch in die Welt und aus der Wäsche.

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Passiert Ihnen das oft?

Ich habe es erst neulich wieder gemerkt, da habe ich bei meinem Nachbarn einen „Tatort“ geguckt. Er war alleine, weil seine Frau für zwei Tage weg war, und wollte ein bisschen Gesellschaft haben. Da habe ich mich neben ihn gesetzt und tatsächlich den „Tatort“ mitgeguckt, was ich eigentlich nie mache, weil ich gar keinen Fernseher habe. Und da habe ich mich reinziehen lassen, fast gegen meinen Willen. Danach musste ich richtig arbeiten, um diesen „Tatort“, also die Perspektive dieses Films auf die Welt, wieder aus meinem System rauszubekommen.

Was genau ist da passiert?

Wir haben eben zusammen geguckt und dann noch gequatscht und „Anne Will“ geguckt. Und als ich danach schlafen gehen wollte, habe ich gemerkt, dass ich diesen „Tatort“ noch voll im Kopf hatte, und zwar als „Sehsystem“, als Manier, auch selbst innerliche Bilder zu haben. Ich habe dann versucht, ganz intensiv was zu lesen, aber das visuelle Scheißsystem war immer noch da. Es hat sogar noch meinen Traum bevölkert. Ich bin in dieser Hinsicht leicht zu verführen. Ich darf einfach nicht hingucken. Ich kann eigentlich keinen Film sehen, ohne dass die Sprache des Films mich sozusagen vereinnahmt. Deswegen gehe ich auch aus Filmen manchmal raus, wenn ich das dann merke und nicht will. Das ging bei diesem „Tatort“ natürlich nicht. Ich will auch nicht generell etwas gegen diese Reihe sagen, aber diese spezielle Folge hat allem, was mir beim Sehen hoch und heilig ist, gespottet.

Wo Sie „hoch und heilig“ sagen: Paul Schrader hat Yasujiro Ozus Stil als „transzendental“ beschrieben. Würden Sie das über „Perfect Days“ oder andere Ihrer Filme auch sagen?

Ich fand, das war eine sehr gut belegte Theorie, dass Ozu mit seinen Filmen und seinen Bildern diese Familiengeschichten, die er erzählt, tatsächlich „transzendiert“ zu etwas Allgemeinerem, Gültigerem. Das gelingt nicht vielen Filmen. Schrader rechnet ja auch Bresson dazu. Dass Ozus Bild von der Welt tatsächlich diese Welt „durchdringt“ und eben übersteigt, sozusagen eine dahinter zeigt, eine wesentlichere oder wie man das auch immer sagen will, sodass ich in seinen Filmen auch meine eigene Familie erkannt habe, überhaupt die Familie selbst – das ist durchaus transzendental.

Wenders 2023 in Paris

Es steckt ja noch mehr dahinter, glaube ich. Dieses viel zitierte und für in einer westlichen Welt aufgewachsene Menschen schwer zu verstehende Mono no aware – das Pathos der Dinge, der Augenblick des Erstaunens, wenn man sich vergegenwärtigt, dass alles vergänglich ist, was dem Moment zugleich eine Schönheit und Melancholie gibt. Das spüre ich auch bei „Perfect Days“.

Das kann schon sein. In „Melancholie“ schwingt aber auch viel Wehmütiges mit. In der Melancholie des Hirayama ist eigentlich mehr Zufriedenheit.

Ja, wir können es nicht ohne Wehmut denken. Das ist vielleicht der kulturelle Unterschied.

Ja, Wehmut scheint mir doch etwas sehr Deutsches zu sein. (Lacht.) Wie Heimweh.

Diese Zufriedenheit Ihrer Hauptfigur bezieht sich jeweils auf den Moment. Hirayama scheint ganz in der Gegenwart zu leben. Auch weil er nicht mehr in seine Vergangenheit zurückschauen möchte.

Er hatte wohl mal ein „privilegierteres“ Leben und hat sich dann dafür entschieden, dieses andere Leben zu leben, in dem Bäume eine Rolle spielen oder die Sonne, Licht und Schatten, in dem Kleinigkeiten für das Ganze stehen und Zufriedenheit nur da sein kann, wenn man nicht zu viele Besitztümer hat. Dabei ist die Zufriedenheit des Hirayama eine ziemlich komplette, weil er alles hat, was er braucht. Das konnte man bestimmt nicht sagen in dem ersten Leben, das er geführt hat. Da hatte er mehr, als er brauchte, und damit war er nicht zufrieden.

Manchmal holt ihn die Vergangenheit ein. Aber das Drama bleibt unter der Oberfläche, wird nur angedeutet. Der Film bleibt ganz eng am Moment, nimmt den Blick Ihrer Hauptfigur an.

Das stimmt. Die Kamera tut sehr viel, um Hirayama zu sein und Hirayama nahezukommen. Zum Beispiel durch das Filmformat, das ja heute eher ungewöhnlich ist – 4:3. Es gibt ein paar Filme in letzter Zeit, die dieses alte Filmformat haben, in dem die Breite nur ein wenig mehr ist als die Höhe. In unserem Fall war das sehr angemessen. Wenn man die Räume, in denen Hirayama sich aufhält, in Cinemascope gedreht hätte – seinen eigenen kleinen Tatami-Raum, aber auch die Toiletten –, hätte man nie den Boden gesehen. Also für die Welt, in der er arbeitet und lebt, war dieses alte Filmformat angemessen. Das ist ja eigentlich fast noch ein Stummfilmformat. Bis in die 40er-Jahre war das ein gängiges Format. Das Format allein ist schon ein bisschen ein Eingehen auf Hirayama und seine Welt. Und es war auch Ozus bevorzugtes Filmformat.

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Man kommt Hirayama nicht nur optisch nahe, sondern auch durch die Musik: die Kassetten, die er in sein Auto-Tapedeck schiebt, wenn er sich auf den Weg zur Arbeit macht. Wobei ich das Gefühl habe, da auch Sie selbst zu erkennen. Da kommen viele Lieder von Künstlerinnen und Künstlern vor, die Sie ein Leben lang begleitet haben: die Kinks, Patti Smith, die Rolling Stones, Velvet Underground …

Ich habe mich vergewissert, dass Koji Yakusho die Stücke auch kannte, und mein japanischer Co-Autor, Takuma Takasaki, hat mir Stein und Bein geschworen, dass die Sachen, die wir da ins Drehbuch geschrieben haben, tatsächlich relevant wären für jemand, der in Japan in den 70er-Jahren aufgewachsen ist. Und auf das Nina-Simone-Stück am Ende hat unser Darsteller sich ganz besonders vorbereitet, weil er wusste, das läuft über die letzte Einstellung des Films – das ist sozusagen „Hirayama’s life in a nutshell“, kondensiert.

„It’s a new dawn/ It’s a new day/ It’s a new life/ For me/ And I’m feeling good“, heißt es in dem Song. Ein Lebenslied. Für Sie scheint ja der Song, der dem Film den Titel gab – Lou Reeds „Perfect Day“ –, ein Lebenslied zu sein. Bereits in Ihrem letzten Spielfilm, „Die schönen Tage von Aranjuez“, hört man ihn zu Beginn.

Ja, das ist einer der größten Songs, die Lou Reed geschrieben hat.

In Ihren Filmen sind Reeds Lieder öfter aufgetaucht, und er selbst sogar auch. Sie zeigen eine Seite von ihm, die uns – vor allem uns Journalisten – in den oft etwas unangenehmen Begegnungen mit ihm eher verborgen blieb: Sie zeigen ihn als spirituellen Menschen.

Ich weiß auch nicht, worin sein angespanntes Verhältnis zur Presse begründet war. Lou Reed hat mir viel über seinen Kampfsport Tai-Chi erzählt. Er hat ihn auch betrieben, als er beim Dreh von „Faraway, So Close!“ in Berlin war, und ich habe in unserem Haus einen Raum gefunden, wo er das ungestört machen konnte und den nötigen Platz dafür hatte. Ich durfte auch daneben auf der Matte meine eigenen Übungen machen, die nicht so martialisch waren und nicht so viel tatsächliches Können verlangt haben. Lou hat sich da zu einem solchen Knäuel machen können, dass ich nur gestaunt habe, dass ein Mensch so ein kompaktes Häuflein werden kann. Er hat Tai-Chi sehr geliebt, und es hat ihm sehr viel gegeben in seinem Leben. Und gerade bei diesen asiatischen Sportarten sind ja Lebens- und Weltanschauung sehr miteinander verbunden. Das ist auch eine Form der Meditation, und diese wiederum ein Versuch, einen geistigen Raum zu erreichen. Lou war auf jeden Fall ein sehr spiritueller Mensch. Was bei einem Rock’n’Roll-Star, der er ja auch war, mitunter wohl dazu geführt hat, dass er in Interviews schwierig war. Da musste er ja beides auf einmal sein …

Foc Kan WireImage
Andreas Rentz Getty Images
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