Wie spät ist nie?
Der Musikjournalist Marc Spitz erzählt aus dem Leben eines armseligen Kollegen, den nur noch die Smiths retten können
Vor allem eins ist Marc Spitz im Gedächtnis geblieben, als er in unserem Gespräch die Entstehung seines ersten Romans „Wann nur, wenn nicht jetzt?“ (Rockbuch) rekapituliert: „Es war harte Arbeit. Ich fühlte, dass eine Menge auf dem Spiel stand, und ließ dann heraus, was ich herauslassen musste. Ich hatte eine Menge Geschäfte mit Gott laufen. ,Lass mich das nächste Kapitel beenden, und ich werde ein guter Mensch.‘ ,Lass mich das Buch zu Ende schreiben, und ich fange nie wieder ein neues an.‘ Ich habe seitdem zwei weitere geschrieben. Ich hatte Angst, die Straße zu überqueren, um Zigaretten zu holen oder Papier oder was auch immer, weil ich fürchtete, ich würde den nächsten Bus nehmen und es sein lassen.“
Spitz‘ Alter Ego Joe Green ist ein verwöhnter kleiner Drecksack aus Long Island, der es nach einer ziemlich erfolgreichen Heroin-Karriere am College zum leidlich erfolgreichen Rockschreiber beim fiktiven New Yorker Musikmagazin „Headphones“ gebracht hat. Jetzt säuft er nur noch harte Sachen, nimmt sich zehn Jahre jüngere Mädchen aufs Zimmer, würde aber am liebsten Volvo fahren mit Frau und Kind auf dem Rücksitz. Schließlich wird er bald 30! Seine rituellen Einlaufe, um die Innereien von all dem Dreck zu befreien, halten nicht lange vor, denn sein eigentliches Problem – denkt nur! – ist ja nicht sein kontaminierter Körper, sondern seine durch und durch verhurte, zynische Seele.
Green hat den Spaß am Rock’n‘ Roll längst verloren, haut die Artikel nur so raus, weil sein Suff ja bezahlt werden will. „Ich kann aus Erfahrung bestätigen, dass es weniger seelentötend ist, eine Linie Smack zu sniffen, als eng nebeneinander in einem Firmensaal zu hocken und sich zu überlegen, ob die tätowierten Arschlöcher von Crazy Town ein Feature wert sind.“ Wer also seine Vorurteile von der Niedertracht des gemeinen Rockjournalismus bestätigt sehen will, der lese dieses Buch. Schlimm, schlimm das alles.
Marc Spitz, senior writer bei „Spin“ und unter anderem Mitverfasser einer hochgelobten Geschichte des L.A. Punk, muss es wissen. „Ich habe den Roman 2002/2003 geschrieben. Ich arbeitete gerade an meiner zweiten ,Spin‘-Titelgeschichte, über Weezer, und wohnte bei einer College-Freundin in Los Angeles. Ich trank und schrieb den ganzen Tag und fiel dann ohnmächtig auf ihre L-förmige Couch. Irgendwie vermutete ich schon, dass ich die Hand biss, die mich leidlich fütterte: Ich würde ja all den Rockschreibern wieder begegnen, die ich anklage in dem Buch, aber es machte mir nichts aus. Es muss die Trinkerei gewesen sein.“
Es gibt noch weitere Hinweise dafür, dass dieser Roman zumindest ein autobiografisches Fundament besitzt, worauf Spitz dann die leicht klischeeverdächtige Passionsgeschichte Joe Greens gezimmert hat: Der Autor hat einen berühmten Sportler zum Namensvetter, den siebenfachen Goldmedaillen-Schwimmer – sein Ich-Erzähler den furchterregenden Defensive Tackle der Pittsburgh Steelers „Mean Joe Green“.
In einer langen Rückblende versucht Green II. zu erklären, wie er zu einem solchen gemeinen Widerling werden konnte, und das ist dann fast ein kleines Buch im Buch – eine schöne, ehrliche, melancholischwarmherzige Coming-of-age-Geschichte, die nur ein paar Mal darunter leidet, dass der Autor seinem Roman-Ich Sätze in den Mund legt, die man als cooler Teen mit Drüsenüberfunktion einfach nicht sagt. Als Joe seine erste Freundin Jennifer kennenlernt, ungeniert auf ihre Brüste stiert und ermahnt wird, spricht er wie seine eigene Oma: „Entschuldige. Ich mach grad ein paar komische hormonelle Dinge durch.“ Möglicherweise liegt es auch an Bernd Rullkötters Übersetzung, die sich etwas uninspiriert und altbacken liest.
Denn sonst glaubt man Spitz eigentlich alles. Joe, die angepasste Null, dreht plötzlich ab, entdeckt den Punk für sich und die dazu gehörige Attitüde. Er kommt auf eine andere Schule, zählt auch hier bald zu den Außenseitern, den Geeks, die sich im Kunstraum verschanzen und im lokalen I ndependent-Radiosender WLIR musikalisch aufmunitionieren – und dann hört er die Smiths! Eine Initiation, eine Offenbarung. Die passionierten, larmoyanten Rock-Elegien des Songwriter-Gespanns Morrissey/Marr liefern offenbar das treffende akustische Komplement zur tristen Kinder-Dropout-Seelenlage aus Liebeskummer, Teenage Angst und 8oer-Jahre-Katastrophismus – es stand ja immerhin ein waschechter Atomkrieg vor der Tür. Dazu kommt es dann doch nicht, aber zum privaten Super-Gau: Jennifer lässt ihn nicht richtig ran, weil sie einen festen Freund in London hat. Und als die Band dann auch noch ein Konzert platzen lässt, schmeißt er alle ihre Platten weg. Er fühlt sich verraten!
Nach diesem wundervollen, mit Smiths-Zitaten und -Songs gesättigten Jugend-Reminiszenzen versteht man Green, den Zyniker der späten Neunziger, wirklich ein wenig besser. Vor allem eins: Dieser Schmerzensmann will erlöst werden. Da lernt er die „Headphones“-Kollegin Miki kennen und lieben, auch sie ist durch und durch Smiths-sozialisiert. Gemeinsam wollen sie die Welt retten – und die Smiths zu einer Reunion überreden. Und diese gute Tat soll dann, glaubt Green, zugleich auch der Zündfunke für ihn und Miki sein. Es scheitert das eine wie das andere. Green bläst die Sache ab, merkt, dass Miki ihn nicht wirklich will, merkt aber vor allem, dass sie einer Fantasie hinterherlaufen, nur ihre verlorene Jugend zurückbekommen wollen. Und das schafft noch nicht einmal eine Reunion der Smiths. „How Soon Is Never?“ – der weitaus bessere, die Smiths-Single „How Soon Is Now?“ konterkarierende Originaltitel des Buches – nimmt bereits die Vergeblichkeit ihres Versuches vorweg. Und dennoch ist Green geheilt, weil er endlich merkt, was er als Musikjournalist längst hätte wissen können: dass nämlich in der Musik Jugend aufgehoben und jederzeit wieder abrufbar ist. Nur in der Fantasie zwar, aber nur hier ist sie auch so gut – so gut, wie sie im Leben nie war.
Spitz hat wenig Hemmungen, wenn es darum geht, seinen Ich-Erzähler in den Dreck zu schicken – nur dessen harte Drogenkarriere am College bleibt unerzählt. „Mein Verleger hat entschieden, dass das einfach zu hart ist, und ich ließ mich überzeugen. ,How Soon ls Never?‘ war etwa doppelt so lang in den ersten paar Entwürfen. Vielleicht drucken sie eines Tages die kommentierte Director’s-Cut-Version. Obwohl ich befürchte, dass die Mist ist.“