Wilco – München, Backstage
Die Tour zu ihrem letzten Album dauert nun schon anderthalb Jahre, doch Wilco haben noch längst nicht alle Schattierungen ihrer Songs erkundet
Vor der Halle hängt ein Plakat: „Wilko (Country Pop)“. Immerhin vier Buchstaben sind richtig. Der Anblick des Publikums definiert das zu Erwartende genauer: eine Mischung aus Deadheads und Indie Crowd, Traditionalisten und Avantgardisten. Letztere sind einem an diesem Abend eines viel zu heißen Spätsommertags im rappelvollen Backstage rein geruchstechnisch am liebsten.
„Hoffentlich spielen sie auch ein paar alte Songs“, höre ich noch hinter mir aus einer Bierwolke, kurz bevor die ersten Töne von „Misunderstood“ durch die schwitzenden Körper fahren. Wunsch erfüllt. Zur Transpiration gibt’s einen transparenten Sound. Das ist schon mal gut. Und Tweedys Stimme klingt besonders schön, was nicht nur daran liegen kann, daß er vor sechs Wachen das Rauchen aufgab.
Wilco sind seit anderthalb Jahren zu sechst – bereits kurz nach den Aufnahmen zu „A Ghost Is Born“ stießen Gitarrist Nels Cline und Alleskönner Pat Sansone zur Band – und arbeiten schon wieder an neuen Songs, Ende Oktober kommt aber erst einmal ein Doppel-Live-Album.
Neben Tweendy sind es vor allem Cline und Schlagzeuger Glenn Kotche, die den Ton an diesem Abend angeben. Tweedy führt die Band mit der Akustischen in „Hell Is Chrome“, nach der letzten Strophe gibt Kotche durch Rhythmuswechsel das Zeichen zur Dekonstruktion. Cline ribbelt den Song auf, die Band zieht die losen Fäden auseinander, verwebt sie neu, so daß andere, spannendere Muster entstehen. Am Ende wirkt der Song fast wie das Anhängsel der Coda.
Die Methode wird fortgeführt: „Handshake Drugs“, „I’m Trying To Break Your Heart“ – Improvisationen, die aber die ursprüngliche Struktur niemals aus dem Auge lassen. Hier gibt es keine selbstgefälligen Soli, wenn überhaupt mal richtig soliert wird, dann von allen gleichzeitig „collective improvisation“, die nicht etwa in der Kakophonie endet, sondern Ausgangspunkt einer neuen Erkundung wird.
Dann drei nackte Songs: „Hummingbird“ (Tweedy sogar ohne Gitarre), „War On War“, Jesus etc“. Anschließend „Walken“, das einzige brandneue Stück, das allerdings klingt wie das älteste von allen: Country-Rock mit einem Riff, als hätten sie es second hand bei Uncle Tupelo abgestaubt. Doch irgendwann schwenkt der Song um, bis er in einem wüsten „I’m The Man Who Loves You“ zur Strecke gebracht wird. Dann wird’s sublim: ein treibendes „Spiders (Kidsmoke)“ mit Television-Gitarren.
Der Höhepunkt der Zugabe: „Via Chicago“ – elegisch wohlklingend, fast eingängig, mit schönen Harmonien. Plötzlich ein Schlagzeug, das klingt, als gehöre es in einen anderen Song, Tweedy singt unbeirrt weiter, bis Cline ihm den Song aus der Hand nimmt und Keyboarder Jorgensen das Tempo anzieht. Fast hätte es doch noch geklappt mit dem Country-Pop.