Wie sich die Kirche der Pornografie nähert
Unter Protestanten wie Katholiken entbrennt ein neuer Streit über das Sexualleben der Gläubigen. Die einen lehnen die Homo-Ehe strikt ab. Andere suchen nach einer angemessenen Sprache für das Lustvolle. Von Matthias Kamann
Beim Sex gilt auch für die Kirchen: Je kleiner, umso größer die Aufregung. Je kleiner für die Deutschen die Relevanz theologischer Sexualworte wird, umso größer wird innerhalb der Kirchen die Aufregung bei dem Thema. Das zeigt sich derzeit in beiden Konfessionen.
Bevor bei den Katholiken im Oktober eine Bischofssynode beim Papst in Rom über Familienethik und Geschlechtsleben brütet, hat jetzt die Reformbewegung Wir sind Kirche einen offenen Brief mit Forderungen an die teilnehmenden deutschen Bischöfe verschickt. Die sollen sich auf der Synode dafür einsetzen, „mit der unseligen Tradition der offenen oder indirekten Diskriminierung der Homosexualität zu brechen“, schreibt Wir sind Kirche. Zu beenden seien ebenfalls der Ausschluss der wiederverheirateten Geschiedenen von den Sakramenten und die Geringschätzung der Alleinerziehenden. Verabschieden müsse die Kirche zudem das „biologistisch geprägte Bild von der Sexualität, das auf die Zeugung von Nachkommen fixiert ist“.
So vehement die Forderungen, so scharf der Widerspruch von der Gegenseite. Schroff kanzelte unlängst der Passauer Bischof Stefan Oster die Laien aus dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) um Alois Glück ab, nachdem das ZdK für die kirchliche Segnung von homosexuellen Paaren sowie von Partnerschaften Geschiedener plädiert hatte. „Nicht nachvollziehbar“, schrieb Oser auf Facebook, sei dieses „politische, aber eben gerade nicht biblische Programm“.
Oser setzte noch eins drauf: Wer nicht nur die Ehe von Mann und Frau segnen wolle, sondern auch andere Paare, könne ja gleich Beziehungen von drei oder mehr Personen segnen, „wenn sie sich sexuell und auch sonst gut verstehen“.
Die Bibel sagt, dass die homosexuelle Lebensweise nicht dem Willen Gottes entspricht. Diese Aussagen machen es mir persönlich schwer, jemandem zu raten, dass er seine Homosexualität leben solle.
Carsten Rentzing
Sächsischer Landesbischof
Die Protestanten kriegen solchen Streit ebenfalls hin. Mehr als 800 Evangelische aus Sachsen unterschrieben bislang eine Internetpetition, die heftige Kritik am neuen sächsischen Landesbischof Carsten Rentzing übt. Auch da gehts um Sex: „In vielen Punkten“, so heißt es in dem Aufruf, „stehen wir für eine andere Kirche als die, die Pfarrer Dr. Carsten Rentzing bisher repräsentiert hat.“ Nämlich „für eine Kirche, in der alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung mit ihrer gelebten Prägung Verantwortung übernehmen können.“
Rentzing, der am Samstag in der Dresdner Kreuzkirche ins Bischofsamt eingeführt wurde, ist seit Jahren ein Wortführer konservativer Proteste gegen die landeskirchliche Regelung, dass homosexuelle Pfarrer in Ausnahmefällen gemeinsam mit dem Partner im Pfarrhaus leben können. Zwar ist diese sächsische Regelung sehr eng gefasst und viel restriktiver als die der meisten anderen Landeskirchen. Aber Rentzing findet noch das zu liberal.
„Die Bibel sagt, dass die homosexuelle Lebensweise nicht dem Willen Gottes entspricht“, sagte Rentzing der „Welt“. „Diese Aussagen der Bibel machen es mir persönlich schwer, jemandem zu raten, dass er seine Homosexualität leben solle.“
Doch fast zeitgleich mit Rentzings Amtseinführung wird die Gegenposition zu ihm von prominenten evangelischen Autoren bezogen, die ihre liberalen Ansichten eigentlich in eine offizielle Schrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hatten einbringen sollen. Aber dazu kam es nicht – und das hat mit einer weiteren Aufregung zu tun.
2013 nämlich gab es gewaltigen Streit um eine EKD-„Orientierungshilfe“ zum Thema Ehe und Familie. Viele warfen dem Text ein theologisch unklares Eheverständnis vor, nicht wenige skandalisierten die Wertschätzung homosexueller Lebenspartnerschaften. Dieser Ärger verunsicherte die Kirchenspitze so sehr, dass in der Folge der EKD-Rat eine Autorengruppe stoppte, die einen Grundsatztext zur Sexualethik schreiben sollte. Man wollte keinen neuen Zank.
Aber der könnte jetzt beginnen, weil einige Mitglieder dieser gestoppten Arbeitsgruppe ihre Überlegungen auf eigene Faust veröffentlicht haben („Unverschämt – schön. Sexualethik: evangelisch und lebensnah“; Gütersloher Verlagshaus). Die insgesamt fünf Autoren sind in oberen Kirchenkreisen hoch angesehen, zumal der Erlanger Theologieprofessor und Ethikrat-Vizechef Peter Dabrock und die Pfarrerin Stefanie Schardien.
Die Autoren wenden sich gegen Leibfeindlichkeit und plädieren für „die Wahrnehmung der Dimension des Lustvollen in der Sexualität, für die wir eine angemessene Sprache finden müssen und die so von früheren Tabuisierungen befreit wird“. Sexualität könne als eine „beglückende, in Gottes Schöpfungswillen begründete Gabe erlebt und gedeutet werden“. Hierbei stehe „aus biblischer Sicht die Eröffnung von Spielräumen des Lebens an erster Stelle, begrenzende Weisungen und klare Grenzziehungen folgen erst an zweiter Stelle“.
Bibel hat „vormodernes Geschlechterverständnis“
Müsse man somit von den Möglichkeiten ausgehen, nicht von den Regeln, habe man auch die Ehe nicht deshalb zu schätzen, weil sie verordnet sei. Blindlings befolgen könne man das biblische Ehegebot schon deshalb nicht, weil das damalige Fortpflanzungsverständnis an ein „vormodernes Gesellschafts- und Geschlechterverständnis“ gebunden gewesen sei. In biblischer Zeit habe es die Ehe „weder im Sinne des heutigen Rechtsinstituts noch als Ausdruck romantischer Liebe“ gegeben.
Daher werben die Autoren für die Ehe nicht dogmatisch dekretierend, sondern begründend. Die Ehe sei ein besonders guter „Schutzrahmen“ für die Entfaltung der Sexualität. Für Sex in Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Verantwortung, in „Freiwilligkeit, Achtung vor Andersheit, Ermöglichung gleicher Verwirklichungschancen, Bereitschaft zur Treue und zum Neuanfang“ sowie „Schutz der Beteiligten, Wohltun und Suche nach Lebenszufriedenheit“.
Allerdings erklären die Autoren nicht, dass Sexualität nur in der Ehe zulässig sei. Zumal Jugendlichen wird zugestanden, dass sie ihre Liebesbeziehungen „als zeitlich begrenztes Übungsfeld für den Erwerb sexueller und partnerschaftlicher Kompetenzen“ verstehen. „In aufeinanderfolgenden, zunehmend länger andauernden Beziehungen steigt bei der Mehrheit die Intensität von Liebe und Partnerschaft.“
Dürften dem die meisten Kirchenmitglieder genauso zustimmen wie der Wertschätzung homosexueller Lebenspartnerschaften, so werden es viele mindestens gewöhnungsbedürftig finden, das hier keine Fundamentalverdikte über Sadomasochismus, Pornografie und Prostitution verhängt werden. Zwar finden die Autoren all das grundsätzlich „fragwürdig“ und lehnen es scharf ab, sobald dabei Gewalt, Ausbeutung oder Verachtung im Spiel sind.
Aber „solange die Kriterien von Freiwilligkeit, Lebensdienlichkeit und Schutz der Beteiligten gewahrt bleiben, müssen sadomasochistische Neigungen moralisch nicht verworfen werden“, schreiben sie. Bei der Pornografie verweisen sie darauf, dass „nicht mehr jedes Erzeugnis per se gewaltverherrlichend und frauenfeindlich ist“.
Die EKD-Spitze reagiert zurückhaltend
Und was die Prostitution betreffe, so sei die zwar fast durchweg abzulehnen, könne aber zumal für Behinderte die einzige Möglichkeit sein, sexuelle Erfahrungen mit anderen Menschen zu machen. Daher lehnen es die Autoren nicht ab, dass manche Behinderte die Dienste bezahlter „Sexualassistentinnen“ in Anspruch nehmen.
Dass solche Überlegungen für neue Aufregung sorgen können, scheint den Autoren bewusst zu sein. Wenn sie fordern, „den Umgang mit Sexualität nicht zu einer Frage des Heils zu überhöhen“, wirkt das wie der Wunsch, es möge kein weiterer Grundsatzstreit losbrechen.
Die EKD-Spitze hält das wohl für einen frommen Wunsch und achtet bei der Bewertung des Buches auf größte Zurückhaltung. Man begrüße es als „Beitrag zu der in Kirche und Gesellschaft geführten Debatte, die die Vielfalt der Stimmen braucht“, sagte eine EKD-Sprecherin über das Buch und fügte hinzu, was da sonst noch gebraucht wird: „Zeit und die Bereitschaft, sehr sorgfältig und respektvoll aufeinander zu hören“. Das lässt sich als Warnung vor abermaliger Aufregung verstehen.