Wie „Wenn der Wind weht“ Kinder traumatisierte (und Erwachsene auch)

Die Comicverfilmung „Wenn der Wind weht“ traf im Tschnernobyl-Jahr 1986 den Zeitgeist. Auch die Popmusik reagierte auf den Kalten Krieg

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Inmitten des Kalten Kriegs weckte „Wenn der Wind weht“ aus dem Jahr 1986 die Vorstellung der ländlichen Idylle als Sehnsuchtsort – die jedoch keine Zuflucht bieten wird. Weit weg von den meisten Bomben vielleicht. Aber nicht weit genug entfernt von der Gammastrahlung. Regisseur Jimmy T. Murakami („Heavy Metal“, 1981) verfilmte den Comic von Raymond Briggs aus dem Jahr 1982 als eine Mischung aus Zeichentrick, Animation und vereinzelten Realaufnahmen.

Fast alle Zeichentrickfilme sind für Kinder gemacht. Und so gut wie alle Zeichentrickfilme sollen lustig sein. Wie bei kaum einem anderen Zeichentrickfilm besteht bei „Wenn der Wind“ weht also die Gefahr einer kolossalen Fehlentscheidung der Eltern, falls sie ihre Kinder den Film sehen lassen. Das Netz ist voller „Dieser Streifen hat mich traumatisiert und meine Kindheit ruiniert“-Wehklagen.

Im Zweiten Weltkrieg wurde der siebenjährige Raymond Briggs beim Flugangriff der Deutschen aus London evakuiert. Im Jahr 1962, mit 28 Jahren, ging er fest davon aus, dass die Kubakrise das Ende der Welt bedeuten würde. „Kennedy sagte zu den Russen: Wenn ihr nicht umdreht, war’s das“, erzählt er im DVD-Making-of von „Wenn der Wind weht“. „Beide Seiten hätten nur einen einzigen Telefonanruf tätigen müssen, und unser aller Existenz wäre beendet gewesen.“ In einem Interview von 2018 mit dem „New Statesman“, vier Jahre vor seinem Tod, sagte Briggs: „Und nun der Ärger mit Nordkorea. Ich danke Gott dafür, dass ich schon 84 bin.“

Kriegsromantik, Nostalgie und das militärische Ideal von Heldentum

Briggs konnte sich, wie er zugab, nicht freimachen von Kriegsromantik, Nostalgie und dem militärischen Ideal von Heldentum. Genauso wenig wie in „Wenn der Wind weht“ seine animierten Protagonisten Jim und Hilda Bloggs, ein älteres Ehepaar, gesprochen von John Mills und Peggy Ashcroft und angelehnt an seine eigenen Eltern.

Als Jim von einer bevorstehenden Konfrontation mit der UdSSR hört – ausschlaggebend ist eine Beteiligung der NATO-Staaten am Sowjetunion-Afghanistan-Krieg –, fantasiert er Mann-gegen-Mann-Kämpfe mit einem Russen, der mit Bajonettgewehr sein Haus erstürmt. So, wie man sich in früheren Kriegen duelliert hätte.

Der soldatische Nahkampf mit dem Feind stellt für Atomkriegsfilme grundsätzlich keine Option dar. Vielleicht bedurfte es deshalb eines Hollywood-Regisseurs wie John Milius, ein Bellizist und NRA-Mitglied, um in einem auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs gedrehten Film, „Die rote Flut“ (1984), die Überrumpelung Amerikas eben durch sowjetische Infanterie anstelle ballistischer Raketen zu fantasieren. Landnahme durch Fußsoldaten. Bietet mehr Combat durch Geballer und schicke Fist Fights.

Im „New Statesman“-Bericht über Raymond Briggs kommt auch einer der Programmleiter von „Panorama“ zu Wort, eine  BBC-Sendung, die 1980 die berüchtigten „Protect and Survive“-Exerzierübungen ausstrahlte. „Protect and Survive“ wurde von der Regierung erstellt, erschien als Zeichentrick und Faltblattlektüre und sollte die Briten auf den DEFCON-1-Moment vorbereiten. Die bestürzend technokratischen Formulierungen von Handlungsanweisungen nach dem Katastrophenfall sprachen für sich. „Protect and Survive“ erschien wie ein Gruselfilm.

„Wir wussten, dass wir alles infrage stellen mussten“

BBC-Executive Roger Bolton beschreibt eine ab den späten 1960er-Jahren schleichend eingetretene, grundsätzliche Einstellungsänderung gegenüber Vertretern britischer Bürokratie. „Wir müssen bedenken, dass Protect and Survive lediglich 35 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg produziert wurde“, sagte er. „Die Menschen in der Regierung waren damals älter und glaubten noch an die Macht der Autorität in Kriegszeiten. Wir Jüngeren aber waren Kinder der Sechzigerjahre. Wir wussten, dass wir alles infrage stellen mussten.“

In „Wenn der Wind“ weht hofft Jim Bloggs bis zu seinem Ende auf die Hilfe des Staats, auf Evakuierung durch das Militär in nicht-verseuchte Zonen sowie Versorgung durch medizinisches Personal. „Wir haben den letzten Krieg überlebt“, sagt er zu Hilda, „wir können es wieder schaffen.“ Er meint den Zweiten Weltkrieg. In dem keine Atombombe auf England fiel.

Einige der (Stop-Motion-)Animationen in Wenn der Wind weht wurden im Stil der „Protect and Survive“-Clips umgesetzt. Das dazugehörige P„rotect and Survive“-Handbüchlein hat Jim Bloggs auch parat, er zitiert daraus. Es wird ihm nicht helfen.

Versagt der britische Zivilschutz? Wenn der Wind weht und auch Tag Null suggerieren genau das. Der über 70-jährige Jim blättert in der Broschüre, versteht fast alles falsch oder versteht zumindest nicht, für welche Zeitspannen nach der Detonation die jeweiligen Überlebensratschläge abgesteckt sind.

Trailer „Wenn der Wind weht“:

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Er hebt eine Tür aus den Angeln und stellt sie in der Schrägen gegen eine Zimmerwand, um den Zwischenraum wie nach Vorschrift als Schutzzone (Domestic Nuclear Shelter) für sich und Hilda einzurichten. Er deckt die demontierte Tür mit Kissen ab, damit sie die Druckwelle der Atombombe abfängt. Dieser Schutzbereich hilft vielleicht gegen unmittelbare Explosionsfolgen, aber nicht vor der Radioaktivität, die sich von einer schräg aufgestellten Schranke nicht in Schach halten lässt. „Ich hoffe, diese Tür hinterlässt keine Spuren auf der Tapete, James!“, sagt eine entrüstete Hilda. „Es steht uns nicht zu, die Regierungsbeschlüsse zu hinterfragen!“, schießt er wütend zurück.

Im Radio ist die Rede von einem lediglich 14-tägigen nationalen Notstand, falls die Bombe fällt. Als wäre danach alles vorbei. Kein Wunder, dass Protect and Survive nicht nur vielfach beargwöhnt, sondern in Liedern, Artikeln oder Filmen karikiert wurde.

Die Angriffswarnung wird gesendet. Es ist so weit. Jim und Hilda verschanzen sich im Spalt hinter ihrer Türbarriere. Der Himmel erstrahlt in gleißendem Licht. Das Haus der Bloggs wird bis auf die Grundmauern durchgerüttelt.

Sie verstehen zu spät, dass sie sterben werden

Jim und Hilda warten einen Tag ab, dann kriechen sie aus ihrer Deckung hervor. Sie setzen sich an den Küchentisch, inmitten einer atomaren Wüstenei. Später fläzen sie sich, die Natur ist verstummt, in ihre Gartenstühle und nehmen nichts ahnend Radioaktivität in sich auf. Sie verstehen zu spät, dass sie sterben werden.

Auch als Blutungen einsetzen, Durchfall und Bewusstseinstrübungen, sind die Bloggs noch von ihrer Rettung überzeugt. Ihren Nervenzusammenbruch erleidet Hilda in einem untypischen, aber bezeichnenden Moment. Nicht, als die ersten Haare ausfallen. Sondern beim Anblick einer Ratte in ihrer Toilettenschüssel, dem Aufstieg des Tiers durch die Kanalisation.

Ausdruck des Versagens an die eigenen Ansprüche

Von so manchen Großstädtern bei jedem Toilettengang in den eigenen vier Wänden gefürchtet – und möglicherweise nicht mehr als ein urbaner Mythos –, ist der Triumph des zum Einbrecher gewordenen Nagers für die reinliche Landwirtin ein echtes Debakel. Der offenkundigste Ausdruck des Versagens an die eigenen Ansprüche, ein sauberes Zuhause zu pflegen.

Mit den Kräften am Ende legen die Bloggs sich in Schlafsäcke aus Papier, zu deren Anschaffung die Protect and Survive-Broschüren empfohlen haben. Angedeutet wird etwas Ungeheuerliches. Die von der Regierung angeratenen Schlafsäcke sind in Wirklichkeit Leichensäcke.

Schlussendlich bleibt den beiden nichts anderes mehr, als mit geschwächter Stimme göttlichen Beistand zu erflehen. Sie beten den 23. Psalm. Jim versetzt ihn mit Zeilen aus „The Charge of the Light Brigade“, einem Kriegsgedicht von Alfred Lord Tennyson. Hilda bittet ihn aufzuhören. Beide verstummen. Abblende.

Wieso deuten die zwei Senioren alles, was um sie herum geschieht, so verkehrt?

Die Hilflosigkeit hochbetagter Menschen weckt Mitgefühl. Aber die Bloggs sind nicht nur altersbedingt hilflos. Sie wirken grundlegend naiv, einfach gestrickt. Während vieler Momente könnte gar das Gefühl einer Verärgerung entstehen: Wieso deuten die zwei Senioren alles, was um sie herum geschieht, so verkehrt?

Für Zeichner Raymond Briggs war die Herzenseinfalt der Bloggs eine notwendige Voraussetzung, um seine Botschaft der Sinnlosigkeit des Befolgens staatlicher Direktive zu übermitteln: „Übertriebene Einfachheit war schlicht notwendig. Die Bloggs sollten genau das tun, was die Regierung ihnen vorschreibt.“

Briggs vergleicht Protect and Survive mit irren Spike-Milligan-Anweisungen, ein Verweis auf den irischen Meister der Satire: „Um das zu tun, was die Bloggs tun, muss man schon etwas beschränkt sein. Wenn in drei Tagen alles in Schutt und Asche liegt, erst mal die Fenster bestreichen, damit die Radioaktivität draußen bleibt? Sie sind so unschuldig wie ignorant und unreif, leben nicht ganz in der Erwachsenenwelt.“

David Bowie – „When The Wind Blows“:

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Es stimmt vielleicht traurig, dass Briggs seine zwei Bloggs, die er als Vertreter der Arbeiterklasse an seine eigenen Eltern anlehnte, für seine Regierungsverhöhnung instrumentalisiert, indem er sie zu willfährigen Befehlsempfängern degradiert. Andererseits stimmt es auch traurig, einen älteren Herrn wie Raymond Briggs selbst mit den Tränen kämpfen zu sehen, als er von den Leichensäcken im Haus der Bloggs berichtet – ihren Schlafvorbereitungen, dem Hineinkriechen in die Säcke, was unwissentlich ein Darniederliegen aufs improvisierte Totenbett bedeutet. Bereit für den Abtransport und eine Arbeitserleichterung für die Nationalgarde. Sofern sie denn irgendwann kommt.

Der Erfolg von „Wenn der Wind weht“ und sein Zeitgeist

Regisseur Jimmy T. Murakamis Film kam in Großbritannien im Oktober 1986 in die Kinos und spielte mit einem Box-Office-Ergebnis von fünf Millionen Pfund die Produktionskosten wieder ein. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl lag da erst sechs Monate zurück.

Zum Erfolg trug auch der gut bestückte Pop-Soundtrack bei, kompiliert überwiegend mit Neukompositionen. David Bowie sang das ergreifende – nie von ihm live dargebotene! – Titellied, das die Titelzeile „When the Wind Blows“ kurioserweise umdeutet. Bowie ersehnt darin die frische Brise, er verstand den Wind nicht als die Druckwelle der Atombombe.

Den hauptsächlichen Score nahm die Bleeding Heart Band von Roger Waters auf, der sich nach seinem Ausstieg bei Pink Floyd und dem Antikriegsalbum „The Final Cut“ von 1983 auf politische Themen konzentrierte. Ihm zur Seite standen Paul Carrack und Paul „N-N-N-N-Nineteen“ Hardcastle. Außerdem steuerten Genesis mit „The Brazilian“ ein Stück aus ihrem missverstandenen, aber ausgezeichneten „Invisible Touch“-Album bei, das sich in einigen Songs mit dem Atomkrieg befasst. Ihr „Land of Confusion“-Video persifliert Reagan und Gorbatschow mit Spitting Image-Puppen. „Invisible Touch“ erschien am 6. Juni 1986, eineinhalb Monate nach Tschernobyl, und wirkte wie eine ungeahnte parallele künstlerische Begleitung des Unglücks.

Genesis – „Land of Confusion“:

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In Deutschland lief „Wenn der Wind weht“ im November 1986 an und wurde mit rund 445.000 Zuschauern ein bescheidener Erfolg (Platz 55 der Jahrescharts). Hierzulande hätte mehr drin sein müssen. Die Deutschen erwiesen sich in jenem Jahr als äußerst engagiert, und die Gefahren der Kernenergie waren spätestens nach Tschernobyl bekannt. Der Ostermontagsprotest gegen die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf (WAW) war zum Kinostart von Wenn der Wind weht nur acht Monate her. Rund 100.000 Demonstrierende nahmen daran teil. Beim Anti-WAAhnsinns-Festival in Burglengenfeld traten Ende Juli etliche Deutschrocker auf, darunter Herbert Grönemeyer, Udo Lindenberg und Die Toten Hosen.

In den 1980er-Jahren waren die Charts immer wieder mit Atom-Songs bestückt. Popmusik diente als Ventil für Nuklearkriegsangst. Viele der bedeutendsten Lieder über die Bombe entstammen den Jahren 1979 bis 1986, der Ära des Neuen Kalten Kriegs.

Im New Yorker Madison Square Garden fand 1979 das No Nukes Konzert statt, mit Künstlern der MUSE-Vereinigung (Musicians United for Safe Energy) um Jackson Browne, Graham Nash und Bonnie Raitt. Pop hat einen Instinkt für politische Krisen und ist aufgrund seines Anspruchs auf leichtmögliche Verständlichkeit ein dankbarer künstlerischer Ausdruck für unerträgliche Drucksituationen.

Nicht nur in Deutschland – vertreten durch Nena, Nicole und Geier Sturzflug – wurde das Thema musikalisch verarbeitet. Lieder wie „Life During Wartime“ (1979) der Talking Heads, „Atomic“ (1980) von Blondie, „Breathing“ von Kate Bush (1982), „1999“ (1982) von Prince, „Two Tribes“ (1984) von Frankie Goes to Hollywood, „Russians“ (1985) von Sting (Christopher Nolan sagte, hier habe er, als 15-Jähriger, erstmals den Namen „Oppenheimer“ gehört) oder „Always the Sun“ (1986) der Stranglers widmeten sich mehr oder weniger konkret dem nuklearen Armageddon.

Sting – „Russians“:

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Es gab die Feiern-als-ob-es-keinen-Morgen-gäbe-Fraktion (Prince, Frankie Goes to Hollywood) und die warnenden Pessimisten (Kate Bush, dazu möglicherweise das gesamte Gothic-Genre, entstanden 1979 mit der britischen Band Bauhaus als Vorreiter). Zu „Two Tribes“ tanzen wir noch heute, aber anders als 1984 empfinden wir dabei keinen Galgenhumor. Zum Glück nicht?

Wenn selbst Sting mit seiner Band The Police einen der größten Hits der 1980er-Jahre, „Every Breath You Take“, als „Every Bomb You Make“ noch in dessen Entstehungsjahr 1983 neu einspielt (und, wie nach ihm Genesis mit Land of „Confusion“, der Spitting Image-Sendung zur Verfügung stellt), dann sollte allen der Ernst der Lage klar gewesen sein.

„DEFCON 1 – Die Geschichte des Atombombenkinos“
Schüren Verlag

Dieses Kapitel über „Wenn der Wind weht“ ist ein Auszug aus Sassan Niasseris Buch „DEFCON 1 – Die Geschichte des Atombombenkinos“, das im Schüren Verlag erschienen ist.