Wie Madonna die Welt der Musikvideos revolutionierte
Eine italienischstämmige Katholikin wusste im Videozeitalter die Macht der Bilder perfekt zu nutzen – und wurde zur Königin des Pop
Es gibt Songs über weibliche Selbstbestimmung, die ihre Forderung bereits im Titel tragen, wie „You Don’t Own Me“ von Lesley Gore, „These Boots Are Made For Walking“ von Nancy Sinatra oder „Respect“ von Aretha Franklin – die Otis Reddings Vorlage zu einer feministischen Hymne umdichtete. Die Songs stammen aus den 1960ern. Sie sind Klassiker, die jeder mitsingen kann, deren Botschaft sofort verstanden wird, damals vertrieben über Radio, Schallplatte, Konzerte, und, seltener, TV-Auftritte. Franklin gelang mit ihrem Cover, anders als Redding, ein Nummer-eins-Hit in den US-Billboard-Charts.
Nur eines hatten diese drei Sängerinnen nicht: ein Musikvideo. Heute unvorstellbar, aber es gab bis zur Gründung von MTV 1981 unzählige Lieder, die alle kannten, deren Interpretin man aber nie im Fernsehen gesehen hatte. Das sollte sich ab Sendebeginn des „Music Television“ schnell ändern.
Madonnas „Like a Virgin“ war 1984 ein Song, dessen Melodie man nicht nur überall hörte. Es war ein Song, den jeder überall sah. Das Video lief auf MTV, das ausschließlich Musikvideos zeigte, in „Heavy Rotation“, was damals bis zu sechs Mal pro Tag bedeutete. Die 26-jährige Katholikin Madonna Louise Ciccone trägt darin ein Brautkleid, behängt mit Kruzifixen. Sie fährt auf einer Gondel durch Venedig und singt davon, geliebt zu werden, wie beim ersten Mal, als sie ihre Jungfräulichkeit verlor. Am Ende verführt sie einen Mann mit Löwenmaske.
Das ironische Spiel mit Erwartungen – ein tiefgläubiger Mensch feiert nun die körperliche Liebe – wurde Teil ihrer Identität. Das Wort „Selbstermächtigung“ wird inflationär verwendet, aber Madonna war so eine selbstermächtigte Nachfolgerin von revolutionären Vorbildern wie Aretha. Dafür konnte sie mit „Like a Virgin“ sogar einen Songtitel nutzen, der das Gegenteil von „Selbstermächtigung“ suggeriert: eine vom Mann abhängige Lustentfaltung. Denn Madonna hatte ja das Video. Und das drehte die Verhältnisse um.
Hat MTV darüber entschieden, wer Star wird und wer nicht?
Kleine Madonnas waren überall. In Dauerrotation gespielte Musikvideos vereinfachen die Identifikation mit Idolen. Posen lassen sich abschauen, können einstudiert werden, Kostüme und Make-Up werden nachgeschneidert, nachgekauft. Für diese Fan-Studien war auch die Pause-Taste des ab den 1980er-Jahren florierenden VHS-Rekorders gut.
Hat MTV darüber entschieden, wer Star wird und wer nicht? Eher nicht. One-Hit-Wonder wie Dee-Lite oder Bobby McFerrin drehten mit „Groove is in the Heart“ bzw. „Don’t Worry Be Happy“ kreativ inszenierte Videos für die Heavy Rotation, blieben aber allein deshalb One-Hit-Wonder, weil sie nicht genügend gute Lieder komponierten. Michael Jackson wiederum, der größte Künstler des MTV-Zeitalters, war schon seit den späten 1960ern berühmt. Bis heute darf spekuliert werden, was er auch ohne MTV geschafft hätte.
Aber wie Madonna profitierte auch er vom Musiksender. Jackson nutzte seine Clips ab dem „Thriller“-Album von 1982 für eine Image-wechsel-dich-Revue, die ihresgleichen sucht. Das „Thriller“-Video kostete die Rekordsumme von 500.000 Dollar und sah aus wie ein Kinofilm. Es entstand unter der Regie John Landis‘, wurde von Maskenbildner-Koryphäe Rick Baker betreut und forcierte MTV durch die Spieldauer von 14 Minuten zum Nachdenken über zulässige Laufzeiten im Programm (aber nicht lange – meist wurde die gekürzte 5-Minuten-Fassung von „Thriller“ gezeigt).
Innerhalb dieser knappen „Thriller“-Viertelstunde verwandelte Jackson sich in einen Werwolf, dann in einen Zombie, und am Ende zurück in einen Menschen und dann doch noch einmal in einen Werwolf. Eindrücke, die man kaum erwartet hätte – und durch den Song auf Platte nicht hätten vermittelt werden können, Jacksons Stimme macht einem keine Angst. Im Gegensatz zu Madonna mit ihren Aufsteigerinnengeschichten verkörperte er Traumfiguren.
Umso missglückter war sein „Bad“-Video von 1987, gedreht von Martin Scorsese, gar 18 Minuten lang, eine Studie über Identitätskrisen benachteiligter Afroamerikaner, die ihre Probleme in schillernden Nietenkostümen wegtanzen. Aber: Auch diesen Clip schauten damals alle, und Jacksons Street-Gang-Uniform war Dresscode seiner „Bad“- Tourneemusiker. Zum ersten Mal gesehen auf MTV.
Madonna sollte nach „Like a Virgin“ noch zweimal mit ihren Videos die „Grenzen des Erlaubten“ ausloten. Wie anders die Welt noch im Jahr 1989 tickte, wie anti-modern die Welt war, bewies der lächerliche Skandal, den Madonna – unbewusst? – mit ihrem „Like a Prayer“-Video lostrat.
Darin präsentierte sie Stigmata an ihren Händen, posierte vor brennenden Kreuzen und küsste einen Jesus-Darsteller, der dunkelhäutig ist. Erneut also: Provokation durch Vereinbarkeit von Glauben und Erotik. Christliche Verbände drohten mit Boykott von MTV sowie Pepsi, die „Like a Prayer“ für eine Werbekampagne eingekauft hatten. MTV zeigte das Video dennoch – in Heavy Rotation, und „Like a Prayer“ bescherte Madonna einen Nummer-eins-Hit.
Im Jahr darauf veröffentlichte sie „Justify My Love“, damals als „Sex-Video“ gepriesen. Madonna und ihre Posse in innigen Posen. In der nach Mehrheitsurteil „härtesten“ Szene liegt sie auf einem trans Mann und küsst ihn. Es war die Zeit, in der Aids ein Todesurteil bedeutete – Madonna wurde vorgeworfen, sie setze sich für Promiskuität ein.
MTV verweigerte diesmal den Support, Moderator Kurt Loder klärte auf: „Als die Programmchefs einen Blick auf die Bettszenen, das schwule und lesbische Kuscheln, S&M und die kurz entblößten weiblichen Brüste warfen, entschieden sie sich gegen die Ausstrahlung.“ Solche Aufreger gab es noch 1990. Jedes Video von Janelle Monae ist heute expliziter. Aber auch Monae ist vielleicht eine Erbin Madonnas.
Nur bekommen das immer weniger Leute mit. Musikvideos spielen keine Rolle mehr. Madonnas „Like a Virgin“-Clip war in den 1980er-Jahren so bekannt wie das Lied selbst, Michael Jacksons „Thriller“ auch. Das Video von „Take On Me“ ist vielleicht noch größer als der Song von A-ha, und bei „Dancing in the Dark“ denkt man nicht nur an den Boss, sondern auch an Courtney Cox.
Die größten Superstars unserer Zeit – Taylor Swift, Adele, Beyoncé, Harry Styles – definieren sich nicht über Musikvideos, lassen sie bei vielen Single-Auskopplungen weg. Childish Gambinos „This Is America“ von 2019 klagte mit seinen Gewaltszenen den Rassismus in den USA an, wurde zwei Tage lang diskutiert und verpuffte dann.
Ist das Musikvideo tot?
Das liegt auch am digitalen Zeitalter. In der VHS-Ära bis in die Nullerjahre gab es nur DEN einen Clip zum Song, und das Fernsehen verlief linear, es gab keine Mediatheken, man musste zu bestimmten Zeiten „einschalten“. Auch das machte Videos wie „Like a Virgin“ zu Events, bei denen Millionen vor ihren Geräten saßen, weil man den Ausstrahlungszeitpunkt nicht verpassen dufte. Heute schwirren nach jedem Taylor-Swift-Konzert unzählige, auf ewig verfügbare Videoschnipsel im Netz. Man ist sein eigener Regisseur und stellt seinen Clip, der ungefilterte Eindrücke vermittelt, Millionen Usern zur Verfügung.
Ist das Musikvideo tot? Das nun auch nicht. Aber MTV wurde durch YouTube abgelöst. Newsseiten vermelden jedes Video, das sich dem „Billion Views Club“ anschließt, mehr als eine Milliarde Mal gestreamt wurde. Das ist die neue Währung, und viele nutzen YouTube nicht mal als Video- sondern Audiodienst, wollen hören statt sehen.
Das älteste Video in der Milliarden-Top-Ten ist „Axel F.“ vom Crazy Frog aus dem Jahr 2009, das erfolgreichste der „Baby Shark Dance“ der südkoreanischen TV-Gesellschaft Pingfong: 14,5 Milliarden Streams. Madonna taucht nicht mal in den Top 30 auf. Ihr populärster Clip: „La Isla Bonita“ von 1986 mit rund 911 Millionen Abrufen.
Dafür weiß jeder Madonna-Fan noch, welches Flamenco-Kleid sie darin trägt, und wie sie durch die Straßen eines Barrio tanzt. Und was macht Crazy Frog so?