Wie Gracie Abrams aus ihren Problemen eines der besten Debütalben des Jahres 2023 gemacht hat
Abrams über ihr bekenntnishaftes Debütalbum, ihre Verantwortung als Support Act von Taylor Swift – und die Sache mit dem Nepo-Baby.
von Waiss David Aramesh
Als die Pandemie im März 2020 die Welt zum Stillstand brachte, mussten Millionen von Menschen plötzlich mit sehr viel Zeit zu Hause zurechtkommen. Einige backten Brot. Andere begannen mit dem Töpfern. Und an einem sehr frühen Freitagmorgen wurde die Singer-Songwriterin Gracie Abrams high, vertiefte sich in die Diskografie von Taylor Swift und feuerte einen Hit-Tweet ab: „I know places by taylor swift makes me feel like i’m being hunted down in the purge“.
„Das war einer von etwa einem Dutzend Tweets, in denen ich meine Gefühle über ihre Musik in diesem Zustand erklärte“, sagt Abrams und lacht. Andere Tweets, die sie im Zuge dieser Aktion verschickte, legen nahe, dass „Innocent“ Swifts bester Song ist und Abrams bei „Mine“ Lust auf Latzhosen bekommt.
Die 23-Jährige wird diesen Sommer Dutzende von Gelegenheiten haben, die Künstlerin zu sehen, die sie geprägt hat – aber nicht als Fan. Bei 30 Terminen von Swifts „The Eras“-Tour wird Abrams für ihre Heldin in Stadien in den USA auftreten, als Support Act. „Es fühlt sich an wie die lächerlichste Meisterklasse, die die Menschheit kennt“, sagt Abrams. „Ich werde so viel lernen, wenn ich klaren Kopf bewahre, zuhöre und ihr dabei zuschaue, wie sie das tut, wozu sie hierher gebracht wurde.“
Abrams ist die Melancholie-Autorin der Gen Z und eine der angesagtesten jungen Künstlerinnen der Popmusik. Ihr Debütalbum „Good Riddance“, das am 24. Februar erscheint, zeigt, dass sie autobiografisches Songwriting wirklich beherrscht. Sie ist nicht der einzige Popstar, der in seinem Schlafzimmer Liebeskummer-Bekenntnisse schreibt, aber sie setzt die Schuldgefühle und Zweifel einer jungen, gescheiterten Liebe in ihrer Musik besser um, als die meisten ihrer Kolleg*innen. „I miss you, I’m sorry“, ein Hit mit über 100 Millionen Streams auf Spotify, ist sowohl ein Abschied von einem Liebhaber, als auch ein Argument für das Gegenteil: „Du sagtest ,Für immer‘, am Ende habe ich dagegen angekämpft/Bitte sei ehrlich/Ist es besser für uns?“
„Gracies Texte sind eine Mischung aus Zerbrechlichkeit und Selbstbeobachtung, die ich sehr gut nachvollziehen kann“, sagt Swift dem ROLLING STONE. „Sie geben mir das Gefühl, dass sie und ich vielleicht aus demselben Grund angefangen haben, Songs zu schreiben. Einfach um zu versuchen, unsere Gefühle zu verstehen. Meine Lieblingsautoren sind diejenigen, bei denen ich mich nie fragen muss, warum sie diesen bestimmten Song geschrieben haben, weil es sich einfach so anfühlt, als ob sie es tun mussten – wie ein Geständnis oder eine Katharsis. Manchmal fühlt es sich so an, als ob sie am Rande der Tränen oder des Lachens steht, während sie singt, und wir sitzen alle im Kreis auf dem Boden und hören zu, wie sich die Geschichte entfaltet.“
An einem warmen, bewölkten Januartag sitzen Abrams und ich an einem beigen Tisch in einem Hollywood-Diner, das sie häufig besucht, wenige Stunden vor der Veröffentlichung ihrer neuen Single „Where do we go now?“. Abrams ist in Los Angeles aufgewachsen. Für sie ist es „eine Industriestadt“, in der ihre Familie sehr stark verankert ist: Ihr Vater ist der Filmemacher J.J. Abrams und ihre Mutter, Katie McGrath, ist Produzentin und Co-CEO von J.J.s Produktionsfirma.
Abrams schrieb erste Songs im Alter von acht Jahren. Das Schreiben war für sie ein Trost. Vor anderen Menschen aufzutreten, war es nicht. „Ich war nicht wie ein kleines Kind, das Musik im Radio hörte und so tat, als würde es auftreten“, sagt Abrams. „Ich wollte nie auf der Bühne stehen.“
Im Jahr 2019 legte sie eine Pause vom Unterricht am New Yorker Barnard College ein, um sich auf die Musik zu konzentrieren. Sie unterschrieb bei Interscope und veröffentlichte im Herbst „Mean It“, dessen sanfter Gesang, mitreißender Refrain und verletzliche Erzählung zukunftsweisend wurden.
Abrams sagt, dass sie sich beim Unterschreiben des Plattenvertrags wie eine Hochstaplerin vorkam, da Interscope eine Erwartung an sie hatte und sie nicht sicher war, ob sie die erfüllen konnte: live zu spielen. „Und dann kam Covid, ich konnte Konzerte auf Zoom geben … buchstäblich in meinem Schlafzimmer, genau das Gleiche, was ich auf Instagram machen würde – aber ich würde kleine Leute in Quadraten sehen“, sagt Abrams und bezieht sich auf die ursprünglichen Schnipsel, die sie als Teenager von ihrem Bett, dem Klavier oder einem Hinterhof aus auf Instagram hochgeladen hat. „Das war ein Sprungbrett für mich, und ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich es gebraucht habe.“
„Good Riddance“ nahm Gestalt an, als Musikproduzent Aaron Dessner die Musikerin in sein Long Pond Studio im New Yorker Hudson Valley einlud. Als Abrams mit der Arbeit an dem Album begann, hatte sie gerade eine Trennung hinter sich, und die Gefühle auf „Good Riddance“ waren unverarbeitet. Der Opener des Albums, „Best“, war am schwierigsten zu schreiben. Der Text beschönigt nichts und sticht mit jeder Strophe tiefer, wenn Abrams zugibt, dass sie in einer vergangenen Beziehung nicht in Bestform war.
Für Abrams fühlte sich das Schreiben des Songs an, als würde sie sich „ein Messer in den Bauch rammen“. Als sie das Projekt ankündigte, schrieb sie darüber, wie „Good Riddance“ sie dazu zwang, Rechenschaft abzulegen. „Ich glaube nicht, dass ich immer die transparenteste Partnerin war“, sagt sie und fügt hinzu, dass sie mit Konfrontationen zu kämpfen hatte. „Ich wollte unbedingt an einen Punkt in meinem Leben gelangen, an dem ich in das Erwachsenenalter eintrete, an dem ich ehrlicher mit mir selbst umgehe und nicht mehr in die Falle der Opferrolle tappe, sondern mehr zu meiner Scheiße stehe.“
Ich frage Abrams, was die Leute, über die sie singt, denken werden. Sie braucht einen Moment, um darüber nachzudenken, und gibt zu, dass sie oft dachte, sie müsse einen Song wegen des Themas streichen. „Ich habe einen Song geschrieben und dann war ich sehr verunsichert, wenn jemand anderes wusste, dass ich ihn geschrieben hatte“, sagt sie. „Es ist beunruhigend, daran zu denken, dass man eine Person wegen etwas verletzen könnte, das man geschrieben hat.“
Dessner ermutigte sie, mit den Songs weiterzumachen. „Aaron sagte: ,Weißt du, alle Künstler, die du bisher geliebt hast, haben alle gesagt, heilige Scheiße, kann ich das veröffentlichen?‘“, sagt Abrams. „Ehrlich gesagt, habe ich mich hingesetzt und innerlich nur an Taylor gedacht. Sie hatte die öffentlichste Karriere aller Zeiten, und sie hat immer noch den Mut zu sagen, was sie meint.“ Sie könne jedoch nicht wissen, wie die Menschen, über die sie Songs geschrieben hat, reagieren, „aber ich liebe sie wirklich sehr, also hoffe ich, dass sie das vielleicht glauben“.
In Long Pond wohnte Abrams mit Dessner, seiner Frau und ihren drei Kindern zusammen. Abrams arbeitete oft zwölf Stunden am Tag und verbrachte in den Pausen Zeit mit den Dessner-Kindern. „Seine Kinder haben in mir den Wunsch geweckt, eines Tages Mutter zu werden, obwohl ich das, ehrlich gesagt, nie wollte“, sagt Abrams und lächelt.
Abrams beendete die Aufnahmen für ihr Debütalbum am 7. September, ihrem 23. Geburtstag. Die Dessner-Kinder schrieben ihr dafür einen Originalsong und spielten ihn auf Streichinstrumenten ein. „Es ist die Leadsingle“, scherzt Abrams.
Aufstrebendes Nepo-Baby?
Abrams ist die Online-Diskussion über Vetternwirtschaft nicht entgangen – eine Debatte, die sich im Dezember 2022 auf dem Cover des „New York Magazine“ zuspitze, als sie als „aufstrebendes Nepo-Baby“ eingestuft wurde. Abrams sagt, sie empfinde den Begriff nicht als Beleidigung und betonte, sie verstehe die Diskussion: „Offensichtlich können wir nicht kontrollieren, wo wir hineingeboren werden, und es gibt eine Million sichtbarer und noch mehr unsichtbarer Vorteile, wenn man Familienmitglieder hat, die in der Unterhaltungsindustrie tätig sind“, sagt sie. „Ich weiß, wie hart ich arbeite. Ich weiß natürlich auch, wie sehr ich meine Eltern und die Gespräche über meine Karriere trenne. Aber natürlich kann man verstehen, wie es von außen aussieht.“
Als Abrams den Anruf erhielt, dass sie für Swift die Konzerte eröffnen würde, rief sie ihre Mutter an. Diese sagte ihrer Tochter, dass sie sich anhörte, als würde sie zittern. Dann schrieb Abrams eine SMS an Swift, die sie ein paar Jahre zuvor durch Dessner kennengelernt hatte. „Ich habe einfach gesagt: ,Mit fehlen die Worte, aber ich werde dir für den Rest meines Lebens danken.‘“
Durch Dressner als gemeinsamen Freund lernten sich Swift und Abrams kennen, als der Superstar Abrams fragte, ob sie zu einer Party kommen wolle. „Sie hat mir vor zwei Jahren aus heiterem Himmel eine SMS geschickt. Sie ist eines der hellsten Lichter überhaupt, ein Schreibgenie, ein künstlerisches Genie, ein Engel von oben.“
Während sie ihre von einem Horrorfilm inspirierten Gedanken zu Swifts „I Know Places“ durchgeht, sind Abrams und ich uns einig, dass der letzte Song auf „1989“, „Clean“, vielleicht der beste Song des Albums ist. Abrams spricht mit großer Bewunderung über Swift und spickt unser Gespräch mit kleinen Fun-Facts. „Wusstest du, dass Imogen Heap an diesem Song mitgearbeitet hat?“, fragt mich Abrams (ich wusste es nicht). „Beide stehen ganz offensichtlich auf meiner Wunschliste für Kooperationen. Als ich sie zusammen arbeiten sah, dachte ich: ,Fuuucckkk‘.“
Im Diner bestellt Abrams nichts, stattdessen fuchtelt sie mit ihrem Cartier-Ring herum, während sie über die Liebe, den „König der Löwen“ und Long Pond redet. Sie ist nervös – die gute Art, die aufsteigt, wenn die Single nur noch Stunden entfernt ist und das Debütalbum nicht mehr lange auf sich warten lässt. „Diese Woche habe ich definitiv mehr auf den Nägeln gekaut, als jemals zuvor“, gibt Abrams zu und sagt, dass sie sich endlich mit der Tatsache auseinandersetzt, dass ihre Musik an mehr Orten als nur ihrem Telefon und ihrem Tagebuch existieren wird.
In diesen Tagen verbringt Abrams ihre Zeit mit Proben – nach der Tour mit Swift wird sie ihr Album auf ihrer eigenen „Good Riddance“-Tour spielen. „Ich fühle mich dankbarer denn je für das, was das Songwriting mir als Person außerhalb der Musik gegeben hat“, sagt Abrams. „Ich bin damit aufgewachsen, es als Werkzeug zu benutzen, um Scheiße zu verarbeiten, aber… es getan zu haben und etwas zu beenden … ich hatte das Gefühl, nur die Trauerarbeit erledigt zu haben, was noch fehlte, war wirklich loszulassen.“
Aus dem Amerikanischen übersetzt, zuerst erschienen auf rollingstone.com