Wild Thing
Auf eine abenteuerliche Kindheit folgten eine noch erstaunlichere Karriere und ein viel zu früher Tod. Jimi Hendrix beherrschte die Gitarre wie kein anderer, doch sein Leben bekam er kaum in den Griff.
Jimi Hendrix wird schon als kleiner Junge in der Nachbarschaft hochgenommen, weil er ständig den Besen zweckentfremdet. Seine erste Gitarre hat nur eine Seite, also muss er die entsprechenden Soli mündlich imitieren. Er kann das auch. Er trägt das Instrument quer über den Rücken spazieren, mit der Kopfplatte nach unten, wie er das bei Sterling Hayden in Nicholas Rays Kinofilm „Johnny Guitar“ gesehen hat. Ein Showmann ist er schon lange vor seiner Karriere. Dass es dann tatsächlich eine Karriere gibt, ist ebenso folgerichtig wie unmöglich. Das alte Außenseiter-Paradox: Du hast keine Chance, also nutze sie!
Al Hendrix ist Tagelöhner und erfolgloser Amateurboxer und ein manischer Tänzer, der die Nachtclubs in Seattle unsicher macht. In einem arbeitet Lucille. Sie ist Sängerin, noch minderjährig, sieht aber nicht so aus. Al schwängert sie, die beiden heiraten, ein paar Tage später zieht er in den Krieg. Am 27. November 1942 kommt ihr Sohn zur Welt, Johnny Allen Hendrix. Aber Lucille ist zu jung, flatterhaft, trinkt zu viel, so dass ihr Sohn bald in der Verwandtschaft herumgereicht und schließlich von zwei barmherzigen Glaubensschwestern aufgenommen wird. Dann kehrt Al heim und holt sich den Sohn zurück, gegen dessen Willen. Auf der Fahrt nach Hause bekommt er seine erste Tracht Prügel vom Vater, der noch viele folgen werden. In einem weiteren Akt väterlicher Gewalt lässt Al den Namen seines Sohnes ändern. Er heißt jetzt James Marshall Hendrix. Jimmy!
Al ist ein harter Brocken, die Ehe zwischen ihm und Lucille ein Desaster. Beide saufen, treiben sich herum, haben Affären, kommen aber nicht los voneinander. Selbst als sie längst geschieden sind, treibt sie irgendeine animalische Anziehungskraft immer wieder aufeinander zu. Sie haben weitere Kinder, mehrere davon behindert, alle werden irgendwann weggegeben zu Pflegeeltern.
Jimmy jedoch idealisiert seine Mutter. Sie repräsentiert das hedonistische Prinzip, Liebe und Nonkonformismus, während Al den harten Macker und Bonsai-Tyrannen markiert. Als sie Anfang 1958 wegen einer schweren Leberzirrhose ins Krankenhaus kommt und bald darauf an einem Milzriss stirbt, verbietet Al seinen Söhnen, an den Trauerfeierlichkeiten teilzunehmen. Noch etwas, das sein Sohn ihm nie verzeihen wird.
Bei einer solchen Kindheit liegt es fast schon zu nahe, in der Gitarre den großen Blitzableiter zu sehen. Die Platten des Vaters, Muddy Waters, Elmore James, Howlin‘ Wolf, Ray Charles und all die anderen setzen den kleinen Hendrix auf die richtige Fährte. Vor allem Muddy Waters: „Als Junge habe ich eine seiner frühen Platten gehört, und sie hat mich zu Tode erschreckt. Ich habe diese ganzen Klänge gehört und nur gedacht: Wow, was geht hier ab? Es war einfach gigantisch.“
Er überredet seinen Vater, ihm eine elektrische Gitarre zu kaufen, und schließt sich den Velvetones an, einer lokalen Highschool-Band, die mit Top-Ten-Standards auf Schulfesten die Petticoats fliegen lässt. Danach folgen die Rocking Kings. Hendrix erweitert stetig sein Repertoire, hinter dem Rücken spielen kann er auch schon. 1960 ist er Leadgitarrist bei Thomas And The Tomcats und steht auf der Bühne des Spanish Castle, einem der wichtigen Rhythm’n’Blues-Clubs im Nordwesten. Aber die Gage reicht kaum für den Sprit. Al verliert die Geduld, sein Sohn soll arbeiten. Aber der will nicht. Als er zum zweiten Mal ohne Führerschein in einem gestohlenen Wagen erwischt wird, kommt er um eine Gefängnisstrafe nur herum, weil er sich für drei Jahre bei der Army verpflichtet.
Er geht zu den Fallschirmspringern der 101st Airborne Division, den „Screaming Eagles“, die wegen ihrer Einsätze im Zweiten Weltkrieg einen legendären Ruf genießen. „Es ist ganz schön hart“, schreibt er Al, „aber ich kann mich nicht beschweren, und ich bereue es nicht … jedenfalls jetzt noch nicht.“ Schon bald nach der Grundausbildung lässt er sich die Gitarre hinterherschicken. Mittlerweile ist es eine Danelectro Silvertone mit dem selbst angebrachten Schriftzug „Betty Blue“, dem Namen seiner Verlobten, die er in Seattle auf Nimmerwiedersehen zurückgelassen hat. Er trifft Billy Cox, der einen E-Bass dabei hat. Mit ihm und einigen anderen Soldaten gründet er die King Kasuals, die bald die umliegenden Clubs unsicher machen. Obwohl er stolz auf die bestandene Fallschirmspringerausbildung ist – zum ersten Mal hat er etwas geleistet, das auch sein Vater anerkennen muss -, macht ihn das stupide Soldatenleben mürbe. There must be some kind of way outta here … Gerüchten zufolge soll er homosexuelle Neigungen vorgetäuscht haben, um frühzeitig entlassen zu werden. Vielleicht stimmt aber auch die offizielle Begründung: Rückenprobleme und ein gebrochener Fußknöchel.
Er geht mit Cox nach Nashville, reformiert die King Kasuals, trifft auf B.B. und Albert King. Von letzterem übernimmt er die um einen Halbton tiefere Gitarrenstimmung. „Im Süden ist das Publikum besonders anspruchsvoll, die haben andauernd Musik um die Ohren“, erinnert sich Hendrix später. „Man geht die Straße runter, und die Leute sitzen auf ihrer Veranda und spielen Gitarre. In Nashville habe ich wirklich spielen gelernt.“ Und obwohl im Country-Mekka niemand so recht auf ihren lauten, dreckigen Rhythm’n’Blues gewartet hat, werden sie oft gebucht. Eine gute Vorbereitung für den Chitlin‘ Circuit, die obligatorische Ochsentour jeder schwarzen Band, die es schaffen will.
Aber Hendrix ist unzufrieden. Auch mit neuem Namen, The Barnevilles, stellt sich der Erfolg nicht ein. Er verdingt sich nebenher als Aushilfsgitarrist bei diversen anderen Gruppen, bekommt die Chance, als Sideman von Otis Redding auf Tour zu gehen, und wird bald darauf auch von dem Saxofonisten Lonnie Youngblood als Sessiongitarrist für Plattenaufnahmen gebucht. Dann erhält er ein Angebot von einem Veranstalter aus New York. Er trennt sich von Billy Cox und der Band und zieht nach Harlem, fühlt sich aber nicht heimisch in der rigiden black community. Vielleicht auch weil sein musikalischer Horizont schon damals viel weiter ist. Der weiße Rock’n’Roll von Elvis, Chuck Berry und den Beatles affiziert ihn sehr. In Harlem sagt man so etwas besser nicht zu laut. Er schlägt sich so durch, beweist dann aber ein Händchen für Frauen, die ihm behilflich sein können. Das wird ihm später noch nützen. Fayne Pridgeon, frühere Gespielin von Sam Cooke, Otis Redding und James Brown, knüpft Kontakte für ihn und bringt ihn bei einem Talentwettbewerb im Apollo Theater unter. Hendrix gewinnt.
Jetzt werden auch die Isley Brothers, ein Top-Ten-Vokaltrio, auf ihn aufmerksam. Sie nehmen ihn mit ins Studio und auf Tour. Sein Ruf als Gitarrist spricht sich herum. Little Richard engagiert ihn. Hendrix könnte sich glücklich schätzen, aber er ist viel zu ehrgeizig, um als Sideman sein Leben zu fristen, also quittiert er bald den Dienst und versucht sich, zurück in New York, an eigenen Songs. Und als er erstmals Bob Dylan hört, hegt er sogar Hoffnungen, diese selbst singen zu können. Er verlegt seinen Lebensmittelpunkt nach Greenwich Village, dem drogenverseuchten Hipsterzentrum der Stadt, und arbeitet weiterhin als Sessiongitarrist, nicht zuletzt für den mediokren Soulman Curtis Knight. Der bringt ihn mit dem Produzenten Ed Chalpin zusammen, und wie es unerfahrene Muckergreenhorns immer schon getan haben, unterschreibt er den fatalen One-Dollar-Knebelvertrag, ohne den das „Band Of Gypsys“-Album fünf Jahre später nie erschienen wäre.
Mit wachsendem Selbstbewusstsein – bei einem Soloauftritt in der Kellerkaschemme Café Wha? spielt er die Anwesenden förmlich über den Haufen – formiert er seine eigene Band: Jimmy James And The Blue Flames. Bald gilt er mit seinen überdrehten, von langen Fuzz-Soli tranchierten Coverversionen von Hits wie „House Of The Rising Sun“, „Like A Rolling Stone“ und „Wild Thing“ als Geheimtipp unter Musikern. Das Geraune dringt an das Ohr von Mike Bloomfield, den man für seine stilistischen Grenzüberschreitungen bei der Butterfield Blues Band gerade als Gitarrenhelden feiert. Er wittert Konkurrenz und sieht sich Jimi an, im Cheetah, Café Wha? oder im Café Au Go Go. „Hendrix wusste, wer ich war, und an jenem Tag hat er mich regelrecht abgefackelt. Ich kann gar nicht beschreiben, welche Geräusche er seiner Gitarre entlockte. Atombomben fielen, Marschflugkörper flogen durch den Raum.“ Bloomfield war beeindruckt.
Linda Keith nicht minder. Das „Vogue“-Modell ist eigentlich noch mit Keith Richards liiert. Nicht mehr lange. Wieder lässt eine Geliebte für Hendrix ihre Beziehungen spielen. Sie schleppt den Stones-Manager Andrew Loog Oldham in eins der Konzerte, aber der wittert zu Recht Ärger mit seinen Schützlingen, also muss sich Noch-Animals-Bassist Chas Chandler diesen gitarristischen Wunderknaben ebenfalls ansehen, und der ist sofort begeistert. Chandler hat keine Lust mehr auf das Musikzigeunerleben und will als Produzent richtig Geld verdienen. Hendrix bringt offensichtlich genügend kommerzielles Potenzial auf die Waage, also überredet er ihn, mit nach Swinging London zu kommen, dem Musik-Dorado der Sechziger, um von hier aus die freundliche Übernahme der Rockwelt ins Werk zu setzen.
Aus Jimmy James wird Jimi Hendrix, und noch bevor mit Noel Redding und Mitch Mitchell seine Band The Jimi Hendrix Experience richtig handlungsfähig ist, hat er London bereits in der Tasche. Chandler besorgt ihm einen Gastauftritt beim Debütkonzert der als Supergroup gehypten Cream. Und nachdem Hendrix Eric Clapton vor den Augen aller gezeigt hat, was man mit Howlin‘ Wolfs „Killing Floor“ so alles anstellen kann, ist der die längste Zeit „God“ gewesen.
Gemeinsam mit Mike Jeffery, ihrem durchsetzungsfähigen, skrupellosen Manager, besorgt Chandler der Experience einen Plattendeal mit dem neu gegründeten Label Track Records. Vorher geht es nach Frankreich, wo sie ihre musikalische Feuertaufe im Vorprogramm von Johnny Hallyday bestehen, danach ins Studio, um die erste Single aufzunehmen. Den aktuellen Leaves-Hit „Hey Joe“ hat Hendrix schon in New York im Programm gehabt, seine düstere, sinistre Version soll den gewünschten Auftakt mit Aplomb bringen. Und nach dem fulminanten Auftritt in der Fernsehshow „Ready Steady Go“ Ende 1966 und ein paar begleitenden Schmiergeldzahlungen an wichtige Radio-DJs gelingt das auch. Auf der B-Seite zeigt er mit „Stone Free“ bereits, dass mit ihm auch als Songwriter zu rechnen sein wird.
Bis April 1967 nimmt man immer neue Songs auf, unterbrochen von kleineren Konzertreisen quer durch Europa, die für Furore sorgen wegen Jimis unorthodoxer Handhabung der Strat. Er bricht ihr des öfteren den Hals, aber das konnte ja auch Pete Townshend schon. Also geht sie – ein ganz abgekartetes Spiel – im Londoner Astoria erstmals auch in Flammen auf. „Let me stand next to your fire …“
Nach zwei weiteren Singles, „Purple Haze“ und „The Wind Cries Mary“, erscheint im Mai endlich das Debütalbum „Are You Experienced“ – und jetzt erst kann man wirklich zur Gänze nachvollziehen, was er über die flamboyante Live-Zirkusnummer hinaus musikalisch zu bieten hat.
Hendrix ist der erste wirklich moderne Rockgitarrist. Er nutzt wie kein anderer vor ihm die elektroakustischen Entwicklungen der Zeit und emanzipiert den Sound, das bloße Geräusch, stellt es der Note gleichberechtigt an die Seite. Seine wilden Tremolo-Exzesse, Feedback-Eskapaden, die Phasing-, Flanging- und Panorama-Effekte, seine Distortion-Kakophonien haben vor allem diesen Zweck: die klassische tonale Struktur zu entgrenzen. Er impft seiner Stratocaster zudem einen Personalstil ein, dessen Reichtum an Spieltechniken, Klangfarben und Effekten weit über das hinausgeht, was die Rockgitarre sich bis dahin geleistet hat. Nachfolgende Generationen konnten das nicht mehr wirklich qualitativ erweitern, nur noch einholen. Und sogar damit ist es so eine Sache. Hendrix‘ Spiel und Sound sind so unverkennbar, dass seine vielen Adepten (Randy Hansen, Robin Trower, Uli Jon Roth etc.) fast immer das strenge Odeur der Epigonalität verbreiten.
„Are You Experienced“ macht Hendrix endgültig zum Star in Europa. Jetzt stehen die USA auf dem Welteroberungsplan. Und auch seine Heimat nimmt er im Handstreich. Seine akustischen Aufzeichnungen von „körperlichen Aggregatzuständen“ und „Vermischungs-Räuschen“ (Klaus Theweleit) sind der kongeniale Soundtrack zum „Summer of Love“. Er ist für das Monterey Pop Festival gebucht, und Hendrix weiß, was auf dem Spiel steht. Es sind nicht nur 90.000 Zuschauer vor Ort, ABC-TV überträgt den Spaß, und D.A. Pennebaker dreht auch noch einen Konzertfilm. „Heute Abend wird das Raumschiff abheben“, verspricht er vor dem Konzert und hält Wort. „Jimi Hendrix, baby believe me, set the world on fire, yeah“, wird Eric Burdon nur kurze Zeit später in „Monterey“ singen. Und er meint damit nicht allein das neuerliche Autodafé, diesmal bei „Wild Thing“.
Konzert folgt nun auf Konzert, sie spielen ein paar grandiose Sets in Bill Grahams Fillmore West, dann schickt Jeffery die Experience auf eine desaströse Tour mit den Monkees, die nach fünf Gigs abgebrochen wird, weil die vielen kleinen Kinder unter den Zuschauern Angst bekommen vor dem bösen schwarzen Mann. Hendrix zieht es ins Village, er jammt viel, mit Frank Zappa, B.B. King, Al Kooper. Dann geht es auch schon zurück nach England und auf ausgedehnte Europatour. Zwischendurch spielt man die restlichen Songs für das zweite Album „Axis: Bold As Love“ ein.
Langsam hört der Spaß auf. Es wird echte Arbeit. Ohne chemische Unterstützung geht längst nichts mehr, und die Dosierung steigt. Jetzt kommt auch noch Alkohol dazu. In Göteborg klinkt Hendrix zum ersten Mal aus, zerlegt in unbändiger Wut ein Hotelzimmer und muss in die Ausnüchterungszelle. „Ich würde gern mal sechs Monate Ruhepause einlegen und auf die Musikhochschule gehen.“ Aber Jeffery und Chandler treiben ihn weiter an, ab Februar 1968 ist er erneut in den USA, diesmal auf Headliner-Tour. Die Veranstalter reißen sich um ihn, er spielt nur in den größten Hallen, kassiert Rekordgagen. Aber seine Bühnenexzesse beginnen ihn mittlerweile zu langweilen. Und die Erwartungshaltung der Zuschauer ist nicht kleiner geworden. Verbrennt er sie heute?
Auch musikalisch will er sich entwickeln, das Powertrio-Konzept transzendieren. Er lädt zum Leidwesen der Band und des Managements immer wieder andere Musiker zu Sessions ein, verbraucht enorme Mengen Studiozeit im New Yorker Record Plant. Einmal weil die Aufnahmenächte oft eher Partycharakter haben, zum anderen auch weil er mit dem Mixer Eddie Kramer und dem Elektronikfex Roger Mayer zwei kongeniale Klangforscher an seiner Seite hat, die mit ihm auf Expedition gehen. So lässt das neue Studioalbum weiterhin auf sich warten. Das Label Track schiebt erst mal ein Sammelalbum dazwischen, „Smash Hits“. Und jetzt meldet sich auch noch Ed Chalpin mit seinem Ein-Dollar-Vertrag aus einer anderen Ära. Er klagt, will Geld sehen und veröffentlicht eine Hendrix/Knight-Session nach der anderen. Der Ausverkauf beginnt bereits zu Lebzeiten.
Enerviert und enttäuscht von den künstlerischen Alleingängen „seiner“ Entdeckung, schmeißt Chas Chandler das Handtuch und lässt sich von Jeffery ausbezahlen. Redding steht ebenfalls schon mit einem Bein vor der Tür, hat nur noch seine eigene Band Fat Mattress im Kopf. Die internen Reibereien machen sich jetzt auch auf der Bühne bemerkbar. Denn selbstredend sind sie längst wieder on the road. Jeffery hat neuerlich eine ausgedehnte US-Tour zusammengestellt. Da erscheint „Electric Ladyland“, im Herbst 1968, und der enorme Erfolg dieses Albums (Nummer eins in den USA) trägt sie noch ein Stückchen weiter. Die anschließende Europa-Tour offenbart dann aber die Abnutzungserscheinungen überdeutlich. Nicht nur Hendrix‘ Gitarre ist ständig out of tune. Aber die Kasse stimmt. Mit den anschließenden 29 US-Konzerten spielt die Band 1,3 Millionen Dollar Gage ein. Dann ist Schluss. Beim Denver Pop Festival Ende Juni 1969 verkündet Hendrix offiziell das Ende der Experience.
Die musikalischen Möglichkeiten der Trio-Formation scheinen ihm ausgeschöpft, offenbar angeregt von Santana will er sich an einem offeneren, rhythmisch gewiefteren, auch Latin-Elemente integrierenden Sound versuchen und dafür benötigt er eine größere Band – die Gypsy Sun And Rainbows. Hendrix zieht sich aufs Land zurück und rekrutiert seinen alten Armee-Kumpel Billy Cox, den Rhythmusgitarristen Larry Lee, zwei Perkussionisten. Buddy Miles soll den Platz am Schlagzeug einnehmen, aber der ist mit seiner eigenen Band Buddy Miles Express ausgelastet. Also holt Hendrix Mitch Mitchell zurück. Ein neues Festival steht vor der Tür, und das soll alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Monterey im Quadrat.
Hendrix ist der Headliner auf der Woodstock Music & Art Fair, spielt also zum Schluss. Als er am frühen Montagmorgen nach drei Tagen Ausnahmezustand endlich anfangen kann, sind von der geschätzten halben Million Besuchern allenfalls noch 40.000 da. Obwohl die Band todmüde ist, sie hat sich die ganze Nacht im ungeheizten Musiker-Pavillon mit akustischen Jams und illegalen Substanzen warm- und wachgehalten, zeigt sie sich engagiert, spielfreudig und macht so zumindest quantitativ wett, was sie qualitativ nicht einlösen kann. „Die Band war grauenhaft“, meint Mitchell später, „ein einziges Durcheinander.“ Nach gut anderthalb Stunden Spieldauer lichten sich die Reihen allmählich, die Zuschauer sind am Ende. Noch einmal aus der Reserve gelockt spielt Jimi seine gleißend dissonante Version von „Star Spangled Banner“.
Alle haben diese 3:21 Minuten als kritische Stellungnahme gegen den Vietnam-Krieg interpretiert. Intendiert ist das sicherlich nicht, jedenfalls hat Hendrix nie dergleichen verlauten lassen. Seine Bemerkungen über Vietnam kennzeichnen ihn keineswegs als flammenden Kriegsgegner, im Gegenteil. Außerdem hat Hendrix seine vermeintlich „zerstörerische“ Version der amerikanischen Nationalhymne seit ziemlich genau einem Jahr im Programm, aber so richtig scheint es vorher keinem aufgefallen zu sein, dass dieses aus Feedback-, Tremolo- und Delay-Effekten zusammengehauene Krachgebilde nach schwerem Militärgerät klingen und angeblich die verbrecherische US-Intervention in Vietnam entlarven soll.
Es muss also noch etwas dazu kommen, damit aus der bloßen Demonstration des spieltechnischen und klanglichen Spektrums der elektrischen Gitarre das bejubelte politische Manifest werden kann: der adäquate Schauplatz. Es ist der Rahmen, der sich hier rezeptionssteuernd auswirkt. Innerhalb des Woodstock-Koordinatensystems kann man Hendrix‘ Parodie der Nationalhymne gar nicht anders denn als Teil des gegenkulturellen Widerstands verstehen. „500.000 Heiligenscheine überstrahlten den Matsch und die Geschichte“, schreibt Hendrix anschließend. „Wir badeten in Gottes Freudentränen und tranken davon. Und endlich einmal war die Wahrheit für niemanden mehr ein Rätsel.“
Die Gypsy Sun And Rainbows bleiben eins. Bei einem Benefiz-Konzert in Harlem fliegen Eier, bei einem exklusiven Gig in einem New Yorker Nachtclub laufen die Gäste davon. Hendrix löst die Band schließlich auf. Jeffery will ohnehin die Experience zurück, aber Hendrix hört nicht mehr auf ihn. Buddy Miles steht jetzt zur Verfügung, also formiert er mit ihm und Cox die Band Of Gypsys, mit der er die schwarzen Quellen seines Spiels stärker anzuzapfen versucht. Für ein paar Gigs funktioniert das durchaus. Mit dem daraus hervorgehenden Live-Album kann man endlich Chalpins Forderungen abgelten. Aber als Hendrix beim Winter Festival of Peace im Madison Square Garden, augenscheinlich auf einem ganz miesen Trip, die Show schon nach zwei Songs abbrechen muss, ist auch das schwarze Trio Geschichte.
Jeffery bekommt jetzt seine Experience, allerdings mit Billy Cox am Bass. Im Frühjahr 1970 geht es erneut auf große US-Tour, aber das Urteil der Kritik ist längst nicht mehr einhellig positiv. Hendrix hat auch eigentlich etwas Besseres zu tun, verbringt in den Tourpausen jede freie Minute im Record Plant, bis endlich das eigene Electric Lady Studio fertig ist. Aber er verzettelt sich in unzähligen Songentwürfen, Jams, Projekten. Er arbeitet an einer Comic-Suite mit dem Titel „Black Gold“. Ein neues Doppelalbum mit dem Arbeitstitel „First Rays Of The Rising Sun“ bekommt Konturen. Der Jazz-Produzent Alan Douglas bringt ihn mit Gil Evans zusammen, gemeinsam plant man eine Kollaboration mit großem Orchester.
Nichts davon wird fertig. Statt dessen lässt Jeffery vom Warhol-Schüler Chuck Wein auf der Insel Maui einen psychedelischen Experimentalfilm drehen, den Jimi musikalisch illuminieren soll, aber „Rainbow Bridge“ kann nicht mal der Soundtrack retten. Anschließend schon die nächste Tour, diesmal durch die halbe Welt. Den Auftakt macht das Isle-Of-Wight-Festival, noch so eine Mammut-Veranstaltung, mit geschätzten 600.000 Besuchern die vermutlich größte in der Rockgeschichte, aber es ist nichts mehr übrig von Harmonie und Love & Peace, die Stimmung ist aggressiv, gewalttätig, Joni Mitchell wird ausgebuht und weint auf der Bühne. Am Ende seines Gigs lässt Hendrix resigniert seine Gitarre zu Boden fallen.
Es kommt noch schlimmer. In Aarhus, Dänemark, versucht er seine Grippe mit Jumboportionen Mandrax zu bekämpfen und kann sich dann kaum noch bewegen. Einmal mehr muss er einen Auftritt abbrechen. „Ich bin seit langem tot“, soll er gesagt haben. Aber nach einer kurzen Ruhepause berappelt er sich wieder, spielt einen fulminanten Gig in Kopenhagen, überzeugt in Berlin, und sogar auf dem verheerenden Fehmarn Open Air, wo eigentlich alles schiefläuft, bringt Hendrix die auf Krawall gebürstete Menge für 90 Minuten zusammen. Aber jetzt muss die Tour abgebrochen werden, weil man ausgerechnet dem Temperenzler Cox eine Überdosis Acid in die Brause getan hat.
Zurück in England versucht Hendrix sein Leben neu zu sortieren. Der Plan, sich von seinem Schleifer Jeffery zu trennen, soll endlich Wirklichkeit werden. Er schmiedet Pläne mit Alan Douglas, versucht Chas Chandler als Produzent zurückzugewinnen, sogar mit Ed Chalpin will er noch mal sprechen. Und wie zu einem Showdown findet sich jetzt auch noch eine ganze Reihe aktueller und ehemaliger Freudinnen ein. Kathy Etchingham, Devon Wilson, Kirsten Nefer, Monika Dannemann.
Mit Dannemann verbringt Hendrix seine letzten Tage. Sie holt ihn in der Nacht vom 17. auf den 18. September von einer Party ab. Es hat Streit gegeben. Hendrix hat wieder einmal andere Frauen angebaggert und will eigentlich nicht mit ihr ins Hotel zurück, kapituliert jedoch. Dannemann legt sich schlafen, aber Jimi ist noch so aufgepulvert von den Amphetaminen, die er eingeworfen hat, dass er nicht einschlafen kann. Also bedient er sich bei Dannemanns starken Vesparax-Schlaftabletten. Um durchzuschlafen soll man eine halbe einnehmen, Hendrix nimmt gleich neun. Bald darauf wird er bewusstlos, übergibt sich, ist zu sediert, um das Erbrochene abhusten zu können und erstickt daran. So steht es im pathologischen Gutachten.
Hendrix ist vermutlich längst tot, als Monika Dannemann erwacht. Sie ist konfus, ruft Freunde an, irgendwann auch den Notarzt. Dem Fahrer des Krankenwagens, Reg Jones, bietet sich folgendes Bild: „Der Körper lag auf dem Bett, bedeckt von Kotze in allen Farben, schwarz, braun, überall, auf ihm, auf dem Kissen. Es war kein anderer Mensch in Sicht. Ich ging zurück in den Krankenwagen, um einen Aspirator zu holen und ihn wiederzubeleben, konnte es aber nicht. Die Kotze war ganz trocken, als hätte er schon eine lange Zeit so gelegen. Er hatte keinen Herzschlag. Er war blau, atmete nicht und reagierte nicht auf Licht oder Schmerz. Wir riefen die Polizei, denn wir dachten, dass die Umstände seines Todes sehr merkwürdig waren.“
Dannemann erfindet nun in den folgenden Jahren und Jahrzehnten eine entweder schizophrene oder aber – womöglich um von ihren eigenen Schuldanteilen abzulenken – sehr kalkulierte Verschwörungstheorie, derzufolge Jimi noch gelebt habe, als sie mit ihm ins Krankenhaus gefahren sei. „Ich glaube fest daran, dass man ihn vergiftet hat, dass er ermordet wurde“, lässt sie 1975 vernehmen. „Es gibt dafür einige Beweise, aber man kann damit nicht zur Polizei gehen. Da steckt eine ganze andere Sache dahinter, eine mächtige Gruppe. Ich denke, es ist die Mafia.“
Alle anderen Beteiligten widersprechen ihrer Geschichte. In dem 1993 von Kathy Etchingham angestrengten Prozess geben sie zu Protokoll, dass die Wohnung leer gestanden habe und Dannemann weder im Krankenwagen mitgefahren noch im Krankenhaus gesehen worden sei. Die Mafia-Theorie steht folglich auf wackligen Beinen. Auch wenn der obskure Jeffery offensichtlich Kontakte mit der ehrenwerten Gesellschaft unterhalten hat.
Hat Dannemann selbst Hendrix aus Eifersucht vergiftet? Hat er Selbstmord begangen, weil er, wie Eric Burdon vermutet, „künstlerisch längst erstickte und um seinen rechtmäßigen Lohn betrogen wurde“? Der Kulturphilosoph Klaus Theweleit schlägt eine Synthese vor. Hendrix‘ Tod sei eine Art kollektiver Abstoßungsprozess, eine Opferung gewesen, „halb unbewusst, halb zielsicher durchgeführt“ und „von den Opfernden bis zu einem gewissen Grad mitgetragen“. Eine „insgeheime Übereinkunft unter vielen, das ‚jemand weg soll‘, ‚seine (oder ihre) Zeit um ist‘.“ Ein solcher „sozialer Abführvorgang“ treffe „speziell öffentliche Durchbruchsfiguren, die nicht mehr gebraucht werden von ihrer Umgebung; die zu einer Belastung für die psychischen Balancen ihrer Anhänger werden. Weil die Ansprüche, die sie verkörpern, zu groß, womöglich unerfüllbar sind.“ Hendrix sei eben in allem, was er getan habe, längst „too far out“ gewesen.
Vielleicht spricht aus allen diesen Erklärungsversuchen auch noch etwas anderes. Der verständliche Wunsch nämlich, dass der Tod eines so exorbitanten Künstlers etwas zu bedeuten hat. Dass er nicht einfach so passiert ist, wie meistens. Lächerlich absurd und fatal willkürlich.