Wim Wenders im ROLLING-STONE-Interview: Meister des Sehens

Wim Wenders im Gespräch über seine Liebe zu Tokio, seinen Film „Perfect Days“ und stille Orte.

Für „Perfect Days“ erhielt Wim Wenders erstmals eine Oscar-Nominierung für den „besten internationalen Film“ (Japan). Zuvor war er dreimal erfolglos für den Doku-Oscar nominiert. Lesen Sie hier unser Porträt aus der Ausgabe 12/23. Da konnte Wenders von seinem bevorstehenden Glück noch nichts wissen (hoffen aber schon).

Es ist über vierzig Jahre her, dass Wim Wenders zum ersten Mal nach Tokio reiste. Damals mit der Absicht, für seinen Film „Tokyo-Ga“ den Spuren des 1963 verstorbenen Regisseurs Yasujiro Ozu zu folgen, dessen stille Familiendramen, die er von den späten 20er-Jahren bis zu Beginn der Sechziger inszenierte, ein Spiegel der japanischen Gesellschaft waren. Doch die erste Konfrontation mit der Megacity der 80er-Jahre war für Wenders ein Schock. Es brauchte noch viele Besuche, um hinter der blinkenden und vom Verkehr umwuselten Fassade das Japan Ozus zu finden. In seinem neuen Film zeigt er es uns nun.

„Perfect Days“ erzählt die Geschichte eines Mannes jenseits der sechzig. Hirayama, benannt nach der Hauptfigur aus Ozus letztem Film, „Ein Herbstnachmittag“, hat eine von Leid und Dunkelheit durchzogene Existenz hinter sich gelassen, um in der japanischen Hauptstadt ein ritualisiertes, einfaches und glückliches Leben als Reinigungskraft für öffentliche Toiletten zu führen. Er sammelt Kassetten mit der Musik seiner Jugend, fotografiert das Sonnenlicht, das durch das Blätterwerk der Bäume scheint (in Japan gibt es ein Wort dafür: Komorebi), zieht in seiner spartanischen Wohnung Setzlinge auf und liest Bücher von William Faulkner, Patricia Highsmith und Koda Aya. Wenders folgt ihm mit einem empathischen Blick, der mehr zeigt als das Leben eines Mannes: Er zeigt das Individuum als Teil eines großen gesellschaftlichen Organismus, der nur durch Achtsamkeit und Solidarität jedes Einzelnen blühen kann. „Perfect Days“ ist der Film eines alten Meisters, der uns als Zuschauer das Sehen und den Umgang miteinander neu lehrt.

„Perfect Days“ geht für Japan ins Rennen um den Auslands-Oscar. Bedeutet Ihnen das etwas?

Das ist ziemlich außergewöhnlich. Ich habe auch neulich in Leipzig den Gilde-Preis der Filmkunsttheater gewonnen. Das ist mir in meinem Leben zwar schon ein paarmal passiert, aber für meine deutschen Filme halt. Diesmal war es für den besten ausländischen Film. Das war mal ein ganz neues Lebensgefühl: Ich komme als Ausländer wieder.

Ein Fremder im eigenen Land. Und ein Vertrauter in einem fremden Land. Sie sind der erste nichtjapanische Regisseur überhaupt, der von der Motion Picture Producers Association of Japan für den Oscar nominiert wird.

Das ist natürlich so zu erklären, dass mein Hauptdarsteller Koji Yakusho ein großer Held in Japan ist, der mit dem Schauspieler-Preis in Cannes zum ersten Mal eine internationale Anerkennung bekommen hat, worüber sich ganz Japan wie Bolle gefreut hat. Die haben die Preisverleihung sogar mehrfach im Fernsehen wiederholt. Und als er nach Hause kam aus Cannes, waren tausend Leute am Flughafen, um ihn zu empfangen. Ich glaube daher, dass ich diesem Umstand die Nominierung des Films verdanke.

Wim Wenders

Was macht denn den Film – abgesehen vom Produzenten, Hauptdarsteller und Drehort – noch zu einem japanischen Film?

Die Haltung, mit der er erzählt wurde. Wir haben ja nicht versucht, über diesen Mann namens Hirayama einen Film zu machen, sondern mit ihm. Und wir haben vieles von dem, was er in dem Film repräsentiert, auch verinnerlicht. Seine Aufmerksamkeit für Details. Oder seinen Minimalismus. Reduktion war für den Film ein großes Thema. Wir haben das Ganze nur von der Schulter von Franz Lustig gedreht. Keine Schienen, kein Dolly, kein Gimbal, keine Steadicam, kein Kran, kein gar nichts. Nur die Schulter eines Breisgauers.

Nicht nur die Mittel sind reduziert, der Blick des Films und der der Hauptfigur sind es auch.

Richtig. Ich musste ja vermeiden, einen Touri-Film zu machen. Das kann einem sehr schnell passieren. Als ich das erste Mal da gedreht habe, 1982, war „Tokyo-Ga“ der Film eines Besuchers in Japan. Damals war Tokio noch ein bisschen Science-Fiction für mich. Und ich war auf den Spuren meines großen Meisters, des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu, unterwegs, der zwanzig Jahre vorher gestorben war. Und da ist mir halt auch all das aufgefallen, was jedem deutschen Touristen das erste Mal auffällt. Das war also genau vierzig Jahre her, und inzwischen kannte ich Japan auf eine andere Art und Weise und wollte eine Geschichte erzählen, die auch von japanischen Tugenden handelt, also von dem ausgeprägten Sinn für das Gemeinwohl und von der Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge. Das ist beides sehr japanisch. Und beides liegt mir am Herzen. Das heißt, ich habe in vieler Hinsicht Japan in den Film hineingedacht und mich hineinbegeben. Und dadurch, dass außer Franz, meiner Frau und mir sonst niemand aus Deutschland beim Drehen dabei war, waren wir komplett von Japanern umgeben. Und unser Hauptdarsteller war natürlich Japan selbst. Ein Darsteller ist ja viel mehr im Auge des Zuschauers als Regie, Auflösung, Musik oder Licht und was weiß ich.

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Was hat denn Ihr Bild von Japan verändert, nachdem Sie 1982 zum ersten Mal da waren?

„Tokyo-Ga“ tat ja so, als würde er eine Arbeit von Ozu zwanzig Jahre später weiterverfolgen und sein akribisches Aufzeichnen aller Veränderungen Tokios und der japanischen Gesellschaft ins Japan der Gegenwart fortsetzen. Für den Film haben wir auch den Schauspieler ausfindig gemacht, der tatsächlich in allen Ozu-Filmen über 35 Jahre – bis auf einen, wo er mal krank war – mitgespielt hat, den Ryu Chishu. Der hat uns für den Film damals ein langes Interview gegeben. Später habe ich mit ihm auch noch „Bis ans Ende der Welt“ gemacht, wo er eine schöne Rolle gespielt hat. Über ihn und über den langjährigen Kameramann von Ozu, Yuharu Atsuta, habe ich viel über Japan gelernt. Auch über Reduktion. Atsuta hat uns vorgeführt, wie sie die Filme gedreht haben. Er hat mir auch ein großes Geschenk gemacht.

Was war das für ein Geschenk?

In „Tokyo-Ga“ zeigt er uns unter anderem dieses verrückte optische Instrument, mit dem Ozu immer auf seine Motivsuche gegangen ist, durch das er geguckt hat, um seine Motive zu finden. Das hat er sich extra bauen lassen, ein kleines mechanisches Gerät, gar nicht mal so aufwendig. So was hatte ich vorher noch nie gesehen. Ein kleines Rohr, an dem man die Brennweite einstellen kann und auch das Format des Films. Und dann konnte man da durchgucken und hat die Einstellung korrekt gesehen. Später im selben Jahr noch ist Yuharu Atsuta gestorben. Und ein Jahr später habe ich ein Paket aus Tokio bekommen mit einem Brief von einem Anwalt drin, und da hieß es, im Testament von Yuharu Atsuta wäre ausdrücklich vermerkt gewesen, dass ein Besitztum von ihm an mich weitergeleitet werden sollte. Und das war dieser Motivsucher! Das ist ein kleines Heiligtum, was jetzt in meinem Arbeitszimmer seinen Sonderplatz hat.

Aber den haben Sie selbst nie benutzt?

Das war mir zu kostbar, um es als Gebrauchsgegenstand zu nutzen. Zudem ist es tatsächlich heute viel einfacher, durch das Objektiv, das man benutzt, seine Einstellung zu sehen als durch ein optisches Gerät, das das Motiv dann nur ungefähr wiedergibt. Die präsentesten Motive dieses so von der japanischen Kultur beeinflussten Films sind – neben dem Gesicht Ihrer Hauptfigur – Toiletten. Was macht denn die Toilette zu einem japanischen Ort? In einer Toilette ist man per se allein. Zumindest ist man im besten Fall dort gerne allein. Die Toiletten, wo man nicht allein ist, sind unangenehme Erfahrungen. Als Kind oder Pfadfinder habe ich das erlebt, dass man mit mehreren auf so einem Balken gesessen ist. Wenn man Glück hat, ist die Toilette sauber und es gibt ein angenehmes Licht. Und wenn man noch mehr Glück hat, kommt man für einen Moment zur Besinnung. Deswegen ist das schöne deutsche Wörtchen vom ‚stillen Örtchen‘ auch ein Sehnsuchtswort. Man hätte es so gerne, dass es das stille Örtchen wäre. Meistens ist es das nicht.

Wim Wenders und sein Freund Peter Handke

Ihr Freund Peter Handke hat im „Versuch über den Stillen Ort“ geschrieben, dass er erst auf der Tempeltoilette von Nara überhaupt heimisch wurde in der japanischen Kultur.

Das muss ich ihm erzählen, dass Sie mir das gesagt haben, weil ich kaum jemanden kenne, der das Büchlein kennt. „Still“ hat ja viele Wortbedeutungen. Es heißt sowohl „ruhig“ als auch, dass man zu sich kommt. Also ist es in der weitesten Deutung auch ein meditativer Ort. Und das ist es in Japan viel mehr als hier bei uns, das heißt: die Qualität der Toilette als etwas, wo man für einen Moment ganz bei sich ist, nicht nur weil man ein Geschäft verrichten will, sondern auch weil drum herum viel los ist und man in einer Großstadt ist oder aus dem hektischen Büro kommt und dann auf einmal Ruhe im Karton ist. Und das ist in unseren japanischen Toiletten zum Beispiel allein schon dadurch gegeben, dass man sich nicht auf einen kalten Sitz setzt. Der ist tatsächlich geheizt! Das kann durchaus ein richtiges Glücksgefühl sein. Und man benutzt kein verdammtes Papier. Stattdessen gibt es eine kleine Dusche, bei der man Intensität und Temperatur einstellen kann. Wenn man sich da mal dran gewöhnt hat, kann man sich auf so einer Toilette richtig gut aufgehoben und umsorgt fühlen. Bei uns kommt schnell das Wort „Notdurft“ ins Spiel – in Japan ist es ungefähr das Gegenteil.

Arnold Jerocki Getty Images
Manfred Schmid Getty Images
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