Wie wählt der Wutbürger?
Es ist wahrlich kein Beitrag zur Sprachpflege, was die Gesellschaft für deutsche Sprache da kurz vor Weihnachten angerichtet hat. Der „Wutbürger“ ist eine künstliche Wortschöpfung, die in meinem Sprachgebrauch bis dahin nicht vorkam – und deshalb aus meiner Sicht ein zweifelhaftes „Wort des Jahres“. Allerdings muss ich der Jury zugestehen: Inhaltlich trifft sie den Nagel auf den Kopf.
Die Deutschen sind wütend. Und sowohl die Sarrazin-Debatte als auch die Demos in Stuttgart im vergangenen Jahr sind vor allem eines: Ventile für diese Wut. Das politisch Brisante daran ist, dass sich diese gesellschaftliche Stimmung zu einem Zeitpunkt aufgebaut hat, da in der Bundesrepublik so viele Wahlen anstehen wie seit 17 Jahren nicht mehr. Sieben Landesparlamente werden 2011 neu gewählt. Und es ist kein Geheimnis, dass vom Ergebnis dieser Wahlen mehr abhängt als die Frage, wer künftig Bremen oder Baden-Württemberg regiert. Die große Frage heißt: Wem nützt und wem schadet die Wut, die sich in den letzten Monaten Bahn gebrochen hat?
In den Daten aus vielen Jahren Wahlforschung finden sich nur wenige Zahlen, aus denen sich sichere Schlüsse für dieses Superwahljahr ableiten lassen. Sie beschreiben vor allem die Grundhaltung der Wähler gegenüber den Parteien. Bei der letzten Bundestagswahl erklärten sich nur noch ganze 14 Prozent der Befragten zu sogenannten „Stammwählern“, Menschen also, die einer einzigen Partei über Jahre hinweg treu sind. Ein Drittel der Wählerinnen und Wähler hat sich erst am Wahltag selbst oder in den Tagen unmittelbar davor entschieden.
Die Wähler sind weitgehend bindungslos. Nur deshalb können die Debatten um Sarrazin und Stutt-gart 21 überhaupt so große politische Kraft entfalten. Dass der Begriff „Wutbürger“ den Gemütszustand der Wählerschaft durchaus treffend beschreibt, haben wir auch im „ARD-Deutschlandtrend“ im Oktober 2010 mit demoskopischen Mitteln erfasst. 98 Prozent der Befragten stimmten dem Statement zu, „die Politik muss wieder stärker den Kontakt zum Volk suchen“. 85 Prozent waren der Ansicht, „die meisten Politiker wissen nicht, was im wirklichen Leben los ist“.
Nimmt man diese Erkenntnisse zusammen – hier die Verachtung für Politiker über fast alle Parteien hinweg, dort das erklärte Nomadentum eines Volks von Wechselwählern – lässt sich für das Wahljahr 2011 nur eine Vorhersage treffen: Alles ist möglich. Die sechs Wahlwochenenden stehen im Kalender wie Dominosteine in einer Reihe. Deshalb wird früh im Jahr die Richtung vorgeben, die auch die dann nachfolgenden Wahlen entscheidet. Ich könnte mir sehr unterschiedliche Trends vorstellen:
1. Die „Wutbürger“ bleiben mehrheitlich zu Hause und vergrößern das Lager der Nichtwähler. Geringe Wählerzahlen senken die Fünf-Prozent-Hürde. Das könnte die FDP vielerorts retten und macht es im Westen für die Linke leichter, in die Landtage einzuziehen. In den so entstehenden Fünf-Parteien-Parlamenten gibt es meist schwierige Mehrheitsverhältnisse. Oft führt das zu großen Koalitionen. Außer der FDP, die sonst Schlimmeres befürchten muss, gäbe es bei diesem Szenario keine wirklichen Sieger.
2. Es wird das Jahr der Grünen. Viele „Wutbürger“ könnten sich auf ihre gefühlte Wahlpflicht besinnen und eine Partei wählen, die sie, vor allem im Südwesten, als sehr bürgerlich empfinden. Klar, in der Vergangenheit haben die Grünen gute Umfrageergebnisse selten in gute Wahlergebnisse ummünzen können. Aber die Partei hat einen positiven Imagesaldo – Millionen Menschen, die bisher nicht grün gewählt haben, wünschen der Partei mehr politischen Einfluss. Schon ein Ergebnis über 20 Prozent in Baden-Württemberg würde den Grünen mächtig Auftrieb für den Rest des Jahres geben.
3. Der Aufschwung heilt alle Wunden. Die „Wutbürger“ sind ja nicht wirklich wütend wegen integrations- oder verkehrspolitischer Fragen. Was sie auf die Straße treibt, ist das Gefühl von Ungerechtigkeit. Seit Jahren öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter, hohe Einkommen sind gestiegen, niedrige real oft gesunken. 2011 könnte ein Jahr spürbarer Verbesserungen werden. Das besänftigt viele, die traditionell in den Lagern der CDU und SPD zu Hause sind und sich zuletzt als Wähler verweigert haben. Wenn der Aufschwung die Stimmung prägt, bleibt Baden-Württemberg schwarz-gelb, und die SPD wird bescheidene Erfolge in den Stadtstaaten feiern. Dann wäre die „Wut“ verflogen und das Wahlergebnis sehr „bürgerlich“.
Wie gesagt, das sind Szenarien. Möglich ist alles und noch viel mehr. Man müsste das Wort des Jahres 2011 kennen – dann wüsste man vermutlich, was die Wahlen, die vor uns liegen, entschieden haben wird.
Jörg Schönenborn ist Fernseh-Chefredakteur beim WDR. Als ARD-Wahlexperte und Moderator hat er die Zuschauer durch viele lange Abende begleitet.