Wie liest sich die schöne neue Welt?

Anlässlich der Leipziger Buchmesse blicken wir auf die spannendsten literarischen Veröffentlichungen des Frühjahrs und fragen uns, wie es um die Popliteratur steht.

Mit Texten von Maik Brüggemeyer, Alexander Müller, Joachim Hentschel, Rainer Schmidt, Arne Willander, Birgit Fuß, Torsten Groß und Max Gösche

Das Wort ist immer noch regelmäßig in den Feuilletons und Blogs und Zeitschriften anzutreffen, aber was bedeutet es eigentlich: Popliteratur?Definitionsversuche hat es viele gegeben, seit der amerikanische Literaturkritiker Leslie Fiedler diesen Begriff Ende der Sechziger für eine Literatur „von unten“ prägte und Rolf Dieter Brinkmann ihn wenig später als Bezeichnung für eine neue junge deutsche Literatur importierte.

Popliteratur bilde das spezifische Lebensgefühl einer jungen Generation ab, hieß es etwa, sie schöpfe aus dem Zeichenfundus des Pop – also aus Musik, Film, Pulp Fiction, Mode -, sie sei gegenkulturell motiviert und archiviere all die scheinbar profanen Dingen, die die Hochkultur links liegen lasse.

Nun ist ja mittlerweile die ganze Welt mit popkulturellen Symbolen überklebt, das jugendliche Lebensgefühl bewahrt sich jeder bis zur Bahre, und die Strategien der Gegenkultur hat die sogenannte Kulturindustrie längst für sich adaptiert. Kurz: Der Begriff Pop bedeutet alles und somit nichts mehr, die Welt ist ein medial inszeniertes und ironisiertes Dschungelcamp, aus dem man nicht entkommen kann.

Doch wie geht man schreibend um mit dieser Welt? Das ist die Frage, die sich durch unser Frühjahrs-Bücherspecial zieht. Wir sprachen darüber mit dem amerikanischen Schriftsteller Jonathan Lethem, der in seinem grandiosen, gerade in deutscher Sprache erschienenen Roman „Chronic City“ versucht, eine Antwort darauf zu geben. Zudem werfen wir einen Blick auf das Verlagsuniversum des Lethem-Freunds Dave Eggers, das für viele die große Hoffnung der Literatur verkörpert. Heinrich Steinfest, der gerade einen „Stuttgart 21“-Krimi geschrieben hat, erläutert seine Vorliebe für die Groteske, der literarische Allrounder Sven Regener erzählt von seinen Ausflügen in die Blog-Literatur. Chuck, der 37 Jahre nach einem ersten Auftritt in Wolf Wondratscheks gegenkulturellem Klassiker „Chuck’s Zimmer“ in die Literatur zurückkehrt, gibt sein allererstes Interview. mb

Jonathan Lethem

Das späte Wunderkind

Der US-Autor über seinen neuen Roman „Chronic City“, Kunst und Pop, Virtualität und Wirklichkeit, revolutionäre Gedanken und die erleuchtende Wirkung eines guten Joints.

Von Maik Brüggemeyer

Mit dem aberwitzigen Detektivroman „Motherless Brooklyn“ und dem biografisch inspirierten „Die Festung der Einsamkeit“ gelang Jonathan Lethem Anfang des Jahrtausends der literarische Durchbruch. In seinen Romanen und Kurzgeschichten verschränkt der 47-jährige das Literarische mit dem Profanen, detailtreuen Realismus mit Comic- und Pulp-Elementen, zudem schrieb er kluge, persönlich gefärbte Essays zu Film, Musik und Literatur. Für den Rolling Stone interviewte er Bob Dylan, für Marvel Comics ließ er seinen in Teenagertagen verehrten und vollkommen erfolglosen Comic-Superhelden „Omega The Unknown“ wieder aufleben.

In seinem neuen Roman „Chronic City“ (Tropen, 24,95 Euro) wagt sich der Autor aus Brooklyn über den East River und zeichnet ein surreales Bild des heutigen Manhattan. An der Upper East Side lebt der ehemalige Rockkritiker Perkus Tooth. Sein mit Platten und Büchern vollgestopftes mietpreisgebundenes Apartment ist der letzte Hort des Authentischen und Subversiven in einem vollkommen virtualisierten und kommerzialisierten New York. Doch als er den ehemaligen Kinderstar Chase Insteadman kennenlernt, der mittlerweile eine zweifelhafte Existenz in den Klatschspalten der „war free edition“ der „New York Times“ führt, gerät seine geordnete Welt ins Wanken.

„Chronic City“ ist für den Autor Lethem auch eine Art Abschied von seiner Heimat an der Ostküste. Im vergangenen Jahr zog er mit seiner Familie nach Kalifornien, wo er vor wenigen Wochen eine Professur für Creative Writing am Pomona College in Claremont antrat.

Sie sind in Pomona der Nachfolger von David Foster Wallace, der den Lehrstuhl bis zu seinem Tod innehatte. Kannten Sie ihn persönlich?

Nein, man könnte sagen, uns verbindet eine langwährende Nicht-Bekanntschaft. Vor 25 Jahren, als wir beide am gleichen College studierten, erwähnten gemeinsame Bekannte ihn öfter und meinten, wir müssten uns unbedingt kennenlernen. Aber irgendwie ist es nie dazu gekommen. Und dann hat er seine ersten Texte publiziert und wurde für mich sehr bedeutend und wichtig. Das war lange bevor ich selbst Schriftsteller wurde. Ironie des Schicksals, dass diese seltsame Nicht-Bekanntschaft sich nun fortsetzt und ich hier quasi in seine Fußstapfen trete.

In Ihrem neuen Roman „Chronic City“ taucht ein Roman mit dem Titel „Obstinate Dust“ auf, der einige Protagonisten schicksalhaft verbindet. Offensichtlich eine Referenz an Foster Wallaces „Infinite Jest“.

Ja, einerseits ist das eine Anspielung auf Wallaces Werk, aber auch auf die Texte von Samuel Delaney und Michael Brodsky und anderer Autoren, die diese herrlich unmöglichen Bücher geschrieben haben, die selbst für die verführerisch aufgeladen waren, die sie nie gelesen haben. Diese indirekte Referenz war schon im Buch, bevor er starb, und als ich von seinem Selbstmord erfuhr, war ich mir zunächst nicht sicher, ob ich sie drin lassen sollte. Aber wenn ich sie herausgenommen hätte, hätte ich ja quasi seinem Wunsch, von der Erde zu verschwinden, entsprochen.

David Foster Wallace hat schon 1990 einen hervorragenden Essay über Fernsehen und Literatur geschrieben, in dem er erklärt, wie sehr die postmoderne amerikanische Literatur vom Fernsehen gelernt hat. Eigentlich sei das ein versteckter Realismus, der die Wirklichkeit so abbildet, wie sie im Fernsehen repräsentiert wird. Sie zitieren einige Passagen daraus in „Chronic City“. Gehört ihre Literatur nicht auch in diese Kategorie?

Der Essay beschreibt die literarische Landschaft, in der ich zwangsläufig auch operiere, ziemlich überzeugend, aber er ist nach 20 Jahren auch nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Damals gab es zum Beispiel noch kein Internet. Und obwohl der Aufsatz einige allgemeine Aussagen über den Stand der US-Literatur enthält, ist es doch auch eine sehr persönliche Beschreibung davon, wie Wallace sich selbst fühlte, wenn er schrieb. Und auch wenn ich keinem Wort in diesem Aufsatz widersprechen würde, fühlt es sich bei mir doch anders an.

Er hatte alles in allem eine analytischere Herangehensweise als Sie.

Wir hatten sehr unterschiedliche Haltungen zur Kultur, das kann man sagen. Er war ein Philosoph, und sein Weg in die Literatur war ein wissenschaftlicher, sehr gelehrt und kopfgesteuert, ich komme aus einer eher randständigen, bohemehaften Position und war von Beginn an in den Künsten zu Hause. Mein Vater war Maler, ich war Maler. Ich habe erst ganz spät angefangen, philosophische Texte zu lesen, geschweige denn zu verstehen. Meine Arbeit hat ihre Wurzeln im künstlerischen Schöpfungsprozess, in der konkreten Ausübung von Kunst, nicht in der Reflektion über Konzepte, Bezugssysteme oder philosophische Kategorien. Das hat sich nicht geändert, als ich von der Leinwand zum Bücherschreiben gewechselt habe. Ich habe meine Arbeit immer noch als Anfertigung eines Artefaktes gesehen, das Leute erleben sollen.

Könnte man sagen, dass der Ausgangspunkt Ihres Schreibens immer noch die erste Begegnung mit der Popkultur, mit Musik, Filmen, Comics ist?

Im Grunde genommen stimmt das natürlich, aber ich kämpfe in letzter Zeit gegen das Wort Popkultur. Ich glaube, es bedeutet mittlerweile nichts mehr. Es bezeichnet Dinge, die man schätzt, und Dinge, die ganz fürchterlicher Mist sind.

Und das bringt dann Schwierigkeiten, weil der Popkultur-Aficionado natürlich eigentlich überhaupt nicht am Populären interessiert ist, sondern eine ziemlich elitäre Haltung hat.

Stimmt. Pop ist in sich genauso elitär wie die Leute, die das Wort Pop benutzen, um bestimmte Kunstwerke von der sogenannten Hochkultur abzugrenzen. Ich habe eine sehr undifferenzierte, lebendige, persönliche und intime Beziehung zu kulturellem Material – und dazu gehören auch B-Movies, Popsongs und Film Noir, und wenn die gut sind, sind sie einfach Kunst. Egal ob Street Art oder Comics oder Rock’n’Roll.

Trotzdem ist vieles von dem, was Sie schätzen, Produkt der Kulturindustrie, massengefertigtes Konsumgut. Sollte man das reflektieren, wenn man darüber schreibt?

Das stimmt. Aber bei einigen Dingen, die ich besonders mag, hat der Massenkonsum niemals stattgefunden. (lacht) Ein Grund, warum ich den Begriff Popkultur ablehne ist, weil vieles von dem nie populär geworden ist. Daraus wurde keine Massenkultur, sondern ein Kult. Aber natürlich zieht es seine Energie trotzdem aus seiner Beziehung zu der Idee eines Massenpublikums und der Idee von Popularität.

Ihnen scheint der große Erfolg auch zu widerstreben. Nach dem erfolgreichen, literarisch ambitionierten „Festung der Einsamkeit“ haben Sie die Erwartungen unterlaufen und den schmalen und leichtgewichtigen kalifornischen Indie-Pop-Roman „Du liebst mich, du liebst mich nicht“ veröffentlicht. Das erinnert an die Strategie von Bob Dylan Ende der Sechziger …

Da haben Sie mich gerade sehr glücklich gemacht, denn das ist das beste Licht, in das man mein Werk stellen kann. (lacht) Bob Dylan würde vermutlich dasselbe sagen: Ich bin nur Instinkten und Impulsen gefolgt und habe nach Dingen gegriffen, denen ich nicht widerstehen konnte. Aber es stimmt natürlich, man kann da eine Art Flucht erkennen. In dem Moment, in dem man mich als diesen Brooklyn-Autor identifizieren konnte, musste ich dieses Bild zerstören.

Sie haben über New York gesagt, es sei eher ein Konzept als eine reale Stadt – gilt das auch für Kalifornien?

Kalifornien ist natürlich auch vor allem ein Konzept. Es ist die ultimative Auflösung des Grenzlandes, hier geht Amerika zu Ende. Hier muss es perfekt sein, denn weiter kann man nicht gehen, dann wäre man im Ozean. Wir sind endlich in der amerikanischen Utopie angekommen. (lacht)

Bret Easton Ellis hat gesagt, er fühle sich viel schlauer, seit er in L.A. wohnt, weil er nicht mehr mit den New Yorker Intellektuellen ausgehen muss.

(lacht) Großartig. Das ist Bret, wie er leibt und lebt. Perfekt. So habe ich das noch nicht gesehen. Aber ich bin ja hier auch an der Uni – in meiner unmittelbaren Umgebung sind daher alle schlauer als ich.

Mögen Sie seine Bücher? Ellis war von Anfang an vor allem an Oberflächen interessiert und pflegt eine sehr zynische Sicht auf die Dinge. Sie gehen den Dingen auf den Grund, ihre Charaktere sind Sinnsucher.

Ich habe ein sehr seltsames Verhältnis zu Bret. Wir sind seit dem College befreundet. Es ist fast das Gegenstück zu meiner Beziehung zu David Foster Wallace. In diesem Fall ist seine Persönlichkeit so interessant und überzeugend und inspirierend für mich, dass sein Schreiben eine untergeordnete Rolle spielt. Schon als ich ihn mit 18 kennenlernte, war er brillant. Ein Wunderkind. Das hat mich stark beeinflusst, denn bis dahin habe ich die Idee gehabt, ich sei ein Wunderkind. (lacht) Bret hat eine ähnliche Erfahrung gemacht wie Bob Dylan – er war im Ruhm gefangen, ohne die Chance zu haben, erst mal erwachsen zu werden. Ich habe mich dagegen eher langsam auf Nebenstraßen in die Öffentlichkeit bewegt, und ich hatte die Chance, wegzulaufen, bevor man mich fangen konnte.

Eine Figur wie Ihr Held Perkus Tooth wäre Ellis jedenfalls sehr fremd. Perkus sucht in der Scheinwelt Manhattans nach dem Wahren und Schönen und wird dabei ziemlich bald verrückt.

In gewisser Weise ist das eine Auseinandersetzung mit mir selbst, zwischen dem Wert, den ich Begriffen wie Authentizität beimesse und der Bereitschaft, sich damit abzufinden, dass es so etwas in unserer heutigen Zeit nicht mehr gibt. Ich glaube, das Spiel, zwischen Wirklichem und Unwirklichem unterscheiden zu können, ist vorbei, wenn es überhaupt je begonnen hat. Wir leben in einer Welt voller Träume, Ideologien und Täuschungen, und trotzdem müssen wir morgens mit dem Hund rausgehen und seine Scheiße wegmachen. Die Aufgabe besteht heutzutage darin, zu erkennen, dass alles real und virtuell zugleich ist. Die Kategorien durchdringen sich.

Sie zitieren in „Chronic City“ den populären slowenischen Philosophen Slavoj x{017d}ix{017e}ek, der sich ähnlich obsessiv mit dem Realen im fiktionalen Raum auseinandersetzt wie Perkus.

Perkus habe ich nach dem Vorbild von insgesamt vermutlich etwa 15 Personen geschaffen – er hat Teile von mir, von Leuten, über die ich gelesen habe, von fiktionalen Charakteren. Und über allem steht x{017d}ix{017e}ek, weil ich ihn eine Zeit lang sehr intensiv gelesen habe. Er hat die großartige Fähigkeit, meine Gedanken zu revolutionieren, während ich einen seiner Texte lese, aber wenn ich die Seite umblättere oder das Buch zuklappe, ist alles sofort wieder verschwunden. Ich sehe in x{017d}ix{017e}ek eine Art Droge.

Kiffen die Protagonisten in „Chronic City“ deshalb so viel?

Für mich ist Marihuana einerseits ein reales Produkt, aber andererseits eine Metapher für eine Epiphanie. Für einen Moment hat man das Gefühl, den Schleier zu lüften und zu sehen, was hinter allem steckt. Aber diese Ahnung verfliegt sehr schnell wieder, und am Ende bleiben Hunger und Irritation und Müdigkeit. Man braucht – so wie Perkus – einen Hamburger, und dann schläft man ein. Am nächsten Tag kann man sich dann dummerweise nicht mehr erinnern, was hinter dem Schleier war. Man mag denken, x{017d}ix{017e}ek zu lesen, sei anspruchsvoller, als einen Joint zu rauchen oder eine wilde Verschwörungstheorie zu entwickeln, die beweist, dass Marlon Brando noch lebt und in den Sechzigern JFK ermordet hat. Aber diese Phänomene haben einiges gemeinsam, sie handeln von der Verlockung, das alltägliche Leben zu verändern und auf etwas auszurichten, was darüber hinausgeht und alles erklärt. Was immer das heißt.

Sie beschreiben in „Chronic City“ eine Bibliothek, in der alle Bücher leer sind und erst mit Inhalt gefüllt werden, wenn man sie in die Hand nimmt. Das ist nicht weit vom iPad entfernt. Werden Bücher irgendwann nur noch Möbelstücke sein, und wir lesen dann nur noch digital?

(lacht) Ja, da habe ich unbeabsichtigt das E-Book beschrieben. Ich habe viel darüber nachgedacht, weil ich oft danach gefragt werde, obwohl ich da natürlich nicht mehr weiß als die anderen auch. Neue Technologien scheinen immer auch Ängste auszulösen – aber als das Kino aufkam, hatte man Angst ums Theater, als das Fernsehen kam, hatte man Angst ums Kino, als das Radio kam, hatte man Angst um Bücher. Und es existiert alles noch. Bücher sind tief in der menschlichen Kultur verwurzelt. Sie sind quasi Teil des menschlichen Körpers geworden, schon Kinder beginnen ja, in Bilderbüchern zu blättern. Bücher werden bleiben.

Dave Eggers

Der Herr der guten Worte

Dave Eggers ist nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller, sondern zugleich der Kopf eines alternativen Medienimperiums.

Von Alexander Müller

Die 36. Ausgabe der Literaturzeitschrift „Timothy McSweeney’s Quarterly Concern“, (kurz: „McSweeney’s“) ist eine kleine Schatzkiste. Eine quadratische Box, die den Kopf eines schnurrbärtigen, rotgesichtigen Mannes mit grünen Augen darstellt, der sardonisch lächelt. Öffnet man den Deckel, blickt man in jenes geordnete Chaos, das wohl in jedem Hirnkasten herrscht: Unfertiges, Schönes, Ernsthaftes, Kaputtes, Trauriges und Komisches vermischen sich da. Unter anderem vier Kapitel eines unvollendeten Romans von Michael Chabon namens „Fountain City“, den er nach langjähriger Arbeit als gescheitert betrachtet; eine handschriftliche und von der Autorin Sophia Cara Frydman selbst illustrierte Kurzgeschichte; ein Theaterstück von Wajahat Ali, das von einem Tag im Leben einer modernen muslimischen Familie in Amerika handelt; eine vierteilige gezeichnete Postkartenserie von Ian Huebert, die ein groteskes U-Boot in Gestalt eines Fisches zeigt; oder auch eine winzige, allerdings einen Meter lange Rolle mit Glückskekssprüchen, wie man sie sich in jedem Chinarestaurant dieser Erde wünschen würde: „Oliver Platt is your real dad. Sorry for the late notice“, lautet ihre erste Weisheit.

Der Mann, der solch wahnwitzige Publikationen ermöglicht, heißt Dave Eggers. Als er gerade einmal 30 Jahre alt war, veröffentlichte er einen autobiografischen Roman, in dem er die Zeit nach dem Krebstod seiner Eltern verarbeitete und beschrieb, wie er sich von da an um seinen jüngeren Bruder kümmerte. Was nach trübsinniger Nabelschau klingt, kam als zutiefst menschliche, humoristische Tragödie daher. „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ wurde zum internationalen Bestseller.

Getreu dem alten Buchmessenwitz, wonach man ein kleines Vermögen macht, indem man ein großes Vermögen nimmt und damit einen Verlag gründet, investierte der 1970 in Chicago geborene Wahlkalifornier sein Geld größtenteils ins Büchermachen. Er wollte es jedoch anders angehen als viele andere, geschmackvoller, besser und außergewöhnlicher. „McSweeney’s“, das vierteljährlich Short Stories und Romanauszüge so namhafter Autoren wie Denis Johnson, Jonathan Franzen und Steven Millhauser präsentiert, erfindet sich etwa mit jeder Ausgabe neu. So kam Nr. 33 als „The San Francisco Panorama“, eine mehr als üppige Zeitung samt umfassender Comic- und Literaturbeilage. Darin unterhält sich Miranda July mit Schauspieler James Franco, Stephen King berichtet im Sportteil über die Baseball-World Series, und William T. Vollmann liefert eine ausführliche Reportage über Goldgräber und Indianer. Die reichhaltige, aber auch ein wenig nostalgisch anmutende Gazette bildete den wohl kreativsten Beitrag zu einer neuerlich entfachten Debatte über die Zukunft der Printmedien.

Zu Eggers‘ alternativem Medienimperium gehören außerdem ein monatlich erscheinendes Kulturmagazin mit dem Titel „The Believer“, das vor weitschweifigen Artikeln nicht zurückschreckt, sowie das DVD-Magazin „Wolphin“, in dem angesagte Regisseure wie Steven Soderbergh, Gus Van Sant oder Spike Jonze experimentelle Kurzfilme präsentieren. Nicht zu vergessen natürlich der ganz normale Verlag, der ganz und gar nicht normale Bücher unter die Leute bringt: Tintenbekleckste Skizzenblöcke von „Maus“-Schöpfer Art Spiegelman? Ein Werk, das die Namen von über 50.000 Metal-Bands versammelt? Oder eine in Fell eingewickelte Vorzugsausgabe von Eggers‘ Roman „The Wild Things“? Es ist alles da und noch viel mehr! Über die Edition bibliophiler Skurrilitäten hinaus versteht sich der Verlag als Entdecker der jüngeren Avantgarde. Erst kürzlich etwa sorgte Adam Levins 1.000-seitiger Debütroman „The Instructions“ für Aufregung in der amerikanischen Literaturszene. Von einem neuen David Foster Wallace war plötzlich die Rede, vom einzigartigen Talent, vom Wunderkind. Wer nach einer anspruchsvollen literarischen Herausforderung sucht, sollte sich den Namen jetzt schon einmal merken.

Gutes kann man nicht zu viel tun kann, daher hat Eggers zudem mehrere Wohltätigkeitsorganisationen ins Leben gerufen. „826 Valencia“, benannt nach der verlagseigenen Adresse in San Francisco, ist zum Beispiel eine Art gemeinnütziges Jugendzentrum, wo Kinder und Jugendliche kostenlos an Schreibworkshops teilnehmen können. Aus bürokratischen Gründen ist es übrigens angegliedert an einen Laden für Piratenbedarf, der Augenklappen, Totenkopfflaggen oder Tabletten gegen Seekrankheit feilbietet. Alles, was ein nicht mehr ganz zeitgemäßer Freibeuter eben so braucht. Das Beispiel machte jedenfalls Schule und inzwischen gibt es etliche Dependancen des Projekts in den USA, wobei der entsprechende Humor gleich mit exportiert wurde. So kann man in der New Yorker Außenstelle alles erwerben, was Superhelden für die Bewältigung ihres extraordinären Alltags benötigen.

Und dann gibt es da noch zwei Stiftungen, die sich dem Wiederaufbau von New Orleans widmen, auf die Einhaltung der Menschenrechte pochen oder sich für die Einrichtung von Schulen im Südsudan einsetzen. Sie entstanden durch persönliche Begegnungen von Dave Eggers, durch Recherchen, die wiederum in kritische und eindrückliche Sachbücher und Romane mündeten. Eggers ist und bleibt ein Gutmensch, aber einer von der Sorte, die man ernst nehmen und einfach mögen muss. Seine Tantiemen für „Weit gegangen“ und „Zeitoun“ (KiWi, 19,95 Euro), das soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist, fließen direkt in die Stiftungsarbeit. Die wahre Geschichte einer amerikanisch-syrischen Familie, die nach dem Hurrikan Katrina unversehens ins Visier amerikanischer Terrorismusfahnder gerät, sollte auch hierzulande auf großes Interesse stoßen.

Morgens an einem Buch schreiben, mittags eine neue Zeitschrift entwerfen, nachmittags zumindest einen Teil der Welt retten, zwischendurch dem Rockmusiker Beck ein paar Sätze aufs Album quatschen, sich abends um Frau und Kinder kümmern und nachts davon träumen, was man mit einem Tag alles anstellen könnte, der ein paar Stunden mehr hätte als von der Natur vorgegeben – so könnte der typische Tagesablauf von Dave Eggers aussehen. Dass ihm und seinen Mitarbeitern die Ideen nicht ausgehen, ist so sicher wie der Tod und die Steuer. Glücklicherweise lassen sie uns ab und an in ihre Köpfe schauen.

Sven Regener

Kürbis statt Politik

Der Element-Of-Crime-Sänger und Buchautor über seine literarischen Blogs und das Missverständnis mit der Popliteratur.

Von Maik Brüggemeyer

Er scheint sich in jedem literarischen Genre wohl zu fühlen. Als Songschreiber kann dem Element-Of-Crime-Sänger hierzulande eh kaum jemand das Wasser reichen, mit der Romantrilogie um Herrn Lehmann stürmte er die Bestsellerlisten und auch als Blog-Autor ist Sven Regener gefragt. Seine überaus amüsanten gesammelten Internet-Tagebücher aus den Jahren 2005 bis 2010 erscheinen am 14. März unter dem Titel „Meine Jahre mit Hamburg-Heiner. Logbücher“ (Galiani, 14,95 Euro).

Glauben Sie, dass Element Of Crime durch Ihre außermusikalischen Tätigkeiten noch mal an Popularität gewonnen haben?

Sicher haben wir an Bekanntheit gewonnen. Element Of Crime kennt man ja nur, wenn man sich für diese Art von Musik interessiert. Das heißt natürlich, dass viele Leute erst durch den Klappentext meiner Bücher erfahren haben, dass es diese Band überhaupt gibt. Das heißt aber nicht, dass sie dann die Musik auch mögen.

Ist Ihnen das Schreiben im Blog-Format leichtgefallen?

Man muss die richtige Form finden. Es gibt da mehrere Möglichkeiten. Man kann erzählen, was einem in diesem Moment so durch die Birne rauscht. Das ist klassisches Tagebuch. Oder man hat ein bestimmtes Thema und verfolgt das über die Zeit, so wie Stefan Niggemeier (von bildblog.de). Und dann gibt’s noch das literarische Blog, das ist eine sehr freie Form und die einzige, die für mich in Frage kam. Tagebücher an sich sind ja im Grunde entsetzlich langweilig.

Was halten Sie von Rainald Goetz?

Das ist noch mal was anderes, weil es ihm darum geht – wie der Titel „Abfall für alle“ ja schon suggeriert -, den Schaffensprozess nach außen zu tragen. Das ist natürlich auch eine Möglichkeit. Hat mich persönlich aber auch nicht interessiert, weil ich über so was nicht so gern rede. Und da habe ich mir quasi eine Wirklichkeit konstruiert.

Ihre Blogs sind also eigentlich die pure Fiktion?

Wirklich spannend ist es, wenn man in dieser Form, die zumindest oberflächlich so tut, als ginge es da um reale Dinge, Fakten mit Ausgedachtem mischt. Dabei entsteht eine seltsame psychedelische Wahrheit. Das ist ein bisschen so, als würde man von einem Drogentrip berichten. Und plötzlich läuft alles aus dem Ruder, und die Realität kriegt so einen Knick. Diese Freiheit macht Spaß. Gesetzt den Fall, man tut gar nicht erst so, als würde man was Relevantes schreiben.

Welche Rolle spielt Ihr Alter Ego Hamburg-Heiner?

Bei meinem allerersten Blog ging mir schon nach einem Tag die Luft aus. Da habe ich überlegt, ich lasse einfach einen anrufen und führe mit dem einen imaginären Dialog. Das war die Geburt von Hamburg-Heiner.

Ihre Songs haben eine zeitlose Qualität, Ihre Romane spielen in den Achtzigern. War es eine Umstellung, sich im schnelllebigen Blog nun ständig auf der Höhe der Zeit bewegen zu müssen?

Wenn ich ehrlich bin, ging es mir auch beim Blog nicht um Aktualität. Deswegen kann man das auch heute noch lesen, und es funktioniert auch in Buchform. Auf den Wahlsonntag 2009 bin ich zum Beispiel gar nicht eingegangen, das war nicht Gegenstand dieses Blogs. Stattdessen habe ich an dem Tag von einer Kürbisausstellung in Brandenburg berichtet – was wirklich faszinierend war. Allerdings gab es dann noch einen Anruf von Hamburg-Heiner, in dem er mich für dieses Versäumnis ausschimpft.

An einer Stelle schreiben Sie von Ihren neuen Schuhen und fügen hinzu, „würde ich jetzt noch die Marke nennen, wäre das hier Popliteratur“.

Stimmt! Was ich aber noch vergessen habe: Ich hätte die Marke gar nicht lesen können, weil die festen Einlagen schon reingeklebt waren. (lacht) Aber mich interessieren Marken eh nicht. Etwa die Barbour-Jacke (die in Christian Krachts Roman „Faserland“ eine wichtige Rolle spielt) – ich habe nie gewusst, was das ist. Bis ich das erste Mal auf Sylt war. Aber das ist halt das Wesen von Popliteratur, dass die Marken so wichtig sind. Wobei der Begriff eh schwierig ist und diffus. Das war für ein halbes Jahr gut, als alle darüber sprachen, und heute ist es ein Fluch, wenn man sagt, das ist ja ein Popliterat.

Haben Sie sich in den Neunzigern für die sogenannte Popliteratur interessiert?

Manche der Bücher waren einfach gut. „Soloalbum“ von Benjamin von Stuckrad-Barre zum Beispiel – das hat mich interessiert. Nicht so interessiert hat mich der identifikationsstiftende Aspekt, der aber auch legitim ist. Zu einem gewissen Grad ist Uwe Tellkamps „Der Turm“ ja auch nichts anderes, in dem Sinn, dass er eine verschwundene Zeit wieder in Erinnerung ruft. Oder „Der Zauberberg“ natürlich.

Der Pop-Begriff ist also mittlerweile völlig leer?

Die ganze Kultur ist ein Massenphänomen. Jeder Autor, jeder Film, jede Fernsehsendung, jeder Musiker macht das theoretisch für die Masse der Menschen. Außer man sagt: Ich gründe einen Verein und mache Sachen, die nur eine bestimmte Art von Menschen verstehen kann, und die anderen will ich gar nicht sehen. Aber das ist ein Ausnahmefall. Ich will mal ein Beispiel geben. Für uns als Musiker war es immer der Abgrund, sich zu Hause fotografieren zu lassen. Das war der totale Ausverkauf, das Allerletzte. Bei Schriftstellern ist das was ganz Natürliches, die zeigen ihre Frau und ihre Kinder und ihr Haus und ihren Garten und ihre Bibliothek und ihre Sofas. Die machen den ganzen Tag Homestories! Ich könnte das nicht. Wo ist jetzt der Pop? Wo fängt der an, wo hört der auf? Schriftsteller drängen sich genauso ins Fernsehen wie alle anderen. Wer sitzt denn immer in diesen Talkshows? Die Musiker sind’s nicht! Seit Erfindung des Buchdrucks ist auch die Literatur ein Massenphänomen.

Chucks Welt

Der Lebemann und Gelegenheitsdichter aus den Siebzigern ist Vater geworden.

Gespräch mit einer Romanfigur. Von Wolf Wondratschek und Maik Brüggemeyer

Vor 37 Jahren ließ der deutsche Autor Wolf Wondratschek 1.000 Bücher mit seinen Gedichten drucken. 100 verschenkte er an Freunde, den Rest gab er seinem Freund Lutz Reineke vom Zweitausendeins-Verlag, der sie über seine Merkhefte anbieten sollte. Nach wenigen Wochen waren alle Exemplare vergriffen, Auflage um Auflage musste nachgedruckt werden und „Chuck’s Zimmer“, so der Titel des Bandes, wurde zum Gegenkulturklassiker. Der nach Chuck Berry benannte Protagonist verdingte sich als Gelegenheitsdichter, liebte die Frauen, die Musik und die Drogen. In seinem Zimmer ging die Münchner Boheme ein und aus. Dann verlor sich Chucks Spur. Nun taucht er in Wondratschecks neuem Roman „Das Geschenk“ (Hanser, 17,90 Euro) wieder auf. Mit 48 Jahren ist er Vater geworden und hat am Tag der Geburt seines Sohnes mit den Drogen aufgehört. Mittlerweile ist der Spross 14 und begegnet den Geschichten seines alten Herrn aus den lang vergangenen Siebzigern mit dem alterstypischen Desinteresse, aber Chuck erzählt sie trotzdem.

Mögen Sie als Boxfan eigentlich die Klitschkos?

Chuck: Es gibt seit Lennox Lewis keinen König mehr in der Königsklasse des Boxens. Er war der letzte große Champion. Er hatte Klasse und Eleganz und er konnte hart schlagen, sehr hart. Dass Vitali Klitschko ausgerechnet gegen ihn seinen besten Kampf gemacht hat und nur durch eine Verletzung gestoppt wurde, verdient Respekt. Sein jüngerer Bruder Wladimir hat nie mit einem ähnlichen Kaliber im Ring gestanden.

Was vermissen Sie an den Siebzigern?

Meine Jugend. Meine Musik. Meine Freunde. Es war immer irgendwie Sommer. Alles schien auf wunderbare Weise einfach. Man lebte, fiel um, wachte auf und lebte weiter. Wenn die nicht da war, die man liebte, liebte man die, die da war. Ich habe diese Jahre als Ewigkeit in Erinnerung.

Was ist heute besser?

Nichts!

Wenn man Sie ein bisschen kennt, bekommt man den Eindruck, Sie hätten in den Siebzigern politisches Engagement und linke Ideologie verachtet. Warum?

Die konnten einem ganz schön auf die Nerven gehen mit ihrer Politik. Ich war ja dabei. Es fehlte den Jungs an Humor. Und sie liebten die Poesie nicht. Sie hatten keine Ahnung, wie man träumt. Sie, die Träumer, die Stillen, die Schweigsamen waren mir lieber. Den Mädchen auch; sie waren die besseren Liebhaber.

Was schätzen Sie an der Langeweile?

Wer den Zustand der Langeweile liebt, dem ist nie langweilig. Ein guter Zustand. Die Zeit dehnt sich. Die Gedanken haben gute Laune. Wer käme auf die Idee, nicht glücklich sein zu können? Unauffindbar zu sein für Feinde! Niemand besiegen, niemand überzeugen zu wollen! Gute Voraussetzungen für einen Anfang, einen Blick, einen ersten Satz.

Haben Sie noch Kontakt zu den Leuten von damals?

Nein, kaum noch. Gut die Hälfte der Jungs hat’s erwischt. Drogen, Selbstmorde – oder sie sind krank, kaputt, erledigt. Die andere Hälfte wurde, wie zu erwarten, bürgerlich.

Was ist aus der Musikerin geworden, mit der Sie eine Zeit lang zusammenlebten – High Noon Anna nannte sie sich, glaube ich?

Oh, der scheint es gut zu gehen. Sie hält mich hin und wieder mit einer Postkarte auf dem Laufenden. Sie ist weg vom Heroin. Reist viel. Heiratet viel. Ist viel schwanger. Ich glaube, sie hat inzwischen drei oder vier oder fünf Kinder, die sie alle bei ihren Vätern abgeliefert hat. In guten Händen, wie sie versichert. Was ich ihr glaube. Ich wusste, sie würde den Kopf oben behalten. Sie würde es schaffen. Das hab ich an ihr ja geliebt, dass sie stark war, unabhängig und verrückt; und ganz und gar unsentimental. Sie sind seit anderthalb Jahrzehnten von den Drogen runter – vermissen Sie manchmal den Rausch?

Ich bin weg vom Kokain. Aber nichts gegen einen Joint. Das letzte Mal rauchte ich was mit einem achtzigjährigen Australier. Ein alter, weiser Mann. Von dieser Sorte gibt es leider nur noch einige wenige.

Gehören Schreiben und Drogen für Sie zusammen?

Ich habe mit und ohne Drogen geschrieben und kann nicht behaupten, dass die Nüchternheit nur Vorteile hat. Das Schreiben durchläuft ja viele Phasen. Erste, undeutliche Ahnungen, erste Einfälle, die man notiert, erste längere Entwürfe, jede Menge zweite und dritte Fassungen – und schließlich das, was man die Arbeit der letzten Überarbeitung nennt. Ein Stadium nach dem anderen. Und darauf muss man reagieren können. Ein Süchtiger ist dazu nicht in der Lage.

Sie haben lange nichts mehr geschrieben. Kann man nicht gleichzeitig für die Literatur und die Familie leben?

Der Meinung bin ich überhaupt nicht. Nichts schließt sich aus. Sicher, es kommt zu Kollisionen. Mal hat das Leben eine Delle, mal die Literatur. Ich wusste, dass ich nicht lieber tot sein wollte, nicht in der schwärzesten Stunde. Deshalb musste ich mich herausfordern – und von dem Stoff entziehen. Ich wäre der Nächste gewesen, der krepiert. Ich kannte ja genug, die nicht damit aufhören konnten. Was die Geburt meines Sohnes betrifft, nur so viel. Sie war es, die mich überzeugt hat, dass es sich lohnt, noch einmal geboren worden zu sein. Das ist ja die schöne Pointe meiner Geschichte: Beide, Sohn und Vater kommen zur Welt, im gleichen Jahr. Das war das Geschenk: Neugeboren der eine, wiedergeboren der andere. Eine erste und eine zweite Chance, Hand in Hand.

Hat sich durch die Geburt Ihres Sohnes das Verhältnis zu Ihren eigenen Eltern verändert?

Die eigene Vaterschaft ist eine Schule des Verzeihens, den Eltern und dem eigenen Kind gegenüber. Eine gute Sache also.

Ihr letztes Gedicht hieß „Sizilianischer Sommer“. Da geht es um einen Mafioso mit Schwierigkeiten beim Wasserlassen. Hat das einen biografischen Kern?

Ich erinnerte mich im Wartezimmer einer Urologin an den Film „Der Pate“, an die Szene, wo ein Boss der Bosse im Bademantel in seinem Penthouse mit einem atemberaubenden Blick über Las Vegas auf dem Sofa sitzt und sich beschwert, dass er nicht mehr richtig pissen kann. Ich weiß nicht, ob es Verlegenheit war oder nur Langeweile, meine klägliche Anwesenheit hier mit der Erinnerung an einen Hollywoodfilm erträglicher zu machen. Er würde, sagt er, eine Million Dollar hinlegen, um wieder ohne Schmerzen pissen zu können. Mir gefiel dieses Wort: pissen. Und die Idee, wie machtlos alles Geld der Erde sein kann. Ich schrieb alles – mit Bleistift – auf einen Zettel. Pissen. Palermo. Gott. Wahnsinn. Und daran dachte ich, während ich mich vor der Ärztin entkleidete, an diese vier Wörter, das Ticket für eine kleine Geschichte. Als Schriftsteller weiß ich, dass es hilft, eine andere Geschichte über die eigene zu legen.

Heinrich Steinfest

Rückseite der Idiotie

Die Groteske ist dem Wahlstuttgarter das liebste Mittel zur Beschreibung der Wirklichkeit. Das zeigt sich auch in seinem Stuttgart-21-Krimi.

Von Alexander Müller

Der Österreicher Heinrich Steinfest gehört zu den besten und eigenwilligsten deutschsprachigen Krimiautoren unserer Zeit. Sein neuer Roman „Wo die Löwen weinen“ (Theiss, 19,90 Euro) handelt vom umstrittenen Bauprojekt, das als „Stuttgart 21“ Nachrichtenkarriere machte, einem philosophischen Hund, von Gott und der Welt. Ein Gespräch über Bahnhöfe, Gerechtigkeit, Architektur und Metropolenträume.

Herr Steinfest, Sie sind in Australien geboren und in Wien aufgewachsen. Seit über zwölf Jahren leben Sie aber in Stuttgart. Was hat Sie eigentlich dorthin verschlagen?

Eine Frau.

Würden Sie sich auch in Kassel wohlfühlen? Einer Ihrer Protagonisten, der Archäologe Wolf Mach, hält Kassel immerhin für die am meisten unterschätzte Stadt der Welt. Dort gibt es übrigens auch einen tollen oberirdischen Durchgangsbahnhof.

Ich liebe unterschätzte Orte. Kassel hat einen schlechten Ruf. Wenn man aber hinkommt, fragt man sich: „Wieso das denn?“ So schön, wie es da ist. So, wie man sich umgekehrt oft fragt, wie um Himmels willen gewisse Leute und vor allem gewisse Restaurants zu ihrem guten Ruf gekommen sind. Bezüglich oberirdisch vs. unterirdisch: In die Erde sollte man wirklich nur gehen, wenn einem nichts anderes übrig bleibt. Erst recht, wenn diese Erde, wie im Fall von Stuttgart, eine einzige Gefahrenquelle darstellt. Der im Grunde klaustrophobe Mensch eignet sich nicht als Maulwurf. Er eignet sich gleichwohl, vernünftig zu sein.

Der jüngst gebaute Hauptbahnhof in Berlin erinnert Ihren Erzähler wiederum an einen riesigen Puff, den ein paar überirdische Zuhälter abgestellt hatten, um die Menschheit moralisch zu ruinieren. Steht es wirklich so schlimm um die zeitgenössische Architektur?

Eine Aufgabe der Architektur sollte sein, die Menschen besser zu machen. Freilich meine ich nicht, dass ein Puff per se ein hässliches Gebäude darstellt. Aber ich habe sicherlich ein Problem mit Gebäuden, die mir „trotzig“ erscheinen und man den Eindruck hat, sie würden ständig ihr Ding aus der Hose halten und die Benutzer anpinkeln. Architektur, die in keiner Weise eine veränderte Welt berücksichtigt, nichts gelernt hat aus der Geschichte.

In der Ankündigung Ihres neuen Romans „Wo die Löwen weinen“ heißt es, dies sei der Krimi zu Stuttgart 21. War das denn nötig?

Die Debatte darüber war doch eh schon ziemlich spannend. Wenn es nach mir ginge, könnte man auch schreiben, dies sei der ultimative Roman über kleine Hunde mit langen Ohren und kurzen Beinen. Der Hund in der Geschichte ist ja tatsächlich von großer Bedeutung, einfach dadurch, dass er sich so wenig wie nötig bewegt und im Stillstehen eine Wirkung erzielt und … ach ja, jetzt versteh ich erst die Frage. Soll das heißen, man darf nur Romane zu langweiligen Themen schreiben, die sodann literarisch aufgemotzt werden? Nein, diese „spannende Debatte“ hat einen Roman verdient und ich habe ihn geschrieben. Mit Blut aus meinem alten Herzen.

Übertreiben Sie nicht ein wenig, wenn Sie behaupten, der geplante Neubau gleiche dem Vorhaben, eine ganze Stadt zu ermorden?

Wie könnte ein noch so bösartig übertreibender Autor die Wirklichkeit verfehlen? Denn der Eingriff, der erfolgen soll, zielt auf eine vollkommene Veränderung der Stadt. Die Leute, die S 21 zu verantworten haben, mögen Stuttgart nicht. Es erinnert sie zu wenig an ihre feuchten Träume von einer „richtigen“ Metropole, wo alles wie auf einer Computeranimation aussehen soll. Diese Initiatoren leben in der Luft, sie betrachten die Stadt aus der Vogelperspektive. Sie operieren eher wie Generäle, die einen Krieg gegen die „alte“ Stadt führen und gegen den Stuttgarter. Denn sie wollen ja auch einen anderen Bürger – einen Bürger, dem vor allem eines wichtig ist: Parkplätze.

Warum ist ausgerechnet der Kriminalroman die geeignete Form, um sich zu so einem Projekt wie Stuttgart 21 kritisch zu äußern?

Die Art und Weise, wie das Projekt zustande gekommen ist, die Gutsherrenmentalität, der demokratische Tarnmantel, mit dem undemokratische Prozesse versehen werden, die voreilig abgeschlossenen Verträge, hinter denen sich dann die Justiz verstecken kann, der Nepotismus, die Übernahme des Staates durch die Wirtschaft, der Verzicht der Politik auf ihre Kontrollfunktion, das alles bedingt jene Romanform, welche verbrecherische Aktivitäten zum Thema hat.

Gibt es tatsächlich ein spezielles Gerechtigkeitsbedürfnis der Schwaben, wie Sie in einem Interview behauptet haben?

Na, das ist so eine Theorie des ungetauften Gottgläubigen Steinfest, welcher als positive Ausformung des Pietismus ein starkes Bedürfnis nach Gerechtigkeit sieht. Gott spielt in meinem Buch eine wesentliche Rolle. Er nistet quasi in unseren Herzen und beobachtet, was wir tun. Ihn können wir nicht hereinlegen. Gott ist keine Schlichtung, wo es am Ende heißt, das Projekt sei zwar Blödsinn, aber nachdem man nun mal damit angefangen habe, müsse man das eben zu Ende bringen.

Selbst mit Ironie sei die Sache nicht auszuhalten, denkt sich eine Ihrer Figuren. Hat die Ironie als bevorzugte Waffe des Romanciers gegen die Idiotie der Wirklichkeit etwa ausgedient?

Ich halte wenig von der Ironie, die etwa das Kabarett vertritt. Bezeichnenderweise gehen ja selbst die angegriffenen Politiker gerne ins Kabarett und finden es schön, dass man sie persifliert. Mir liegt da schon eher die Groteske, die auf die Abstrusitäten der Wirklichkeit reagiert. Das Mittel der Verfremdung erscheint mir probat, jene „Idiotie“ nicht nur von vorne, sondern auch von hinten zu betrachten. Die Rückseite der Idiotie ist nicht unwichtig.

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