Wie der „Spiegel“ als Avantgarde den Eintritt ins neue Biedermeier ausruft – die Generation Hausschuh kommt

Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt, der deutsche Mensch in die Sommerfrische aufbricht und die Themen so lau sind wie die Deutschen-Beschimpfung eines italienischen Politikers, dann widmet sich der „Spiegel“ den Mega-Trends, dem großen Ganzen, dem Wesen der Dinge. Seit Rudolf Augsteins schmissige Bismarck-Elogen und Jesus-Exegesen nicht mehr in dürftigen Zeiten aus der verstaubten Schublade gezogen werden können, müssen die Ressorts übergreifend an den Haaren Herbeigezogenes zurechtzwirbeln. Für die so genannte Titelgeschichte „Die neuen Werte: Ordnung, Höflichkeit, Disziplin, Familie“ mussten elf Fabulierer in die Tasten greifen und klafterweise Differenzen in Stil und Duktus überbrücken, damit die kühne These vom neuen Biedermeier faktisch gestützt ist.

Dabei verschmähen die Autoren Wortspiele, die sogar der drögen ARD-Fußballpfeife Gerhard Delling zu albern wären, in ihrer Studie nicht: „Nabel geht die Welt zugrunde, jedenfalls die Schulwelt“, blödelt es, weil in deutschen Klassenräumen angeblich Scharmützel um bauchnabelfreie Schülerinnen entbrannt sind. Zwar zeigen die befragten Früchtchen kein Verständnis für die Nöte ihrer Lehrer, doch Muttern, „eine liberale Medienfrau“, wahrscheinlich aus der liberalen „Spiegel“-Redaktion, klagt ihre Tochter an: „Du reizt die Männer.“ Dennoch finden 95 Prozent der Bevölkerung, dass „Höflichkeit, Sitte und Anstand“ im Alltag wieder eine wichtige Rolle spielen sollten – vermutlich ebenso viel Zustimmung wie zur Nazi-Zeit, unter Wilhelm II. und Preußenkönig Friedrich. Von der „Schuluniform, die seit Jahren immer mal wieder in die Schlagzeilen“ (vermutlich der Schülerzeitun- j gen) drängt, bis zu Immanuel Kant ist es nur ein Absatz: Der Königsberger Oberschlaue widerstand der Versuchung bauchnabelfreier Girlies, denn er trug das moralische Gesetz allzeit in sich. Nietzsche, Heinrich Mann und Friedrich Hebbel werden nun zwar als Zeugen gegen Bürgerlichkeit aufgerufen, doch unbeirrt schreibt das „Spiegel“-Putzkommando gegen das „heruntergekommene Gebäude eines Gymnasiums“, natürlich in „einem Hamburger Elbvorort“, an. Auch die unschlagbare „Broken window“-Theorie („in den USA entwickelt“) kommt wieder zum Einsatz: Ist erst ein Fenster kaputt, folgt der gesamte Stadtteil bald. Statt in einem i Eibvorort hätten die rasenden Reporter in Hamburg-Billstedt nachsehen sollen, wo Banden von 14-jährigen Schülerinnen hilflose Omas und Mitschüler terrorisieren, um sich Drogen und Klamotten zu kaufen – der „Spiegel“, na klar, berichtete! !

Doch nun tritt die Kronzeugin für den Wandel zu Sitte, Anstand und „Ritualen“ in Erscheinung: „die Hamburger Tagesmutter Gesine Rittmann-Kiermaier, 46 , wahrscheinlich engagiert von einer allein erziehenden Redakteurin. Mit drei Kleinkindern geht die Schrulle „im innerstädtischen Park Planten un Blomen spazieren“, wo sich die Kinder an den Händen f asssen, im Kreis drehen und „die Hits von gestern“ singen: „Ringel, Ringel, Reihe“, „Häschen in der Grube“, „Ri-ra-rutsch, wir fahren mit der Kutsch“. Da bleiben „ganze Gruppen von Spaziergängern“ stehen und „bewundern die kleine Musikantengruppe“. Denn: „Was wie eine nostalgische Übung wirkt, ist bei den Kleinen schwer angesagt.“ Yippie: „Kindliche Lebenswelten werden wieder mit ,Jüngferlein‘ und ‚Müllermeistern‘, mit ‚Wandersleut‘ und ‚Königskindern‘ bevölkert.“ Und das echt krass!

Schon verbietet „Pop- und Punk-Ikone Bob Geldof, 48“ seiner immerhin 20-jährigen Tochter, „einen Jungen auf die Stube zu nehmen“. Ob das Jüngferlein wohl anderswo zum Kuscheln kommt? Ei, bald will kein jugendlicher Rotzlöffel mehr simsen, in die Handy-Schuldenfalle tappen und den ganzen Tag an der Spielekonsole verdaddeln! Rebellen wie Harry Potter, Alexander Klaws und Yvonne Catterfeld haben ausgedient – Kant, Knigge und Hobbes werden in der Freizeit gelesen, abends gucken die Kleinen mit den Vätern, die überraschte Großmütterlein nach Plätzchenrezepten fragen, den Karl Moik, während Mutti in der Krabbelgruppe die geilsten Ostereier ausbläst.

Doch halt! „In vertrauter Runde gestehen Eltern sogar, auch wieder das Abendgebet eingeführt zu haben, sich dabei aber ähnlich hilflos zu fühlen wie beim Absingen der Volkslieder.“ Nicht mehr lange! Denn eben wurde ein weißbärtiger Kauz gecastet, der auf Sitten und Rituale steht und sich lustigerweise „Gott“ nennt.

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